Paul Austers Witwe klagt an: "Wir wurden unserer Würde beraubt"

"Ich kenne nicht die ganze Geschichte, wie das passiert ist, aber ich weiß eines: Es ist falsch." Es ist ein langes Posting, so lange, dass sie sogar die Kommentarspalten dafür benutzen muss. Paul Auster ist tot, der verdammte Krebs. Auf Instagram schreibt sich seine Witwe Siri Hustvedt, selbst eine begnadete Schriftstellerin, ihre Trauer, ihre Wut, ihre Fassungslosigkeit von der Seele. Ein Zeitdokument.

Anklage an die (sozialen) Medien Hustvedt klagt an, wie mit ihrer Familie und ihr nach dem Tod umgegangen wurde.  "Eine Maschine hat die Nachricht von Pauls Tod nicht herausgeschrien, bevor ich oder unsere Tochter ein Wort darüber verloren hatten. Ein Mensch hat das getan."

Nachrufe, da lag die Leiche noch im Haus Im März 2023 erkrankte Paul Auster an Krebs, das Ehepaar macht das öffentlich, ging auch in der Kommunikation sehr offen damit um. Nun aber kursierten im Internet bereits die ersten Nachrufe, da war der Leichnam des Schriftstellers noch nicht einmal aus dem Haus der Familie gebracht worden war. Diese Pietätlosigkeit und Rastlosigkeit raubte der Witwe den Atem: "Keiner von uns war in der Lage, die uns nahestehenden Menschen anzurufen oder ihnen eine E-Mail zu schreiben, bevor das Geschrei im Internet losging. Wir wurden unserer Würde beraubt."

Stiller Star der Literaturwelt Paul Auster, geboren am 3. Februar 1947 in eine kleinbürgerliche jüdische Familie in Newark, New Jersey, schrieb bereits mit 13 erste Gedichte, war aber auch ein guter Sportler mit einem Faible für Basketball, Football und Baseball – der Mannschaft der New York Mets sollte er sein Leben lang als Fan die Treue halten. Nach einem Studium an der Columbia University und mehreren Aufenthalten in Paris, unterrichtete Auster zunächst und schrieb nebenbei Gedichte, Einakter für Theater und einen Krimi. Erst nach dem Tod seines Vaters und aufgrund der Erbschaft konnte er es sich leisten, als Schriftsteller zu leben.

"Literatur-Traumpaar" 1982 heiratete Paul Auster in zweiter Ehe die Tochter eines Norwegisch-Professors in New York, Siri Hustvedt. Das Paar lebte fortan in Brooklyn, Auster unterrichtete in Princeton, beide arbeiteten zudem an ihren Büchern.

Sohn und Enkelkind starben 1987 wurde die gemeinsame Tochter Sophie geboren, aus erster Ehe hatte Auster noch einen Sohn, Daniel, der mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt kam und 2022 an einer Überdosis starb. Zu dieser Zeit liefen Ermittlungen gegen den damals 44-Jährigen. Seine 10 Monate alte Tochter war neben ihm an einer Vergiftung mit Fentanyl und Heroin gestorben.

Paul Austers Werk Der ruhige, immer freundliche Amerikaner Auster wurde in den USA als Autor geschätzt, in Europa geliebt. Vor allem in Frankreich und im deutschsprachigen Raum eroberte er sich eine riesige Fangemeinde. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören die so genannte "New York Trilogie", drei experimentelle Kriminalromane, außerdem ein Buch über seinen Vater, "Die Erfindung der Einsamkeit". Insgesamt verfasste er mehr als 30 Romane, Gedichtbände, Sachbücher und Textsammlungen.

Paul Auster hatte zudem ein Faible fürs Kino, schrieb mehrere Drehbücher und führte teilweise auch Regie. Seine bekanntesten Filme sind "Smoke" und "Blue In The Face", die in den 1990ern mit eine Staraufgebot verfilmt wurden (u.a. Harvey Keitel, William Hurt, Ashley Judd, Michael J. Fox, Lou Reed, Madonna) und hervorragende Kritiken erhielten.

Siri Hustvedts bewegende Worte im O-Ton

"Ich war naiv, aber ich hatte mir vorgestellt, dass ich diejenige sein würde, die den Tod meines Mannes, Paul Auster, verkündet. Er starb zu Hause in einem Raum, den er liebte, der Bibliothek, einem Raum mit Büchern an jeder Wand vom Boden bis zur Decke, aber auch mit hohen Fenstern, die das Licht hereinlassen. Er starb mit uns, seiner Familie, um ihn herum am 30. April 2024 um 18:58 Uhr.

Einige Zeit später entdeckte ich, dass die Nachricht von seinem Tod in den Medien kursierte und Nachrufe veröffentlicht worden waren, noch bevor sein Leichnam aus unserem Haus gebracht worden war. Weder ich, noch unsere Tochter Sophie, noch unser Schwiegersohn Spencer, noch meine Schwestern, die Paul liebten wie seine eigenen Schwestern und seinen Tod miterlebten, hatten Zeit, unseren schmerzlichen Verlust zu verarbeiten. Keiner von uns war in der Lage, die uns nahestehenden Menschen anzurufen oder ihnen eine E-Mail zu schreiben, bevor das Geschrei im Internet losging. Wir wurden dieser Würde beraubt. Ich kenne nicht die ganze Geschichte, wie das passiert ist, aber ich weiß eines: Es ist falsch.

Paul hat das Krebsland nie verlassen. Nachdem die Behandlungen fehlgeschlagen waren, bot ihm sein Onkologe eine palliative Chemotherapie an, aber er lehnte ab und bat um ein Hospiz zu Hause. Viele Patienten leiden unter den Folgen einer Krebsbehandlung, und einige werden geheilt, aber das, was die Medizin höflich als 'Nebenwirkungen' bezeichnet, wird leicht zu einer Kaskade von Krisen, die nicht durch den Krebs, sondern durch die Behandlung verursacht werden. Immuntherapien, die auf molekularer Ebene wirken, können besonders gefährlich sein. Eine 'Wirkung' kann lebensbedrohlich sein und ein dramatisches Eingreifen erfordern, was wiederum eine andere lebensbedrohliche Wirkung hervorruft, die ein weiteres Eingreifen erfordert, und der angegriffene Körper wird immer schwächer.

Paul hatte genug. Aber er zeigte nie, weder mit Worten noch mit Gesten, ein Zeichen von Selbstmitleid. Sein stoischer Mut und sein Humor bis zum Ende seines Lebens sind für mich ein Vorbild. Er sagte mehrmals, dass er gerne sterben würde, indem er einen Witz erzählt. Ich sagte ihm, das sei unwahrscheinlich, und er lächelte.

Vergessen wir nicht, dass hinter unseren technischen Erfindungen und den sozialen Medien Menschen stehen, dass die Fehler bei uns liegen und nicht bei den Maschinen, so sehr die Technik auch zur Vereinfachung beiträgt. Eine Maschine hat die Nachricht von Pauls Tod nicht herausgeschrien, bevor ich oder unsere Tochter ein Wort darüber verloren hatten. Ein Mensch, eine Person hat das getan.

Ich lasse Sie mit dem letzten Satz von Pauls letztem Roman, 'Baumgartner', allein. Ich will nicht behaupten, dass ich, als er ihn mir vorlas, die Schwere seiner Bedeutung nicht spürte. Er war damals krank, litt jeden Nachmittag an Fieber, und obwohl noch keine Krebsdiagnose gestellt worden war, hatte ich das starke Gefühl, dass ihm und mir nicht mehr allzu viel Zeit blieb, aber beachten Sie die Zweideutigkeit, die sanfte Ironie, die Ablehnung des Endgültigen, des Absoluten, des Starren oder Kategorischen. Pauls lieber alter Mann hatte einen Autounfall:

'Und so, mit dem Wind im Gesicht und dem Blut, das noch immer aus der Wunde an der Stirn rinnt, macht sich unser Held auf die Suche nach Hilfe, und als er zum ersten Haus kommt und an die Tür klopft, beginnt das letzte Kapitel der S.T. Baumgartner-Saga.'

Pauls Geschichten reisen. Im Gegensatz zu einem Großteil der in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Literatur ist sein Werk nicht auf eine bestimmte Region beschränkt. Obwohl es vor allem auf heimischem Boden wuchs und gedieh - eine Kindheit in New Jersey, eine anhaltende Leidenschaft für Baseball, eine Liebe zu amerikanischen Überlieferungen und zur Geschichte - wurde sein Werk in über vierzig Sprachen übersetzt. Vor Jahren haben wir aufgehört, genau zu zählen. Er wird in Amerika, Europa, dem Nahen Osten, Japan und Korea geliebt, und ich erinnere mich, dass ich sein Gesicht auf dem Titelblatt des, wie ich glaube, chinesischen 'Esquire' gesehen habe.

Sein Schreiben ist grenzüberschreitend, denn obwohl seine Romane und Memoiren in das Gewand seiner eigenen Zeit und seiner Orte gekleidet sind und meist ausschließlich in den Vereinigten Staaten spielen, geht es in seinen Geschichten um Fragen, die weit über das Hier und Jetzt hinausgehen. Was bedeutet es, lebendig zu sein? Wie können wir Menschen mit Scheuklappen einen Weg nach vorne finden, wenn wir durch unsere eigenen Wahrnehmungsgrenzen gefangen sind? Was ist eine moralische Handlung? Und immer wieder: Wie geht es weiter nach dem schrecklichen Verlust eines geliebten Menschen? Das ist eine ausgezeichnete Frage. Wie machen wir das?

Mein Mann besaß keinen Computer. Er schrieb mit der Hand, und seine Manuskripte tippte er auf einer 'Olympia'-Schreibmaschine. In den letzten Tagen seines Lebens schrieb er Briefe an unseren Enkel Miles. Seine winzige Handschrift zitterte aufgrund eines behandlungsbedingten Tremors, aber er kritzelte diese Briefe, bis er keine Kraft mehr hatte. Unsere Assistentin und liebe Freundin Jen Dougherty entzifferte die Texte, nachdem ich sie abfotografiert hatte, und tippte sie für ihn ab. Er wollte, dass es sein letztes Buch wird. In einem Anflug von Entschlossenheit gelang es ihm, einen Brief zu beenden und seinen Text abzuschließen, aber das Manuskript ist nicht lang. Mit diesem Brief endete sein schreibendes Leben.

Ich habe laut gelacht über das in den Medien dieses Landes und manchmal auch in denen des Vereinigten Königreichs verbreitete Klischee von Paul Auster, dem kühlen, klugen, 'postmodernen', 'intellektuellen' Schriftsteller. Diese fabrizierte Karikatur ist sowohl der Person als auch dem Werk, das ich seit dreiundvierzig Jahren sehr gut kenne, so fremd, und war, offen gesagt, so verwirrend für ihn, dass er einfach nicht verstehen konnte, worum es ging.

Als seine Zeugin, Freundin, Geliebte, Schriftstellerkollegin und erste Leserin (so wie er meiner war) kann ich nur sagen, dass er aus den Tiefen des Gefühls heraus schrieb, aus den Traumräumen, in denen große Bücher geboren werden, sich entwickeln und enden. Es sind nicht die Räume der vorgeschriebenen Konventionen, der Romane und Memoiren, die aus den Fakultäten für kreatives Schreiben an den US-Universitäten herauspurzeln, glatte Werke aus polierter Prosa, die zu den literarischen Äquivalenten von Algorithmen geworden sind, die Daten 'normalisieren', indem sie 'Ausreißer' beseitigen, absurde Produkte der 'Nachvollziehbarkeit'. Was um Himmels willen bedeutet dieses Wort? 'Nachvollziehbar' durch wen? Eine Beziehung setzt mindestens zwei bestimmte Personen voraus. Ist die Medienkultur darauf reduziert worden, die enorme Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten und ihrer Geschichten als einen einzigen Klecks zu betrachten? Ist es nicht ein Akt schrecklicher Arroganz, ein Kunstwerk als nachvollziehbar oder nicht nachvollziehbar zu bezeichnen?

Vielleicht ist es auch naiv von mir, Freundlichkeit, Respekt und Liebe in einer Welt aggressiver, luftleerer Kategorien zu fordern, in die so viele von uns eingeteilt werden, Paul eingeschlossen. Die Brutalität dieser Kategorien lässt die dynamische Wirklichkeit zu statischen Dingen schrumpfen. Sie ersetzen die Demut des Nichtwissens durch hässliche Gewissheit. Es ist verwirrend, wenn ich mich umschaue und feststelle, dass unzählige Personen, die Paul mehr oder weniger, oft weniger, gekannt haben, jetzt über den Mann, den ich geliebt habe, dozieren. Nun, das soll so sein. Ich habe keine Kontrolle darüber.

Paul war in erster Linie ein Geschichtenerzähler. Er schrieb viele Geschichten, sowohl fiktive als auch wahre, aber er liebte es auch, sie zu erzählen, und ich habe mich manchmal amüsiert, als wir in den letzten zwei Jahren in einer Arztpraxis nach der anderen zusammensaßen, und ich beobachtete, wie er in den Erzählmodus verfiel, zurückging, um die Bühne zu bereiten, und dann mit der faszinierenden Geschichte seiner eigenen Krankheit fortfuhr. Ich hingegen ratterte prägnante Fragen über biologische Vorgänge herunter, die der Klärung bedurften. Oft hatten die Ärzte, wie ich erwartet hatte, keine Antworten."

Paul Auster starb am 30. April 2024 um 18.58 Uhr im Alter von 77 Jahren in seinem Heim in Brooklyn, New York, im Kreis seiner Familie.