Forscher Martin Hetzer

"Scheitern ist in der Wissenschaft kein Versagen"

Martin Hetzer, Molekularbiologe und Präsident des ISTA in Klosterneuburg, über Geistesblitze, falsche Ratschläge und was uns die Amerikaner voraus haben.

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Wissenschaft schafft Wissen. Ist doch klar. Und Wissen hilft, Probleme zu lösen. So einfach ist das. Sobald wir also über alles nötige Wissen verfügen, haben wir alle Antworten und keine Probleme mehr. Toll!

Leider greift dieses schöne Bild von der Wissenschaft viel zu kurz. Denn die Wissenschaft ist kein Kreuzworträtsel, mit dem man fertig ist, sobald alle Felder richtig ausgefüllt wurden.

Es ist nie zu Ende Als Forscherin oder Forscher ist man nie "fertig" mit der Arbeit. Unser Wissen bleibt immer unvollständig, es ist quasi ein Kind der Vergangenheit. Als Menschen streben wir natürlich nach Sicherheit, aber das Wissen bleibt flüchtig und kann nie zur Gewissheit werden. Vor allem nicht in einer sich wandelnden Welt. Das verunsichert manche. Sollte es aber nicht. Denn es ist ja genau die Wissenschaft, die stets neues Wissen erzeugt. Wissen das wir brauchen, damit wir uns auf die Zukunft vorbereiten können. Wir müssen also am Ball bleiben. Dabei hilft uns die junge Kraft des wissenschaftlichen Forschens.

Der Molekularbiologe Martin Hetzer ist seit 1. Jänner 2023 Präsident  des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg
Der Molekularbiologe Martin Hetzer ist seit 1. Jänner 2023 Präsident des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg
Helmut Graf

Beispiel Handy Obwohl Wissen als Ergebnis dieses Forschens stets vorläufig sein muss, ist es nicht nur ein Nebenprodukt der Wissenschaft. Es ist viel mehr: Voraussetzung für praktische Anwendungen, die im Idealfall Vielen zugutekommen. Nehmen wir als Beispiel Handys. Sie sind für uns alle zur Selbstverständlichkeit geworden. Dabei werden sie jedes Jahr leistungsfähiger und lassen sogar Hochleistungsrechner von früher richtig alt aussehen. Dieser Fortschritt wird erst durch jahrelange Grundlagenforschung in vielen verschiedenen Feldern möglich: Halbleiter-Technologie, Materialwissenschaften, Softwareentwicklung oder Kommunikation.

Hören Sie mit Physik auf! Außerdem liefert Wissen ständig neues Futter für die Wissenschaft: Denn Antworten auf Forschungsfragen eröffnen oft weitere, wichtige Fragen. So entstehen neue Rätsel, deren Spielregeln uns noch gänzlich unbekannt sind. Dazu ein Beispiel aus der Geschichte: Im Jahr 1878 kam ein 20-jähriger Student zu Professor Philipp von Jolly, einem Physiker und Mathematiker an der Universität München. Der Professor riet dem Studenten ab, die Physik weiterzuverfolgen. In der Physik, so der Professor, sei im Wesentlichen schon alles erforscht, das Wissen nahezu vollständig, es seien nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen.

Das zeitweilige "Verirren" ist also ganz wesentlicher Teil jeder Entdeckung
Martin Hetzer

Planck machte weiter Zum Glück ließ sich der wissbegierige Student nicht abhalten. Sein Name war Max Planck. Er wurde kurz darauf zu einem Begründer der Quantentheorie und später Zeuge der Theorien Albert Einsteins. Quantenphysik und Relativitätstheorie waren 1878 also ungeheuerliche Welten, die selbst bekannte Professoren in München nicht erahnten. Mehr noch: Diese Gelehrten waren sich ihres Unwissens gar nicht bewusst. Philipp von Jolly hat damals die Physik als ein nahezu fertig ausgefülltes Kreuzworträtsel gesehen. Und lag damit weit daneben.

Grenzgängerin Die Wissenschaft eignet sich nicht als Hüterin von Stabilität und Ordnung. Wie die Kunst ist sie ein Akt der Kreativität – eine unverbesserliche Rebellin und Unruhestifterin. Sie hält sich nicht an künstliche Grenzen, Disziplinen oder Fächer, wie wir sie aus der Schule kennen. Sie ist Grenzgängerin. Sie überschreitet Barrieren. Sie hinterlässt eigene Spuren. Sie legt Pfade, auf denen vorher noch niemand gegangen ist.

Geistesblitze lassen sich nicht planen Oft werden die Pfade, die zu bahnbrechenden Entdeckungen führen, als logische Abfolge von Schritten beschrieben: sorgfältig einen nach dem anderen gesetzt. Auch das ist allerdings ein falsches Bild. Denn der Weg ist erst rückblickend als solcher erkennbar. Viel zutreffender ist das Bild des dichten Waldes, den man vor lauter Bäumen nicht sieht und in dem der Weg erst gefunden werden muss. Dazu gehört, dass wir Forscherinnen und Forscher auch in die "falsche" Richtung gehen, eben nicht zielgenau auf ein Forschungsergebnis hin. Denn der nächste Heureka-Moment liegt meistens nicht vor uns auf gerader Strecke, sondern versteckt sich hinter einer unerwarteten Abzweigung. Das zeitweilige "Verirren" ist also ganz wesentlicher Teil jeder Entdeckung.

Das "Institute of Science and Technology" (ISTA in Klosterneuburg bei Wien
Das "Institute of Science and Technology" (ISTA in Klosterneuburg bei Wien
ISTA

Das irrige Bild des geraden Weges zum Erfolg führt leider dazu, dass Grundlagenforschung von einigen missverstanden wird. Der Vorwurf: zu teuer, zu ungewiss, zu langsam. "Wieso könnt ihr nicht schneller forschen?", schallt es uns dann entgegen. Aber Geistesblitze lassen sich nicht planen.

Eingesperrt verkommt Wissenschaft Wirkliche Kreativität entsteht erst dann, wenn ihr weder Weg noch Richtung vorgegeben wird. Kreativität hat keinen Fahrplan, der beschleunigt werden könnte. Verlangsamen, ja gar verhindern kann man sie jedoch sehr wohl: Ohne ausreichende Förderung, ohne Freiheit, ohne Vertrauen und ohne geeignete Orte kann Kreativität nicht gedeihen. Eingesperrt in Disziplinen, eingezwängt in übermäßiger Regulierung und durch fehlende Mittel verkümmert sie.

Warum ich zurückkam Das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) gehört zu jenen Orten, an denen sich das kreative Forschen entfalten kann, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Entdeckungsreise ins Unbekannte gehen, mutig und in der Gewissheit, auch falsch abbiegen zu dürfen. Ohne unnötigen Zeitdruck. Über Fachgrenzen hinweg. Der Grund für mich, nach fast 20 Jahren als Wissenschaftler in Kalifornien nach Österreich zurückzukehren, war genau dieser einzigartige Forschungsraum, den das ISTA bietet: Es gibt keinen gesetzten Kanon und keine künstlich hochgehaltenen Fachgrenzen. Vergleichbare wissenschaftliche Einrichtungen in den USA tun sich hier oft schwerer, auch weil sie deutlich älter als das ISTA sind.

Gehe nicht dorthin, wo der Weg dich hinführen könnte, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur
Philosoph Ralph Waldo Emerson

Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit Gerade die großen Themen unserer Zeit erfordern ein Forschen ohne Scheuklappen: Denken wir an Lösungen für moderne, nachhaltige Energiequellen oder die Heilung von Krankheiten wie Alzheimer. In meiner eigenen Forschung beschäftige ich mich mit Fragen des Alterns. Mich hat die Frage, warum und wie wir altern, schon immer fasziniert. Vor 20 Jahren hatten wir gar keine richtige Vorstellung darüber, was in unseren Körpern vorgeht, wenn wir altern. Wir dachten, Altern sei eine Art unkontrollierbarer Abnützungsprozess. Heute wissen wir, dass Altern der Hauptrisikofaktor für viele Krankheiten ist, wie etwa für Alzheimer. Unsere Studien zeigen, dass nicht nur Prozesse direkt im Gehirn selbst entscheidend sind. Es sind Veränderungen der Blutgefäße außerhalb des Gehirns, die auch eine Rolle spielen können. Dieses neue Wissen könnte zu neuen Therapieansätzen führen. Der Weg dorthin ist sicherlich noch weit – und er wird immer wieder mit Scheitern verbunden sein. Das sollte uns allerdings keine Angst, sondern eher Mut machen.

Scheitern ist kein Versagen In dieser Hinsicht können wir diesseits des Atlantiks immer noch Einiges von Amerika lernen. In Kalifornien besitzen die Menschen eine unerschütterliche Offenheit für Neues und das Bewusstsein, dass Scheitern ein essenzieller Teil eines jeden kreativen Prozesses ist. Es wird nicht als "Versagen" gesehen, sondern als Gelegenheit, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Das hat mich beeindruckt und geprägt.

Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts: "Gehe nicht dorthin, wo der Weg dich hinführen könnte, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur." Wenn wir uns hiervon leiten lassen, dann wird die Grundlagenforschung noch Entdeckungen hervorbringen, die uns nicht nur verblüffen, sondern von denen wir heute noch gar keine Vorstellung haben.

Seit 2023 leitet der Molekularbiologe Martin Hetzer das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg. Für die Position als Präsident des weltweit renommierten Grundlagenforschungsinstituts kehrte der gebürtige Wiener nach rund zwei Jahrzehnten in den USA nach Österreich zurück. Zuvor war er zuletzt Vizepräsident des Salk Institute of Biological Studies in Kalifornien. Hetzer ist ein großer Verfechter von neugier-getriebener und interdisziplinärer Wissenschaft. Schwerpunkt seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit am ISTA ist die Altersforschung.

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