Volkskrankheit Demenz
Das Leiden des Teamchefs: Einblick in eine vergessende Welt
Zum Tod von Didi Constantini: Bis zu 150.000 Menschen in Österreich leiden an einer dementiellen Erkrankung. Die Zahl wird in den nächsten Jahren dramatisch ansteigen. Das Buch "Der Bademeister ohne Himmel" macht das Thema zum Thema.
Er wurde nur 69 Jahre alt. Didi Constanini war mit Innsbruck Meister, dreimal Teamchef der österreichischen Fußball-Nationalmannschaft. 2019 machte seine Familie öffentlich, dass der Tiroler an Demenz erkrankt sei. Seine Tochter Johanna, klinische Psychologin von Beruf, schrieb zwei einfühlsame Bücher über ihren Vater, Abseits und Abseits 2.
Sie wollte das Thema entabuisieren, zeigen, wie die Krankheit wirklich ist und wie sie den Alltag der Angehörigen mitnimmt. In der Nacht auf Mittwoch schlief Constantini für immer ein.
Das Buch „Der Bademeister ohne Himmel" beschäftigt sich mit dem Thema Demenz. Petra Pellini hat es geschrieben, sie ist Autorin und betreut als Krankenpflegerin Demenzkranke.
Im Buch geht es um die 15-jährige Linda. Sie ist lebensüberdrüssig*. Das liegt nicht nur an pubertären Hormon - und Stimmungsschwankungen. Hinter Linda liegen neun Jahre mit einem gewalttätigen Vater und einem Rosenkrieg bei der Scheidung ihrer Eltern.
An drei Nachmittagen in der Woche betreut sie Hubert, den 86-jährigen demenzkranken Nachbarn. Zu Beginn nur ein paar Stunden pro Woche, dann bleibt sie immer öfter bei ihm und seiner 24-Stundenpflegerin Ewa.
Demenz ist auch in Österreich im Vormarsch. Für die Angehörigen stellt sich die Frage: wie damit umgehen? Mit ihrem Roman gibt Petra Pellini viele gute Beispiele und Ratschläge. Das Buch zählt zu den fünf beliebtesten des Jahres. Angela Szivatz hat es gelesen. Das müssen Sie darüber wissen:
Wer ist die Autorin?
Petra Pellini wurde in 1970 in Vorarlberg geboren. Sie absolvierte eine Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin in Innsbruck. Nach längeren Auslandsaufenthalten auf Zypern und Korsika lebt sie heute mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Bregenz. Über die Jahre hinweg hat sie, mit kurzen Pausen, immer geschrieben.
Warum kennt sie sich im Thema aus?
Seit einigen Jahren arbeitet Pellini in einer Wohngruppe mit dem Schwerpunkt Demenz.
Wie kommt das Buch an?
Exzellent. Für einen Auszug aus ihrem Roman "Der Bademeister ohne Himmel" wurde die Autorin 2021 mit dem Vorarlberger Literaturpreis ausgezeichnet. Die Unabhängigen Buchhändler Deutschlands haben "Der Bademeister ohne Himmel" auf die Liste ihrer fünf beliebtesten Bücher gesetzt.
Wer ist die Hauptfigur des Buches?
Linda erzählt aus der Ich-Perspektive mit klarem, kritischem Blick. Sie verfügt über eine sehr gute Beobachtungsgabe und eine humorvoll-trockene Sprache. Wenn sie sich in Hubert einfühlt, wird ihre Stimme manchmal sogar poetisch. Liebevoll ist sie ihm gegenüber immer.
Anders als die meisten Erwachsenen in ihrer Umgebung schaltet sie nicht auf Kampf mit Huberts schrägen Vorstellungen oder Wünschen. Auf ihre eigene Zukunft hat sie keine Lust, dafür umso mehr Interesse an Huberts Vergangenheit. "Gäbe es eine Leistungsbeurteilung für Demenz, wäre Hubert Klassenbester."
Wie ist das mit Hubert?
Der 86-jährige Hubert war 42 Jahre lang Bademeister im Bregenzer Strandbad am See. Seit einiger Zeit leidet er an Demenz. Er hält sich meist für 50 und seine tote Mutter für 75. Er hat vergessen, dass seine geliebte Frau vor einigen Jahren verstorben ist. Er toastet Karotten und lebt mehr und mehr in der Vergangenheit.
Sein Zustand hat sich so verschlechtert, dass seine Tochter eine 24-Stundenpflege engagiert hat. Die Tochter, von Linda heimlich "der Nachtfalter" genannt, hat weder Zeit noch Kraft, ihren kranken Vater zu betreuen.
Warum ist Ewa eine besondere Seele?
Die streng katholische Polin mit ihrem warmen Herz, mit großem Wissen über Heilpflanzen und einer Begabung, köstliche Kuchen und Kekse zu backen, sorgt sehr gut für Hubert. Auch, wenn sie manchmal überfordert ist.
Ewa ist seelennährend für Linda und Hubert und eine köstliche Quelle des Humors in diesem Buch. Für alles weiß und mischt sie eine Salbe, sammelt und trocknet Kräuter für Tee und Umschläge, bekocht Hubert und sorgt auch auf vielen Ebenen für Linda. "Für Schule. Kann helfen", sagt sie einmal und drückt Linda einen Rosenkranz in die Hand, und "Beten macht Stress klein."
Und Lindas Freund Kevin?
Er ist ein hochbegabter Jugendlicher, etwas älter als Linda. Die beiden kennen einander schon seit der Volksschule. Damals musste sie ihn immer mit auf den Weg nehmen, damit er dort auch landete.
"Welcher 7-jährige beschäftigt sich mit Politik?", fragt seine Mutter Sarah einmal ratlos. Mit den Jahren öffnet er sich Linda, sie darf als einzige in seinem Zimmer lüften, sie treffen einander, so oft es geht. Er liest alles, weiß alles und verzweifelt an der Klimakrise und am Zustand der Welt insgesamt.
Wie entwickelt sich die Geschichte?
Linda teilt mit den Lesern ihre immer wiederkehrenden Gedanken und Fantasien zum Thema Suizid. Dass man vor dem Sterben Angst hat, versteht Linda nicht, vor dem Leben schon: "Ständig muss man irgendwas…..Man selbst ist nie genug."
Mit Kevin ist sie sich einig: Alles zwischen Geburt und Tod ist beängstigend. Nie hat man Frieden. Ihre Selbsttötungsabsichten teilt Linda nicht mit Kevin. Stattdessen möchte sie vorher noch einmalige Erlebnisse mit ihm teilen. So verbringen sie eine Nacht in einer Kirche. Das stellt sich jedoch als eher öd und unspektakulär heraus.
Warum ist Linda nicht gern zu Hause?
Sie versteht sich nicht mehr mit Mama. Zu Hause gibt es auch keinen Frieden mehr, seit Mama den Bestatter Jürgen zum Freund hat. Dabei hatten sie es doch sechs Jahre lang ohne Mann im Haus ganz gut. Weil Jürgen sie mit ständigem Sportschauen nervt, versteckt Linda die Fernbedienung. Der Mann ist nichts für Mama. Linda wünscht ihr einen tollen Mann, mit Geld und Haus und Söhnen, die nur jedes zweite Wochenende kommen.
Was macht das Buch so beklemmend authentisch?
Huberts Demenz. Sie nimmt zu und zeigt typische Merkmale. Er lebt immer mehr in der Vergangenheit, fragt immer öfter nach seiner Frau, wird nervös und fahrig, weil sie nicht da ist, wähnt sich plötzlich wieder in der eigenen Kindheit und wartet auf seine Eltern.
Oder er möchte nach Hause, dabei ist er ja genau da, schon seit über 40 Jahren. Stolpert über Teppiche und Türschwellen, über die er mindestens 30.000-mal problemlos gegangen ist. Man leidet mit ihm mit, mit jeder sprunghaften Änderung, mit jedem Mäander, den sein Gehirn nimmt.
Was kann Betreuung da leisten?
An der Figur der Linda zeigt die Autorin Petra Pellini sehr gut, was hilfreich sein kann. Linda entwickelt einfühlsam Fragen, Gespräche und Spiele, die Hubert aus seiner verzweifelten Suche herausholen und wieder beruhigen.
Besonders gut gelingt ihr das, wenn sie ihn an seinen früheren Beruf erinnert. In seiner über 40-jährigen Laufbahn als Bademeister ist nie ein Kind ertrunken. Darauf ist er besonders stolz und daran erinnert Linda ihn immer wieder. Holt die alten Schwimmflügel aus dem Keller, lässt ihn elf Paar davon aufblasen und dann imaginären Kinder Schwimmtraining geben.
Ganz besonders schön ist die Idee, mit einem Freund von Kevin ein Soundfeature für den dementen Mann zu machen mit Originalgeräuschen aus dem Schwimmbad. Hubert blüht auf, zumindest für einige Stunden.
Und wie geht es Linda?
Auf dem Weg zum Zahnarzt läuft sie unabsichtlich in ein Auto. Als sie im Krankenhaus aufwacht, möchte sie nicht mehr sterben. Sie möchte bei ihrer Mama bleiben, für Hubert und Kevin da sein, und ist bereit, sich auch mit Jürgen abzufinden, wenn es denn sein muss. Empathie spüren und Verantwortung übernehmen, das kann Leben retten, auch das eigene. Dies ist eine der wichtigen und gleichzeitig schönsten Erkenntnisse, die Linda erlebt.
Kevin besucht sie, vereinbart nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus ein Treffen am See, einen Moment lang wähnt man aufkeimende Teenagerliebe, doch er wehrt ihre zärtliche Geste ab. Ein paar Tage später ist Kevin tot, von einem Felsen gesprungen. Linda erkennt, dass sie all die Erlebnisse für sich, nicht für ihn gesammelt hat.
Womit berührt das Buch?
Am Ende helfen Hubert auch keine Schwimmflügel mehr. Sein Geist driftet weg, er hört auf zu essen und zu trinken. Linda, Ewa und der Nachtfalter begleiten Hubert bis zum Tod. Nur beim Sterben selbst möchte Linda nicht dabei sein. Doch danach weiß sie ganz genau, dass Hubert und Kevin immer bei ihr sind, beide gleichzeitig. Und dass sie dableiben will und muss, für ihre Mama und Kevins Mutter, für Kevin und Hubert.
Wie vermittelt die Autorin Demenz?
Man spürt bei der Lektüre, dass Autorin Petra Pellini sehr viel Erfahrung aus der Arbeit mit demenzkranken Menschen einbringt. Darüber berichtet sie auch in Interviews. "Ich brauchte nicht viel zu recherchieren, da ich erlebt habe, was es bedeutet, wenn Betroffene sich selbst verlieren, Angehörige Unterstützung brauchen und Pflegende überfordert sind. Das alles hat das Schreiben über Demenz bestimmt erleichtert." Pellini nimmt dem Thema mit Humor und Leichtigkeit die Schwere!
Wieso ist das Buch empfehlenswert und wichtig?
Zwischen 130.000 bis 150.000 Menschen in Österreich leiden aktuell an einer dementiellen Erkrankung. Experten gehen davon aus, dass bis 2050 diese Zahl auf etwa 230.000 angestiegen sein wird. Es wird also für viele wichtiger, sich damit zu beschäftigen.
Der Bademeister ohne Himmel ist ein sehr berührender und bestärkender Roman zum Thema, ohne Kitsch oder Rührseligkeit, das den Leser ganz oft zum Lachen bringt und jede Menge Anregungen gibt, wie man dieser Krankheit besser und kreativer begegnen kann.
* Selbstmordgedanken? Bei der Telefonseelsorge Österreich finden Sie Hilfe. Unter dem Notruf 142 ist rund um die Uhr jemand für sie da.
Petra Pellini: "Der Bademeister ohne Himmel", Petra Bellini, gebunden, 320 Seiten, Juli 2024 Rowohlt Kindler Verlag, € 24,50, auch als Hörbuch erhältlich.
Angela Szivatz ist Autorin ("Betrug und Liebe - die wahren Fälle einer Detektivin") Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Angela Szivatz lebt in Wien