Feminismus muss allen etwas bringen, nicht nur weißen, privilegierten Frauen, sagt die deutsche Feministin und Autorin Sibel Schick. Wie das funktionieren könnte.
Einen "First-World-Feminismus" attestiert die Feministin und Autorin Sibel Schick der Frauenbewegung. Denn diese habe keineswegs das Wohl aller Frauen gleichermaßen im Auge, sondern konzentriere sich mit ihren Anliegen und Forderungen auf eine privilegierte Gruppe an Frauen, um dieser zu noch mehr Einfluss und Einkommen zu verhelfen. Die Bedürfnisse von minderprivilegierten oder sonstwie von Einschränkungen betroffenen Frauen würden hingegen bewusst vernachlässigt, so Sibel Schick.
Gleicher Lohn für gesündere Arbeit "Was hat eine Fabrikarbeiterin davon, wenn sie genauso viel verdient wie ihr männliches Pendant, aber der Job, den sie dafür machen muss, besonders hart und gesundheitsgefährdend ist?", fragt die Autorin. Es ginge vielmehr darum, die Lebens- und Einkommenssituation für alle Menschen gleichermaßen zu verbessern. "Wenn wir den Feminismus auf diese Art öffnen, machen wir ihn für die gesamte Gesellschaft relevant und können automatisch viel mehr Menschen für unsere Anliegen erreichen und mobilisieren." Eine Win-Win-Situation also.
Nur nichts ändern Auch mit der Forderung vieler Frauen, die vielkritisierte "gläserne Decke" zur Führungsebene hin einzuschlagen, kann die bekennende Linke Schick wenig anfangen. "Da geht es doch nur darum, die herrschenden Hierarchien einzuzementieren, aber mit mehr Frauen in höheren Positionen", so die 38-Jährige Kurdin, die in der Türkei geboren wurde und mit 23 nach Köln kam. "Aber wo bleibt das Streben nach Gleichstellung, wenn ich gleichzeitig sage, ich möchte deine Chefin sein?" Man könne keine Hierarchien abschaffen, indem man gleich neue anstrebt.
Feminismus 2.0 Als "weißen Feminismus" bezeichnet Sibel Schick diese Form der Frauenbewegung, abgeleitet von den "alten, weißen Männern", die schon wesentlich länger als Feindbild für Vieles herhalten müssen, was gesellschaftlich schief läuft. Und diesem sagt sie in ihrem aktuellen Buch "Weißen Feminismus canceln" den Kampf an. Es brauche eine neue Form des Feminismus, die alle Frauen und ihre Bedürfnisse mit einbezieht. "Der 'weiße Feminismus' hat den Frauen über Jahrzehnte eingeredet, sie könnten gar keine Täterinnen, könnten an nichts schuld sein, weil sie ja Frauen sind, und damit immer ein Opfer."
"Ich bin unbequem" In ihren eigenen Reihen macht sich die Feministin mit solchen Aussagen verständlicherweise nicht nur Freundinnen. Viele werfen ihr vor, mit ihren Ansichten den Feminismus oder auch gleich die gesamte Gesellschaft spalten zu wollen. Ein Vorwurf, den Sibel Schick vehement in Abrede stellt: "In meinem aktuellen Buch gehe ich ganz detailliert darauf ein, dass das nicht so ist." Aber ihre Meinung sei eben für viele "klassische" Feministinnen unbequem, wie sie im Newsflix-Gespräch erläutert:
Sie gehen mit dem Feminismus, wie er sich in weiten Teilen der Welt etabliert hat, hart ins Gericht: Falsche Ziele, falsche Werte, keine Solidarität. Was werfen Sie Ihren Mitstreiterinnen konkret vor?
Es geht mir um jene Art von Feminismus, die nur für einen kleinen Teil der Frauen wirklich relevant ist. Dabei geht es ausschließlich um sexistische Diskriminierung, und zwar aus einer sehr privilegierten Perspektive, jene der weißen, christlich sozialisierten Normfrau, die akademisiert ist, nicht chronisch krank, nicht behindert, nicht von Rassismus oder Antisemitismus betroffen und keine Sexarbeiterin – sie weist keine Marginalisierungen auf, außer eben den Sexismus.
Ist das denn nicht schlimm genug?
Natürlich ist es schlimm, sie ist von Sexismus betroffen, aber das war’s dann auch. Aber diese Fokussierung führt nicht nur dazu, dass andere Frauen, die mehrfach betroffen sind, unsichtbar gemacht werden, sondern auch, dass diese weiße Normfrau die anderen, mehrfach marginalisierten Frauen, auf ihrem Weg nach oben aktiv diskriminiert.
Inwiefern tut sie das?
Sie produziert auf ihrem Weg raus aus ihrer eigenen Sexismus-Misere neue weibliche Opfer. Man könnte das einen First-World- oder kapitalistischen Feminismus nennen, ich bezeichne diese Form des Feminismus als "weißen Feminismus".
Die Feministin ist die Böse?
Ich würde eher sagen, es fehlt der Blick über den eigenen Tellerrand. Der "weiße Feminismus", wie ich ihn verstehe, konzentriert sich stark auf das Thema Arbeit, und das ist auch verständlich. Arbeit nimmt sehr viel Raum ein in unserem Leben, insofern ist es natürlich ein feministisches Thema. Aber der Fokus liegt dabei auf dem Gender-Pay-Gap, also dass Frauen gleich viel verdienen sollen wie Männer, oder dass es mehr Frauen in den Chefetagen geben soll. Da geht es nur darum, die herrschenden Hierarchien einzuzementieren, aber mit mehr Frauen in höheren Positionen. Feminismus versteht sich aber als Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, alle Menschen gleich zu stellen. Das kann nicht funktionieren, wenn ich gleichzeitig sage, ich möchte deine Chefin sein.
Das klingt sehr nach Klassenkampf.
Was hat eine Fabrikarbeiterin davon, wenn sie genauso viel Geld bekommt wie ein Fabrikarbeiter, wenn sie dafür einen harten und gesundheitsgefährdenden Knochenjob machen muss? Es ist keine Lösung, nur gleiche Bezahlung für alle zu fordern. Wer das macht tut so, als ob die ganze Welt aus Menschen besteht, die genauso gut gestellt sind wie wir. Was wir vielmehr fordern sollten sind faire Arbeitsbedingungen für alle.
Diese Sicht kommt nicht bei allen Frauen gleichermaßen gut an …
Es ist natürlich unbequem, sich mit dieser Sichtweise zu beschäftigen, denn die logische Schlussfolgerung daraus ist ja: "Oh Mist, ich muss mich ja auch mit mir selbst auseinandersetzen. Dabei dachte ich bis jetzt, dass ich ausschließlich ein Opfer bin, weil ich eine Frau bin." Und das ist es, was der "weiße Feminismus" der letzten Jahrzehnte verursacht hat: Er hat weißen Frauen gesagt, ihr könnt keine Täterinnen sein, weil ihr Frauen seid. Ihr könnt nur Opfer sein. Dieses Bild haben viele Frauen so sehr verinnerlicht, dass meine Sicht der Dinge viel Abwehr und Widerstand verursacht.
Und wo bleibt die weibliche Solidarität, der Dienst an der feministischen Sache?
Wenn wir diese Forderungen aus dem Feminismus rauslassen, dann haben wir keine Bewegung, die sich für Gleichberechtigung einsetzt – und damit haben wir keinen Feminismus mehr. Der ureigenste Anspruch des Feminismus ist die Gleichberechtigung. Aber wo ist die Gleichberechtigung, wenn ich um die Welt reise, während sich bei mir daheim eine arme Frau zum Mindestlohn um mein Haus kümmert und meine Kinder betreut und erzieht?
Sibel Schick "Weißen Feminismus canceln", S. Fischer Verlag 2023, € 26,50