Also doch: Die EU beschloss am Freitag die Lieferkettenrichtlinie. Für die einen ein "fauler Kompromiss", für die anderen ein "Bürokratie-Monster". Die Spurensuche.
Es war ein Hängen und Würgen, eine Einigung auf den letzten Metern. Im Juni finden die Europa-Wahlen statt, am Freitag, nicht einmal drei Monate vor dem Wahltermin, einigten sich die 27 EU-Botschafter in Brüssel auf die EU-Lieferkettenrichtlinie. Nun muss nur noch das Parlament zustimmen, das soll im April stattfinden, bis dahin werden die Telefonleitungen der Lobbyisten glühen. Der Beschluss am Freitag fiel nicht einstimmig aus, zehn Staaten stellten sich dagegen. Sie enthielten sich der Stimme oder stimmten, wie Österreich, dagegen.
Es findet sich niemand, der die grundsätzliche Stoßrichtung des Gesetzes bekrittelt. Kampf gegen Kinderarbeit, gegen Hungerlöhne, gegen Ausbeutung, gegen Arbeit unter lebensgefährlichen Umständen, wer könnte das nicht unterstützen? Das Ergebnis nun aber macht fast alle unglücklich. In einem monatelangen Prozess seien die wichtigsten Bestimmungen verwaschen worden, sagen die einen. Da sei immer noch zu viel Härte übrig geblieben, Europa schieße sich im Wettkampf mit den anderen Wirtschaftsnationen ins Knie, sagen die anderen.
Am 22. Februar 2022 legte die EU-Kommission einen ersten Vorschlag vor. Grüne und NGOs waren angetan. Der Entwurf war recht weitreichend, es gab kaum Schlupflöcher. Großunternehmen in der EU sollten künftig bei Umwelt- und Menschenrechtsverstößen ihre Lieferanten in die Pflicht nehmen. Die geplanten Regelungen hätten etwa 13.000 Unternehmen betroffen.
Am 1. Juni 2023 legte das EU-Parlament noch einmal nach und verschärfte die Bestimmungen. Von da an ging es in die andere Richtung. Die EU-Institutionen übernahmen.
Im Trilog (Verhandlung zwischen Parlament, Rat der Europäischen Union und Kommission) wurde die Lieferkettenrichtlinie neu modelliert. Am 9. Februar 2024 war die Abstimmung darüber im EU-Rat geplant, sie wurde abgesagt, die deutsche FDP hatte sich dagegen gestemmt. Bei der Abstimmung im EU Rat am 28. Februar 2024 fand sich keine Mehrheit. Nun kam es am Freitag doch noch zum Kompromiss – aber worauf?
Die EU-Botschafter einigten sich am Freitag (mit zehn Gegenstimmen) auf eine weichere Version.
"Der Beschluss des Lieferkettengesetzes ist ein Erfolg mit bitterem Beigeschmack", sagt Lisa Tamina Panhuber von "Greenpeace Österreich". "Wir begrüßen, dass die Richtlinie beschlossen wurde, aber die Ausnahmen und Einschnitte sind gravierend."
Die Wirtschaft sieht das vielfach anders. Es würden mitnichten nur große Unternehmen betroffen sein. "Die EU lässt ein Bürokratiemonster von der Leine", kritisiert Karlheinz Kopf, Generalsekretär der "Wirtschaftskammer Österreich" (WKÖ). Man unterstütze das grundsätzliche Ziel des EU-Lieferkettengesetzes, aber "Gold Plating können wir uns nicht leisten, wenn wir unsere – ohnehin angeschlagene – internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht weiter schwächen wollen".
"Neben sehr großen Unternehmen, die vom Geltungsbereich der geplanten EU-Lieferkettenrichtlinie unmittelbar betroffen sind, werden in Österreich vor allem Klein- und Mittelbetriebe indirekt von den Bestimmungen betroffen sein", argumentiert die WKO. Es bestehe die begründete Gefahr, dass Sorgfaltspflichten auf Vertragspartner (oft KMUs) abgewälzt werden. Die Kammer führt Beispiele an.
Der Betrieb aus der Steiermark beliefert direkt einen internationalen Automobilkonzern. Aufgrund der EU-Lieferkettenrichtlinie muss der Verarbeitungsbetrieb damit rechnen, die gesetzlichen ESG-Verpflichtungen (also für nachhaltiges Handeln) vom Automobilkonzern vertraglich übertragen zu bekommen. Für den Betrieb aus der Steiermark bedeutet das einen massiven zusätzlichen Bürokratieaufwand, der mit erheblichen Kosten und Belastungen verbunden ist. Der Lederverarbeitungsbetrieb muss diese Verpflichtungen auch an seine Geschäftspartner weitergegeben, sofern sie Teil der Wertschöpfungskette des Automobilkonzerns sind.
Der Betrieb hat sich auf die Entwicklung von Softwarelösungen spezialisiert und internationale Geschäftspartner in Indien und den USA. Der US-amerikanische Geschäftspartner ist in der EU tätig und fällt unter den Anwendungsbereich der EU-Lieferkettenrichtlinie. Das österreichische Technologie-KMU muss sicherstellen, dass die Arbeitsrechtsstandards und ethischen Geschäftspraktiken bei seinen Geschäftspartnern in Indien respektiert und eingehalten werden. Das KMU muss zudem transparente Berichte über seine Bemühungen zur Einhaltung der Sorgfaltspflichten führen und seinen US-amerikanischen Geschäftspartner darüber laufend informieren.
Der Betrieb stellt handgemachte Textilprodukte her und vertreibt sie an einen Großkonzern. Rohstoffe, wie etwa Baumwolle, werden von internationalen Lieferanten aus Asien und Afrika bezogen. Das österreichische Familienunternehmen muss nicht nur verantworten, dass soziale und ökologische Standards im eigenen Betrieb eingehalten werden, sondern auch bei seinen internationalen Lieferanten in Asien und Afrika. Verstößt das Familienunternehmen etwa gegen die Verpflichtung, seine internationalen Lieferanten laufend zu überprüfen, drohen zivilrechtliche Haftungsansprüche.
Was die Kammer lieber gesehen hätte: Nicht bei den Lieferketten, sondern bei den Lieferanten anzusetzen. Heißt: Anstatt die Verantwortung im Nachhinein an Unternehmen abzutreten, sollen im Vorhinein sichere und unsichere Lieferanten bzw. Regionen festgelegt werden, etwa durch "Whitelists".