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Briten-Premier will Hausärzten das Krankschreiben verbieten

Nach Corona explodiert die Zahl der Krankstände. Nun will Rishi Sunak die Stopptaste drücken. Der Aufschrei scheint unbegrenzt.

Rishi Sunak, konservativer britischer Premierminister, lässt sich 2023 in einer Apotheke den Blutdruck messen
Rishi Sunak, konservativer britischer Premierminister, lässt sich 2023 in einer Apotheke den Blutdruck messen
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Newsflix Redaktion
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Es sind Worte, die man von einem Premierminister eher selten hört. Vor allem von einem, der spätestens im Jänner gewählt werden will. In Großbritannien habe sich eine "Kultur des Krankschreibens" etabliert, sagte Rishi Sunak, er wolle dieser Praxis nun ein Ende setzen. Es gäbe eine "Übermedikation" bei der Bekämpfung gängiger Ängste und das wiederum würde dazu führen, dass die Zahl der Arbeitsunfähigen aufgrund psychischer Probleme in die Höhe geschossen sei.

Die Rede dauerte knapp 50 Minuten, Sunak hielt sie am Freitagvormittag im "Centre for Social Justice" in London. Er servierte die Neuigkeiten gewohnt portionsweise, ein, zwei Sätze, Pause, Inhalt sickern lassen, dann weiter. Der britische Premierminister stellte die Eckpunkte seiner Reform des Sozialsystems vor, an die Spitze hatte er eine Analyse gestellt, die recht schonungslos ausfiel. Den Anstieg bei den Sozialausgaben nannte er "unhaltbar", er werde "nicht hinnehmen", dass mittlerweile 2,8 Millionen Menschen wegen Langzeitkrankheiten arbeitsunfähig sind. Großbritannien hat 67 Millionen Einwohner.

"Seit der Pandemie ist etwas schief gelaufen", sagt Sunak. Die Zahl der Langzeitkranken sei um 850.000 gestiegen, die Hälfte der Betroffenen gebe an, "unter Depressionen oder Angstzuständen zu leiden". Die Krankengeldleistungen für Menschen im erwerbsfähigen Alter kosteten im vergangenen Jahr 49 Milliarden Pfund (53 Milliarden Euro) und sollen bis zum Ende des Jahrzehnts um weitere 20 Milliarden Pfund (23 Milliarden Euro) steigen. Wenn man die Beihilfen fürs Wohnen mitrechnet, belaufen sich die Kosten für Sozialzahlungen an Langzeitkranke bereits auf 69 Milliarden Pfund (80 Milliarden Euro). "Großbritannien gibt dafür mehr Geld aus als für Polizei oder Schulen."

Jungärzte demonstrierten 2023 vor dem St. Thomas Hospital in London für bessere Bezahlung
Jungärzte demonstrierten 2023 vor dem St. Thomas Hospital in London für bessere Bezahlung
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Junge am meisten betroffen Der größte proportionale Anstieg bei den Langzeitkrankheiten kommt von jungen Menschen. Das sei am "besorgniserregendsten", sagte Sunak. "Diejenigen, die sich in der Blüte ihres Lebens befinden, gerade erst mit Arbeit und Familie beginnen, werden stattdessen in der Wohlfahrt geparkt." Er werde Menschen die Krankheiten, unter denen sie leiden, "niemals vorwerfen oder herunterspielen. Jeder, der an psychischen Erkrankungen gelitten hat oder das in der Familie oder bei Freunden miterleben musste, der weiß, dass diese Empfindungen real sind." Aber es sei genauso falsch, diesen "wachsenden Trend zu ignorieren, sich einfach zurückzulehnen und es zu akzeptieren".

Der britische Premierminister präsentierte einen Plan mit fünf Reform-Maßnahmen:

1. Mehr Menschen sollen arbeiten "2011 wurden 20 Prozent der Menschen, die sich auf ihre Arbeitsfähigkeit hin untersuchen ließen, als untauglich eingestuft", sagte Sunak. "Laut den neuesten Zahlen sind es nun 65 Prozent. Das ist falsch. Die Menschen sind nicht dreimal kranker als vor einem Jahrzehnt." Die Arbeitswelt habe sich verändert. Wer krank sei, müsse seine Behandlungen bekommen, aber es gebe mittlerweile viele Jobs, die man von daheim aus erledigen könne, auch wenn man in der Mobilität eingeschränkt sei, Depressionen habe. "Wir werden also die Kriterien für Arbeitsunfähigkeit verschärfen."

2. Nicht mehr Hausärzte sollen krankschreiben Die Beurteilung, ob jemand arbeitsfähig ist, bringe Mediziner in eine Konfliktsituation, so der Premier. Ein Hausarzt, der seine Unterschrift unter eine Krankenschreibung, vor allem eine längerfristige, verweigert, ist schnell Patienten los. Also sollen Hausärzte dafür in Zukunft nicht mehr zuständig sein, sondern ein nicht näher spezifiziertes Gremium an Fachleuten. Die Pläne erinnern an die österreichische Chefarztpflicht. Das System soll zunächst getestet werden.

Der britische Premierminister Rishi Sunak bei der Präsentation seiner Reform in der Gesundheits- und Sozialhilfe
Der britische Premierminister Rishi Sunak bei der Präsentation seiner Reform in der Gesundheits- und Sozialhilfe
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3. Wer Geld bekommt, hat auch Verpflichtungen Jemand, der Leistungen erhalte, sollte dafür auch etwas leisten, so Sunak. Er will auch hier Regeln verschärfen. "Jeder, der weniger als eine halbe Vollzeitwoche arbeitet, muss versuchen, zusätzliche Arbeit zu finden, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können." Es gebe  500.000 Menschen, die seit sechs Monaten ohne Arbeit sind, 250.000 Menschen, die seit zwölf Monaten nicht arbeiten, aber fast eine Million offene Stellen. Konsequenz (wenn auch nicht mehr in der dieser Legislaturperiode): Wer keinen Job annimmt, verliert nach zwölf Monaten jeden Leistungsanspruch.

4. Mehr Kontrollen für Zuschüsse In Großbritannien wurde ein System namens "Personal Independence Payment" (PIP) etabliert. Darunter versteht man Hilfszahlungen, die von einer Krankheit verursachte Extrakosten im Alltag ausgleichen sollen. Die Zahl der Anspruchsberechtigungen hat sich seit 2019 verdoppelt, pro Monat kommen 5.000 Menschen dazu. Drei Millionen Menschen erhalten inzwischen Zuschüsse, pro Monat gibt es bis zu 550 Euro. Sunak will das System überprüfen und auf mehr Einmalzahlungen umstellen.

Im britischen Gesundheitssystem herrscht ein chronischer Mangel an Fachpersonal
Im britischen Gesundheitssystem herrscht ein chronischer Mangel an Fachpersonal
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5. Kampf dem Sozialbetrug "Wir werden nicht zulassen, dass Betrüger die Großzügigkeit des britischen Volkes ausnutzen", sagt Sunak. Leistungsbetrug wird in Zukunft behandelt wie Steuerbetrug. Die Regierung will ein Gesetz beschließen lassen, um einen besseren Einblick in Bankdaten zu haben. KI soll Leistungsbetrüger aufspüren helfen.

Viele Proteste Bei Gesundheitsexperten, Gewerkschaften und Wohltätigkeitsorganisationen führten die Sunak-Ankündigungen zu einem Aufschrei. Sie nannten die Pläne "zutiefst schädlich", seine Wortwahl "inakzeptabel". Kranke Menschen würden nun "Leistungssanktionen" ausgesetzt werden. "Es ist beleidigend für jene 1,9 Millionen Menschen, die darauf warten, Unterstützung für ihre psychische Gesundheit zu erhalten."

Die Vorschläge seien "gefährlich und bergen das Risiko, dass Menschen mit Behinderungen mittellos bleiben," sagte James Taylor, Strategiedirektor von Scope. Die Wohltätigkeitsorganisation kämpft für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Die Rede "fühle sich wie ein umfassender Angriff auf Menschen mit Behinderungen an".

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