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Der rettende Engel, der vom Himmel fiel

Heinrich Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger: Ein neues Buch schildert, wie Europas Kultur-Elite 1940 vor den Nazis flüchtete. Packend!

Netflix verfilmte den historischen Stoff als Serie unter dem Titel "Transatlantic". Cory Michael Smith (Zweiter von rechts) spielte Varian Fry
Netflix verfilmte den historischen Stoff als Serie unter dem Titel "Transatlantic". Cory Michael Smith (Zweiter von rechts) spielte Varian Fry
Netflix
Christian Nusser
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Kann ein Buch mehr Film sein als ein Film? Die Frage drängt sich auf. Im Vorjahr hatte sich Netflix an einen bemerkenswerten historischen Stoff herangewagt. "Transatlantic" erzählte in sieben Teilen die Flucht von Hunderten Schriftstellern, Schauspielern Künstlern, Intellektuellen – die meisten davon Juden – vor den Nazis in die USA. Nun zeichnet ein Buch die Ereignisse nach und wirft deutlich stärkere Bilder an die Wand, als es der Streamingdienst geschafft hatte.

17 Monate Geschichte "Marseille 1940" ist ein beeindruckend detailreiches Werk, verfasst von Uwe Wittstock, früher Journalist etwa bei "Welt" und "FAZ", dann Autor des historischen Bestsellers "Februar 33". Er hat tief gegraben, Tagebücher, Biographien, Interviews ausgewertet und aus den unzähligen Handlungsfäden ein 351 Seiten dichtes Netzwerk geflochten, jedes einzelne Stück davon lesenswert. Um sich nicht in den vielen Biographien und Schicksalen zu verlieren, schildert Wittstock die Ereignisse als eine Art Tagebuch, es reicht von Mai 1940 bis Oktober 1941.

Eine Armee unter Drogen In dieser Zeit überrennen die Soldaten von Nazi-Deutschland Europa, aufgeputscht durch das Rauschmittel "Pervitin", ein Methamphetamin, hergestellt in einer Berliner Fabrik, auch "Panzerschokolade" genannt. Das Mittel mit schweren Nebenwirkungen unterdrückt das Schmerzempfinden, vor allem aber hält es dauerhaft wach, auch drei Tage lang. Es verschafft der deutschen Armee relevante Vorteile bei der brutalen Eroberung fremder Länder.

Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel sitzt zusammen mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel auf einer Couch
Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel sitzt zusammen mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel auf einer Couch
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Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger ("Jud Süß") in einem Flugzeug nach der erfolgreichen Flucht nach New York
Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger ("Jud Süß") in einem Flugzeug nach der erfolgreichen Flucht nach New York
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Von Franzosen eingesperrt Im Juni 1940 kapituliert Frankreich, die Gestapo beginnt ihre mörderische Jagd auf alle, die ihrer Ideologie im Weg stehen, vor allem auf jüdische Intellektuelle, es gibt eigene Namenslisten. Für die Kultur-Elite des Kontinents beginnt die Flucht nach der Flucht. Die Künstlerschaft war nach Frankreich gekommen, weil sich hier alle Sicherheit erhofft hatten, es war ein trügerischer Glaube. Der Albtraum begann, noch ehe die Nazis mit dem Überfall auf das Land begonnen hatten.

Nazi-Opfer werden zu Nazis Es ist der 14. Mai 1940. Übers Radio lässt die französische Regierung bekanntmachen, dass sich alle in Paris und Umgebung lebenden Deutschen und Österreicher im Alter zwischen 17 und 75 Jahren sowie alle Staatenlosen an Sammelpunkten einzufinden haben, um in Internierungslager gebracht zu werden. Sie stehen kollektiv unter Verdacht, mit den Nazis zusammenzuarbeiten und Anschläge zu planen. Solche Lager gab es bereits in den Monaten davor, nun aber werden alle Betroffenen erfasst. Grotesk: Die meisten waren vor den Nazis geflohen, um nun als Nazis in Lager gebracht zu werden. 219 dieser Internierungslager gab es während des Krieges.

10 Millionen auf der Flucht Aber die Lager waren nur die Vorhölle. Als die Nazis damit beginnen, Frankreich zu überrennen, setzt eine beispiellose Fluchtbewegung ein. Nordfrankreich fällt Deutschland rasch in die Hände, der Süden bekommt eine eigene Regierung, die von Vichy aus mit den Nazis kollaboriert. Zehn Millionen Menschen machen sich auf den Weg in Küstenorte oder an die spanische Grenze, um eine Möglichkeit zu finden, so in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Viele scheitern, sterben, landen in Lagern, einige sehen ihren einzigen Ausweg im Selbstmord.

Im Auftrag des "Emergency Rescue Committee" hilft der Amerikaner Varian Fry (mit Brille) über tausend Künstlern und Wissenschaftlern bei der Flucht vor den Nazis
Im Auftrag des "Emergency Rescue Committee" hilft der Amerikaner Varian Fry (mit Brille) über tausend Künstlern und Wissenschaftlern bei der Flucht vor den Nazis
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Der Philosophin Hannah Arendt gelang über Frankreich die Flucht in die USA (Aufnahme aus 1944)
Der Philosophin Hannah Arendt gelang über Frankreich die Flucht in die USA (Aufnahme aus 1944)
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Rettung von 2.000 Viele der bekanntesten Namen dieser Zeit sind unter den Flüchtenden. Heinrich Mann ("Professor Unrat"), Bruder von Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann ("Der Zauberberg"), dessen Sohn Golo Mann, Lion Feuchtwanger ("Jud Süß"), Franz Werfel ("Jakobowsky und der Oberst"), seine Frau Alma Mahler-Werfel, die legendäre Philosophin Hannah Arendt, Wiens spitzeste Feder Alfred Polgar, Walter Mehring, Anna Seghers ("Das siebte Kreuz"), die Künstler Marc Chagall und Max Ernst. Rund 2.000 sollten am Ende gerettet werden, und das war das Verdienst vorrangig eines Mannes: Varian Fry.

First Lady hilft mit, der Präsident nicht Das erinnert fast ein bisschen an "Schindlers Liste". Die USA sollten erst am 7. Dezember 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintreten. 1940 ist die Kriegslust noch gering, geringer jedenfalls als die Angst, dass sich unter den Fluchtwilligen aus Europa viele Kommunisten befinden würden. Im Weißen Haus residiert Franklin D. Roosevelt. Der Demokrat steht unter dem Druck Liberaler und jüdischer Organisationen, stemmt sich aber gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen. Seiner Ehefrau Eleanor kommt in diesen Tagen eine entscheidende Rolle zu. Die First Lady bereitet das Feld für die Gründung des Emergency Rescue Comitee (ERC) auf.

3.000 Dollar am Körper Gründungsvater ist Varian Fry, zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt, erfolgreicher Journalist, Harvard-Absolvent, ein Querkopf. Gemeinsam mit Gleichgesinnten beginnt er, Geld für sein Hilfs-Komitee einzusammeln. Als sich niemand findet, reist er selbst nach Marseille, um von dort die Flucht von Europas Kultur-Elite in die USA zu organisieren. 3.000 Dollar und eine Liste mit 200 Personen, die zu retten sind, hat er sich auf den Körper geschnallt.

Unter Lebensgefahr In Marseille errichtet er ein Büro, baut ein Team auf, organisiert Fluchtrouten übers Wasser, über die Grenze nach Spanien, lässt Pässe und Dokumente fälschen, alles unter Lebensgefahr. In seinen Notizen beschreibt er, wie ihn die Menschen vor Ort sehen: Ein Amerikaner, der aus New York angekommen sei, wie ein Engel vom Himmel gefallen, die Taschen voller Geld und Pässe.

Journalist und Sachbuch-Autor Uwe Wittstock schrieb das Buch "Marseille 1940" über von den Nazis gejagte Künstler
Journalist und Sachbuch-Autor Uwe Wittstock schrieb das Buch "Marseille 1940" über von den Nazis gejagte Künstler
Uwe Wittstock

US-Konsul als Gegenspieler Drei Wochen wollte Fry bleiben, am Ende werden es 13 Monate. Er wird interniert, dann ausgewiesen, legt sich mit jedem an, der ihm im Weg steht, auch mit dem eigenen Konsulat. Vielleicht ist das der Grund, warum es länger dauerte, ehe ihm zumindest etwas der ihm gebührenden Ehre zuteil wurde. Einen Oskar Schindler machte Hollywood aus ihm nie.

Kein Sitzplatz im Waggon Das Buch lebt von der präzisen Beschreibung – wenn eine Blume im Garten gezupft wird, dann bleibt sie nicht ohne Namen. "Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden", schreibt Autor Uwe Wittstock im Vorwort. Es prägen sich viele Bilder ein. Sie zeigen verzweifelte Menschen, die – stehend in Bahnwaggons, zu Fuß über hunderte Kilometer oder von Wohlmeinenden als Anhalter mitgenommen – nach Marseille gelangen. Die Stadt wirkt wie ein Trichter. Innerhalb von drei Monaten wächst die Zahl der Einwohner um eine halbe Million Menschen auf 1,4 Millionen an.

Zwölf verschwundene Koffer mit Kunstschätzen Es gibt viele Geschichten in den Fluchtgeschichten. Auf der Zugfahrt nach Bordeaux etwa verlieren Franz Werfel und Anna Mahler-Werfel ihr gesamtes Gepäck, zwölf Koffer mit teils unschätzbarem Inhalt, etwa Originalpartituren von Gustav Mahler und Anton Bruckner. Mit deren Verkauf wollte sich das Paar den Start in ein neues Leben in den USA ermöglichen. Monate später tauchen alle Koffer wieder auf, der Direktor eines Hotels hatte sich, von Alma Mahler-Werfel becirct, der Sache angenommen. Werfel schrieb die Angelegenheit eher seinem Bemühen zu – er hatte die heilige Bernadette in Lourdes um ein Wunder gebeten.

Kein Dank Was weniger wundert: Dankbarkeit bekam Varian Fry nie. Am wenigsten erhielt er sie von den Menschen, die er gerettet hatte – viele suchten nach ihrer Flucht nicht einmal den Kontakt zu ihm.

Uwe Wittstock, "Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur". C.H. Beck, München 2024, 351 Seiten. 27,50 Euro

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