Fashion-Legende
Galliano, der Film: Jack Sparrow ist wieder da!
John Galliano war einer der genialsten Modemacher, ehe er sich mit Alkohol und Antisemitismus selbst ins Aus schoss. Jetzt beleuchtet ein neuer Film das Enfant terrible.

Menschen reagieren bekanntermaßen höchst unterschiedlich, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben. Die einen werden laut und selbstbewusst, andere sehr lustig und redselig, und wieder andere schlafen sofort ein, sobald ihr Alkoholpegel über eine gewisse Marke steigt.
Als sich der britische Modemacher John Galliano, irgendwann Mitte der 2000er-Jahre und auf dem Höhepunkt seines Erfolges, bei einem Aufenthalt im Londoner Luxushotel "Ritz" einmal das eine oder andere Glas zu viel genehmigte, besetzte er kurzerhand einen der Fahrstühle, zog sich splitterfasernackt aus und vertrieb jeden, der einsteigen wollte, mit lautem Knurren und dem Hinweis, er sei ein gefährlicher Löwe, aus der Kabine.

Einmal Himmel und zurück Gute vier Stunden dauerte die Aufzug-Eskapade, und sie ist einer der amüsanten Höhepunkte eines neuen Dokumentarfilms über John Galliano, einen der außergewöhnlichsten Modemacher der Neunziger- und Nuller-Jahre und gleichzeitig Gottseibeiuns der Branche. In "High & Low: John Galliano", der diesen Freitag in England und den USA anläuft, erzählen Freunde, Weggefährten und Kritiker über Gallianos Aufstieg und Fall.
Auch Galliano selbst, dessen Piratenlook nicht wenige Beobachter an Käpt'n Jack Sparrow aus den "Fluch der Karibik"-Filmen erinnert, kommt ausführlich zu Wort. Fünf Tage stand er den Filmemachern Rede und Antwort und legte seine Sicht der Dinge klar: Wie er zum Mode-Gott wurde; Wie er am Weg zum Selbstmord auf Raten war; Und wie er sein Leben schließlich an einem Abend in den Ausguss kippte.

Aufstieg aus armen Verhältnissen John Galliano heißt eigentlich Juan Carlos Antonio Galliano Guillén und wurde 1960 im zu Großbritannien gehörenden Gibraltar an der Südspitze Spaniens geboren. Sein Vater war Installateur, seine Mutter, eine Spanierin, war Tänzerin. Als der einzige Sohn – Galliano hat noch zwei Schwestern – sechs Jahre alt war, übersiedelte seine Familie nach South London. Designstudium an der St. Martins School of Arts, Abschluss mit Auszeichnung für eine Modekollektion, die sofort von einem renommierten Modegeschäft aufgekauft wurde – rasch wurde die Londoner Modeszene auf den Newcomer aufmerksam.

Party-Animal goes Paris Mit Hilfe von Investoren gründete Galliano ein Modeunternehmen und zeigte seine Entwürfe ab 1985 auf der London Fashion Week, die Nächte schlug er sich in der Londoner Partyszene um die Ohren. Anfang der Neunziger folgte die Übersiedlung nach Paris, wo auch einer der wichtigsten Menschen der Modeszene weltweit auf ihn aufmerksam wurde: Bernard Arnault. Der Eigentümer des Konglomerats LVMH , in dem dutzende Luxusmarken zusammengefasst sind, überantwortete Galliano die Position des Chefdesigners bei "Givenchy" und übernahm zudem auch eine Mehrheit bei Gallianos eigenem Modeunternehmen. 1997 wurde Galliano Chefdesigner beim ebenfalls zu LVMH gehörenden Modehaus "Dior". Galliano hatte es geschafft.

Wunderbare Jahre Was folgte war ein einziger Erfolgslauf. Gallianos exaltierte Shows waren Highlights bei den Modewochen, es liefen die angesagtesten Models für ihn, am Ende jeder Modenschau inszenierte sich Galliano selbst in ausgefallenen Kostümen auf dem Laufsteg. Die Queen schlug ihn zum Ritter, Arbeitgeber LVMH war happy, weil der Engländer mit Accessoires, Parfums und sonstigem Fashion-Kleinzeug Unmengen an Geld in die Kassen spülte, Galliano war auf dem Höhepunkt. So hätte es immer weitergehen können.

Hausverbot in 20 Hotels Die Schattenseite des Ruhms: Der dauergestresste Galliano, der ohnedies eine große Affinität zu Alkohol und sonstigen "Erfrischungen" hatte, kippte immer mehr immer ungehemmter in sich hinein: Alkohol, Amphetamine, Schlaftabletten, Valium, Verbotenes. "Nach jeder Show saß er da und ließ sich volllaufen", wird ein Freund des Modeschöpfers in der Doku zitiert. Galliano selbst sagt: "Ich habe langsam Selbstmord begangen."
Eine Begleiterscheinung dieser Tour de force: Der Couturier verlor immer öfter die Contenance. In 20 Hotels hatte er bereits Hausverbot – nicht überall hatte er im Adamskostüm einen Aufzug gekapert, aber es reichte oft für einen Platzverweis. "John und ich sind beide ein bisschen schüchtern und unbeholfen, bis wir etwas getrunken haben", plaudert Kate Moss, ehemaliges Supermodel und von Anfang an Weggefährtin Gallianos, in der Doku drauflos. Aber die Icebreaker-Runden wurden immer exzessiver und selbstzerstörerischer.

Antisemitischer Auszucker Im Februar 2011 brach das Kartenhaus schließlich zusammen. In der Brasserie "La Perle" im angesagten Pariser Viertel Marais beschimpfte Galliano, abgefüllt bis an die Oberkante, mehrere Gäste übelst und beleidigte sie antisemitisch. Er polterte dabei über Gaskammern und soll "Ich liebe Hitler" krakelt haben, andere Gäste zeichneten den Auszucker mit ihren Handys auf.
Dior trennte sich wenige Tage später von John Galliano, der Prozess im Herbst des Jahres geriet zur Medienshow, der Modemacher a. D. wurde zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Modewelt drehte Galliano den Rücken zu, nur seine treuesten Freunde hielten zu ihm: Für Kate Moss gestaltete der nunmehr Arbeitslose in dem Jahr das Hochzeitskleid.

Kreative Katarsis Aber schon wenige Monate nach seiner Verurteilung holte die Fashion-Family ihr missratenes Kind zurück an den Esstisch. Galliano bekam verschiedene Berater-Jobs in der Branche, auch Kostüme fürs Theater durfte er designen, immer aber ohne großes Medienspektakel. Und auch einen Entzug habe er gemacht und sei mittlerweile seit mehr als zehn Jahren "trocken", erzählt der Geläuterte dem Regisseur "seiner" Doku, dem Amerikaner Kevin Macdonald (der im Jahr 2000 einen Oscar für den Dokumentarfilm "Ein Tag im September" erhalten hat).

Comeback Kid Lohn der Anstrengung: Seit 2014 hat John Galliano wieder einen festen Job, und zwar für das Modehaus "Maison Margiela", das mittlerweile zum Reich des italienischen "Diesel"-Erfinders Renzo Rosso gehört. "John Galliano ist unbestritten eines der größten Talente aller Zeiten", wird der Italiener dazu zitiert. Wie recht er damit hat, beweist der gefallene und wieder auferstandene Mode-Engel aus England immer wieder.
Zuletzt im Jänner dieses Jahres, als er in Paris unter einer Brücke eine Fashion Show auf die Beine stellte, die mit minutenlangen Standing Ovations honoriert und von Modekritikern als endgültige Rückkehr Gallianos verstanden wurde. Es ist also wieder zu rechnen mit dem Löwen aus dem Fahrstuhl.
"High & Low: John Galliano", Dokumentarfilm von Kevin Macdonald, ab April beim Streaming-Anbieter Mubi und auf JustWatch