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"Rentierbaby" – die nette Stalkerin von nebenan

Die neue "Netflix"-Serie um einen erfolglosen Comedian mit Helfersyndrom und eine Frau mit Abgrenzungsproblemen lässt in Stephen-King-Manier das Blut gefrieren.

So knuddelig wie ein kleines Rentier? In der neuen, siebenteiligen "Netflix"-Serie "Rentierbaby" gerät der Möchtegern-Comedian Donny (Richard Gadd) in die Fänge einer geistig derangierten Stalkerin.
So knuddelig wie ein kleines Rentier? In der neuen, siebenteiligen "Netflix"-Serie "Rentierbaby" gerät der Möchtegern-Comedian Donny (Richard Gadd) in die Fänge einer geistig derangierten Stalkerin.
Courtesy of Netflix
Newsflix Redaktion
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Was ist besser – eine neue Bekanntschaft gleich googeln, oder erst einige Zeit abwarten, bis sich ein angemessener Anlass für einen Blick ins Internet ergibt?

Im Fall von Donny wäre die erste Option definitiv die klügere gewesen. Mit Betonung auf wäre. Denn Donny ist ein Gentleman, ein guter Kerl, der auch an das Gute im Anderen glaubt und lieber seinem Instinkt vertraut, als zu früh in die virtuelle Intimsphäre eines Menschen einzudringen. Als er dann doch bei Google nachfragt, was es mit seiner neuen Verehrerin so auf sich hat, ist es fast schon zu spät – was Donny aber nicht daran hindert, den Weg in den Abgrund trotzdem anzutreten.

Kein ganzer Kerl Die neue "Netflix"-Serie "Rentierbaby" erzählt die Geschichte des erfolglosen Nachwuchs-Comedians Donny Dunn, Anfang 30, der zum Broterwerb in einem Londoner Pub hinter der Theke steht und sich von den Gästen und seinem Boss lieber demütigen lässt, als ihnen die Grenzen aufzuzeigen. Dabei hätte Donny alles, was es benötigt, um aufrecht durch das Leben zu gehen: Er ist nicht hässlich, klug, hat Witz und ist schlagfertig, so jemand wird in England auch schon mal Premierminister oder Milliardär.

Geprügelter Hund Aber eines hat Donny nicht: Selbstbewusstsein. Anstatt den Kopf aus der Deckung zu nehmen und dem Leben ins Auge zu sehen, schleicht er wie der sprichwörtliche geprügelte Hund durch den Tag, nur nicht anecken, nur nicht auffallen (weshalb das so ist, erfährt man erst relativ spät in der Serie, Donny hat aber definitiv Gründe für sein Verhalten). Und als dann plötzlich Martha an seinem Tresen sitzt, ist sofort eine Chemie zwischen den beiden da, so ungleich sie auch sein mögen.

Ein ungleiches Paar Denn Martha ist zwar alles andere als ein Glamour Girl – Kleidergröße Plus Size, 42 Jahre alt und nicht unbedingt gepflegt – , aber sie trägt ihr Herz auf der Zunge, reißt Witze, lacht laut und ansteckend, macht laufend zweideutige Anspielungen. Und sie findet Donny toll. So toll, dass sie ab diesem Moment jeden Tag in seinem Pub abhängt, ihn unterhält und mit Aufmerksamkeit überschüttet. Und auch wenn Martha in ihrer Zuneigung zu Donny immer öfter unangemessene Dinge herausrutschen, wäre der gutmütige Kerl niemals so grob, sie zurechtzuweisen oder ihr gar eine Grenze aufzuzeigen.

Sent from my iPhone Auch als Martha schließlich beginnt, ihm Mails zu schreiben, viele Mails, hält Donny still. Es sind hunderte, vor Schreibfehlern strotzend, Nacht für Nacht, Belangloses und Anzügliches, ein wilder Mix, immer mit der altbekannten Fußnote versehen, "Sent from my iPhone" – dabei hat Martha gar kein iPhone, sondern nur ein prähistorisches Nokia, in dessen Kontaktverzeichnis sie Namen wie Tony Blair oder David Cameron hat, wie sie ihm stolz präsentiert. Aber Danny will keinen vor den Kopf stoßen.

Freundschaftsanfrage einer verurteilten Stalkerin Erst als Martha eine Freundschaftsanfrage auf Facebook schickt, zögert der Hänfling zunächst, diese anzunehmen - und macht, was er schon längst hätte tun sollen: er googelt Martha. Dort erfährt er, dass sie eine krankhafte, gewalttätige, bereits zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Stalkerin ist, die gerade dabei ist, sich in sein Leben zu schleichen. Doch noch immer zögert Donny, den Kontakt abzubrechen - er sieht in Martha jenen hilfsbedürftigen, verlorenen Menschen, den ihm das Schicksal geschickt hat, um selbst zum Retter zu werden. Also nimmt er die Anfrage an – und öffnet die Büchse der Pandora.

    Martha betritt zum ersten Mal den Pub von Donny
    Martha betritt zum ersten Mal den Pub von Donny
    Ed Miller/Netflix
    1/9

    Nach wahren Begebenheiten "Rentierbaby" wurde vom schottischen Autor, Schauspieler und Comedian Richard Gadd geschrieben und war zunächst ein einstündiges Ein-Mann-Kammerspiel, in dem er eigene Erlebnisse verarbeitete. Um seine eigene Stalking-Erfahrung darzustellen, stellte Gadd dabei einen leeren Barhocker auf die Bühne und ließ Nachrichten, die bei ihm oder Menschen in seinem Umfeld hinterlassen wurden, an die Wände projezieren. Das Stück war in Großbritannien sehr erfolgreich, obwohl es nichts mit den witzigen Programmen gemein hatte, für die Richard Gadd bis dato bekannt gewesen ist. "Rentierbaby" war vielmehr eine schmerzvolle Abwärtsspirale aus Zwanghaftigkeit, Selbsthass und (Selbst-)zerstörungswut. Alles andere als ein leichter Stoff.

    "Netflix" schlug zu Aber der Streaming-Riese "Netflix" kaufte die Idee dennoch für eine Serie - und ließ Autor Richard Gadd bei der Gestaltung freie Hand. Ob die Amerikaner wussten, was sie taten, lässt sich nachträglich nicht mehr feststellen. Dass die Serie im Marketing-Sprech des Streaming-Grossisten als "düster, aber absurd-witzig" bezeichnet wird, lässt jedoch erahnen, dass man in den USA entweder eine recht interessante Vorstellung von "absurd-witzig" hat – oder schlicht versucht, die Serie noch als irgendwie kompatibel für die weltweite Netflix-Community hinzudrehen.

    Psychogramm verletzter Seelen Als "absurd-witzig" empfindet man "Rentierbaby" vermutlich nur dann, wenn man sich auch bei Instagram-Videos von Verkehrsunfällen und sonstigen Katastrophen kringelt und unfreiwillige Selbstverstümmelungen mit "Autsch" kommentiert. Soll es ja auch geben. Vielmehr ist der britische Siebenteiler ein sehr exaktes, schonungsloses und nicht zuletzt hinreißend gespieltes Psychogramm zweier schwerverletzter Seelen, die sich brauchen – und sich dennoch gegenseitig in den Abgrund ziehen. Das ist in manchen Situationen komisch – aber vor allem ist es bedrückend. Und nicht selten fühlt man sich an die britische Serie "Fleabag" von Phoebe Waller-Bridge erinnert, die ähnlich gekonnt mit den Genres jonglierte und dennoch – oder gerade deshalb – als etwas vollkommen Neues und eigenständiges wahrgenommen wurde.

    Hochklassige Darsteller Als Donny spielt sich Autor und Showrunner Richard Gadd quasi selbst, und man kann gut nachvollziehen, wie es ihm ergangen sein muss, als er seinerzeit tatsächlich in solch einer Situation gewesen ist und hin und her gerissen war zwischen dem Instinkt, sofort Reißaus zu nehmen und dem Wunsch, jemand anderem zu helfen, um so auch sich selbst zu retten.

    "Misery" lässt grüßen Der Star der Serie ist aber ohne Zweifel Jessica Gunning. Die 38-jährige Britin, die auf den Inseln als Theater- und Fernsehschauspielerin gut gebucht ist, legt als adipöse, verletzliche und gleichzeitig schwer gestörte Martha einen Auftritt hin, der an Kathy Bates in der Stephen-King-Verfilmung "Misery" aus dem Jahr 1990 erinnert. Doch wo Kathy Bates im Film heftig outrierte, etwa wenn sie mit ihrem Schwein tanzte oder wie ein Teenager aufgeregt durchs Zimmer fegte, lehrt Jessica Gunning die Zuseher vor allem durch ihre reduzierte Mimik das Fürchten. Sie changiert zwischen Wärme und Hingabe einerseits und rücksichtsloser Bosheit , ohne dabei zu grimassieren. Es sind meist nur Nuancen, doch dahinter verbergen sich Abgründe, in die keiner blicken möchte.

    Fazit: "Rentierbaby" lässt niemanden unversehrt. Die Serie balanciert gekonnt zwischen skurriler Situationskomik, Psychodrama und Elementen des Horrorfilms. Manche Situationen lassen den Zusehern das Blut in den Adern gefrieren, weil man tatsächlich nicht weiß und nicht einmal ahnt, in welche Richtung die Story gleich abbiegen wird, Komik oder Katastrophe. Auch fragt man sich als Zuseher selbst immer wieder: Wie würde ich in so einer Situation reagieren – und weshalb? Und nicht nur einmal wird einem die – ehrliche – Antwort darauf vermutlich gar nicht gefallen. Eine Serie mit Psycho-Tiefgang, die man nicht so rasch wieder vergisst.

    "Rentierbaby", GB 2024, sieben Folgen á ca. 30 Minuten, ab sofort auf "Netflix"

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