erinnerung
Eugen Freund: "So erlebte ich O.J. Simpson"
Tod mit 76. Eugen Freund war US-Korrespondent, als der Ex-Footballstar in einem Doppelmord-Prozess Schlagzeilen machte. Ein persönlicher Rückblick.
1995: Zwei Monate nach meiner Ankunft in den USA als ORF-Korrespondent in Washington saß auch ich gefesselt vor dem Bildschirm. Ein schwarzer ehemaliger Fußballer (als absolut passiver Sportler musste ich mich damals erst orientieren, dass der Stellenwert von US-Football nichts mit unserem Fußball zu tun hat …) stand vor Gericht, weil er seine Ex-Frau und einen Bekannten ermordet haben soll. Nach nur ein paar Stunden TV-Konsum war auch ich gefesselt – und gleichzeitig hin- und hergerissen. Kaum war ein Verteidiger am Wort, war ich felsenfest davon überzeugt, dass O.J. Simpson hineingelegt wurde. Sobald dann die Staatsanwaltschaft argumentierte, war mir klar, dass der Angeklagte unbedingt hinter Gitter muss. Im Laufe des Prozesses produzierte ich unzählige Beiträge für die Journale von Ö1, Ö3 und für diverse ZiB-Sendungen.
Irgendwann gegen Ende des Prozesses - die Geschworenen sind ohnehin schon kaum mehr bei der Sache - stellt die Verteidigung einem Kriminalbeamten eine scheinbar unbedeutende Frage: "Schicken Sie normalerweise immer vier Polizisten los, wenn sie Angehörige von einem Mord informieren?" "Normalerweise nicht," antwortet der Beamte, "aber was ist in diesem Kriminalfall schon normal."
In der Tat: Auch wenn es angeblich alles schon einmal gegeben hat, dieser Fall war einmalig - in fast jeder Hinsicht: der Angeklagte, die Polizei, der ethnische Hintergrund, der Richter, die Verteidigung, die Staatsanwälte, die Medien - alle, getrennt oder im Zusammenwirken, bildeten ein Skript, das selbst das phantasievolle Hollywood – ohnehin nur ein paar Kilometer vom Prozess- Schauplatz entfernt - jedem Drehbuchautor zurück auf den Tisch geknallt hätte.
Das TV-Ereignis des Jahrhunderts
Monatelang bekamen die Zuseher dank "Live"-Übertragung mehrerer Fernsehanstalten fast täglich ein neues Drama, eine neue Wendung im Mordfall des Jahrhunderts ins Haus geliefert. Die besten Stories schreibt das Leben, heißt es, oder, wie in diesem Fall, der Tod.
Beginnen wir mit dem Angeklagten: Orenthal James Simpson, O.J. Simpson, oder auch nur O.J., der legendäre ehemalige Star der Football-Mannschaft Buffalo Bills. Als Afro-Amerikaner in einem Ghetto in San Francisco aufgewachsen, hätte er schon als Jugendlicher dort landen können, wo er nun die vergangenen eineinhalb Jahre verbracht hat: im Gefängnis, bzw. im Gerichtsgebäude.
Aber O.J. hatte Glück – und die entsprechende Statur - der groß gewachsene Schwarze wird von einem Football-Trainer entdeckt und beginnt so eine großartige Karriere. Sie führt ihn vom grünen Rasen, oder besser: vom künstlichen Rasen der Riesenstadien in die Kommentatorenloge einer Fernsehanstalt; Er wird, was nur wenigen Afro-Amerikanern vor ihm gelungen ist, das Aushängeschild einer Autoverleihfirma, schließlich gelingt ihm sogar der Sprung nach Hollywood.
Der Doppelmord, der alle elektrisiert
Die Filme, in denen er mitspielt, werden zwar keine Kinoklassiker, machen aber O.J. Simpson zur Legende, man denke nur an "Die nackte Kanone". Dann ist da noch seine zweite Ehe mit der superblonden Nicole Brown, deren Eltern aus Deutschland stammen. Die Beziehung bringt ihn auch immer öfter in die Klatschspalten der Regenbogenpresse - erst recht Scheidung, Versöhnung, Trennung.
Am 13. Juni 1994 landet O.J. auf der ersten Seite aller amerikanischen Zeitungen, wird zur Spitzenmeldung aller Nachrichtensendungen: In einer exklusiven Gegend von Los Angeles findet die Polizei zwei entsetzlich zugerichtete Leichen, jene von Nicole Brown und von Ron Goldman, einer Zufallsbekanntschaft Nicoles. Nach einigen Tage Verwirrung wird O.J. schließlich nach einer wilden Verfolgungsjagd quer durch Los Angeles, verfolgt von Hubschraubern mehrerer TV-Stationen, verhaftet: Er wird beschuldigt, seine Ex-Frau und Ron Goldman ermordet zu haben. O.J. Simpson bekennt sich nicht schuldig.
Eine Verteidigung vom Besten
Bald nach seiner Verhaftung versammelt O.J. ein Team von Verteidigern um sich, die zu den besten - und, nebenbei erwähnt, zu den teuersten - des Landes gehören. F. Lee Bailey, Allan Dershowitz, Johnny Cochran, Robert Shapiro, jeder Einzelne von ihnen hat in Sensationsprozessen Klienten freigeboxt.
Wenn sie vor dem Gerichtssaal auftauchen, klicken die Kameras, rollen die Filme, jeder der anwesenden Journalisten, auch der Adabeis, will von der Marschroute der Verteidigung etwas mitbekommen. Und jetzt, im Kriminalfall des Jahrhunderts, stehen sie alle auf einer Seite, hinter ihrem Mann, O.J. Simpson.
Die rassistische Polizei
Schon bald kristallisiert sich die Strategie der Verteidigung heraus: hier ist ein Schwarzer hineingelegt worden. Hineingelegt von einer Polizei, die für ihre rassistischen Tendenzen stadtbekannt ist. Dafür haben nicht zuletzt jene Beamten gesorgt, die drei Jahre zuvor Rodney King niedergeprügelt hatten, nur weil er als Schwarzer leicht betrunken von einer Patrouille gestoppt worden war.
Einer der Polizisten hat in einem Gespräch ganz offen bekannt: "Wenn ich einen schwarzen Autofahrer anhalte und er mir seinen Führerschein zeigt, zerreiße ich das Dokument - und er wird wegen Fahrens ohne Führerschein angezeigt …" O.J. Simpson, so will das hochrangige Team der Verteidigung im Prozess aufzeigen, ist von einer rassistisch geprägten Polizei ausgetrickst worden. Das Blut, das man ihm abgenommen hat, ist so an den einzelnen Schauplätzen verteilt worden, dass nur er als Täter in Frage kommen muss.
Blut spielt tatsächlich eine große Rolle: man findet es am Tatort, auf und in seinem Fahrzeug, im Haus des Angeklagten. Die Beweise der Staatsanwaltschaft zeigen Wirkung. Egal, ob es nun um die Blutstropfen in Simpsons Auto geht, um die in seinem Vorzimmer, am Tatort …
O.J. Simpson, das arme Opfer
Die Strategie der Verteidigung ist vielschichtig. Simpson sei in eine Falle geraten, behaupten sie. Eine Freundin der Ermordeten sei in einen Rauschgifthandel verwickelt gewesen, das habe zu den zwei Toten geführt. Einer der Zeugen will in der Mordnacht Stimmen gehört haben, die vom Tatort gekommen waren. Aber das passiert in dem Fall immer wieder: Zeugen, die eine Unschuld des Angeklagten beweisen sollen, belasten im Kreuzverhör O.J. Simpson. Wie etwa der Mann mit den Stimmen. Er will auch gesehen haben, dass ein weißer Allrad-Wagen mit hoher Geschwindigkeit vom Tatort weggebraust sei. So ein Modell besitzt auch O.J..
Die Verteidigung will auch nachweisen, dass O.J. Simpson durch eine schwere Arthritis körperlich gar nicht in der Lage gewesen wäre, zwei Menschen fast gleichzeitig umzubringen.
Ein Arzt, der O.J. nach der Tat untersucht hat, gibt zu Protokoll, Simpson habe zwar wie Tarzan ausgesehen, aber sich wie der Großvater des Dschungelkönigs bewegt …
Das Bild des Helden zerbröselt
Der Konterschlag der Staatsanwaltschaft lässt nicht lange auf sich warten. Sie führt ein Videoband vor, das nur wenige Wochen vor dem Mord produziert worden war, es zeigt O.J. in einem Fitness-Studio. Er bewegt sich ohne Schwierigkeiten. Und er lässt in einem Interview eine Bemerkung fallen. Wenn sie ihre Frau einmal schlagen, sagt er, können sie immer noch behaupten, sie haben bei der Gymnastik unabsichtlich den Arm zu weit ausgestreckt …
Ist O.J. Simpson nicht mehr nur der freundliche Vorturner der Nation, der informierte Sportreporter, der sympathische Firmensprecher, sondern auch ein gewalttätiger Ehemann? Die Schwester der Toten, Denise Brown, verstärkt dieses Bild. Einmal sei sie im Haus gewesen, erzählt sie im Zeugenstand, da habe O.J. ihre Schwester vor ihren Augen verprügelt und sie beide dann aus dem Haus geschmissen.
Über hundert Zeugen marschieren im Laufe von acht Monaten auf, sie spiegeln den ethnischen Schmelztiegel wieder, der die USA und Los Angeles ausmacht. Die Zeugen stammen aus El Salvador, aus Neuseeland, aus Frankreich, China, sind gebürtige Italiener. Den Vorsitz führt der japanisch-stämmige Richter Lance Ito, verheiratet mit einer führenden Beamtin im Polizeiapparat von Los Angeles. Mittendrin im Prozess verbreitet sich das Gerücht, Ito müsse auf der Seite der Polizei stehen und damit auf der Seite der Anklage. Er dementiert heftig.
Fünf Dollar pro Tag für die Geschworenen
Für die Geschworenen ist der Prozess eine Tortur. Sie sind über Monate kaserniert, wohnen in einem Hotel, werden in der Früh ins Gerichtsgebäude transportiert, verbringen die Mittagspause gemeinsam und sehen ihre Familie nur an wichtigen Feiertagen. Sie haben keine Zeile über den Prozessverlauf gelesen, von den Experten, die jeden Auftritt eines Zeugen im Fernsehen analysieren, wissen sie nichts. Sie dürfen über den Fall untereinander nicht sprechen. Und das alles für fünf Dollar Entschädigung pro Tag - das ist ihr Honorar.
So ist es kein Wunder, dass der Pool der Geschworenen im Laufe des Sommers auf die kritische Grenze von zwölf Laienrichtern zusammengeschrumpft ist - fast alle Ersatzgeschworenen mussten schon eingesetzt werden, weil einer nach dem anderen mit dem Druck nicht mehr fertig geworden ist.
"Wenn der Handschuh nicht passt …"
Dann macht die Staatsanwaltschaft einen entscheidenden Fehler. Sie legt O.J. Simpson ein paar braune Handschuhe vor, es handelt sich um jenes Paar, von dem ein Handschuh am Tatort und einer hinter seinem Haus aufgefunden worden war. Aus kriminaltechnischen Gründen muss sich O.J. ein paar dünne Gummihandschuhe überstreifen, bevor er in die ledernen Originale schlüpfen kann. "Too tight" - zu eng, hört man Simpson sagen, der sich sichtlich bemüht, seine riesigen Hände in das zu kleine Paar zu stecken. Wenn das also die Mordhandschuhe waren, wie kann dann jemand, dem sie nicht passen, der Mörder gewesen sein. Die Verteidigung strahlt.
"If the gloves don't fit, you must acquit!" Also frei übersetzt: "Wenn der Handschuh nicht passt, gehst Du nicht in den Knast." Die Staatsanwaltschaft hat alle möglichen Argumente dafür, warum die Handschuhe so eng sind: sie sind eingegangen, durch das Blut, das auf ihnen gefunden wurde, sie sind geschrumpft, weil die Nacht, in der sie im Freien gelegen sind, feucht war - aber die Geschworenen haben immer nur ein Bild vor sich – dass die Handschuhe nicht gepasst haben.
Nicht ins Gefängnis, aber dann doch
Am Ende sprechen die Geschworenen – Freispruch wegen mangelnder Beweise. Das Urteil spaltet die USA. In einem späteren Zivilprozess wird O.J. Simpson dann tatsächlich verurteilt, zu einer hohen Geldstrafe (33 Millionen Dollar). Davon bekommen die Hinterbliebenen jedoch nur einen Bruchteil.
Ins Gefängnis muss er dann ein paar Jahre später dennoch: nach einem bewaffneten Raubüberfall und Geiselnahme sitzt er neun Jahre in Haft.
Eugen Freund war Moderator der ZiB 1, lebte von 1979 bis 1984 in New York und war von 1995 bis 2001 in Washington als ORF-Korrespondent tätig. Er war Teil der SPÖ-Delegation im Europa-Parlament und ebendort Mitglied der USA-Delegation (2014-2019)