Schul-Experte Niki Glattauer

"Kriminelle Jugendliche: Das Strafrecht löst nichts"

528 polizeiliche Anzeigen gab es im vergangenen Schuljahr an Wiens Volks- und Hauptschulen. In Österreichs Kriminalstatistik sind Ausländer deutlich überpräsentiert. Versuch einer Aufarbeitung.

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Es wird nicht gern ausgesprochen: Menschen mit Migrationshinter- oder vordergrund werden In Österreich öfter kriminell als Alteingesessene, deutlich öfter. Zwar entfallen immer noch knapp 60 Prozent der in der Statistik angezeigten Gewalttaten auf "Hiesige", aber bereits fast 43 Prozent auf Ausländer, obwohl deren Anteil an der Gesamtbevölkerung bei nur 19,7 Prozent liegt. Und weil dieser Unterscheidung nur die Staatsbürgerschaft als Kriterium zugrunde liegt, sind straffällig gewordene Zuwanderer, die schon den österreichischen Pass haben, in diesen Zahlen gar nicht extra ausgewiesen.

Kriminelle Melange - Wien und Ausländer Bei Femiziden das gleiche Bild. Auch hier weist eine Studie (des "Instituts für Konfliktforschung“) doppelt so viele ausländische Täter aus, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Besonders stark ist das Missverhältnis aber unter Kindern in der Schule und Jugendlichen: Acht von zehn Delikten, die österreichweit in Schulen zur Anzeige kommen, werden in Wien begangen und davon 90 Prozent von Zuwandererkindern. Das erzählt mir immerhin eine Mitarbeiterin der Wiener Bildungsdirektion und spricht dabei von einem „offenen Geheimnis".

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

528 polizeiliche Anzeigen (nicht bloß Suspendierungen) gab es im vergangenen Schuljahr an Wiens Volks- und Hauptschulen, eine Vervierfachung gegenüber dem Jahr davor. Die mir gut bekannte Direktorin einer Wiener Mittelschule sagt: "Ich habe in den letzten paar Jahren bestimmt 50 mal die Polizei im Haus gehabt – Cyber-Mobbing, Drohungen analog und digital, Verschicken von pornographischen Bildern und Videos, aber auch Schlägereien, Messerstechereien, Erpressung - alles Fälle, die zu polizeilichen Anzeigen geführt haben. Der Anteil meiner Schüler mit Migrationshintergrund liegt bei gefühlt 100 Prozent. Du kannst dir vorstellen, was ich mir denke, wenn mir jemand da oben sagt, dass die Jugendkriminalität kein Migrationsproblem ist."

Ich habe bestimmt 50 Mal die Polizei im Haus gehabt
Direktorin einer Wiener Mittelschule

Verbrecher-Gen? Tragen Zuwanderer also das kriminelle Gen in sich? Neigen jene, "die zu uns kommen", besonders zu Gewalt?, wie man uns rechts weiszumachen versucht? Natürlich nicht. So konterproduktiv nämlich das gut gemeinte Kleinreden der "zugewanderten" Kriminalität ist, so wenig hilfreich ist auch das (schon weniger gut gemeinte) Aufbauschen. Mehr gerecht wird man dem Problem der Jugendgewalt im Allgemeinen und der migrantisch importierten im Besonderen, wenn man den Scheinwerfer auf Umstände und Hintergründe richtet. Schon was die Zahlen per se angeht.

Zahlen klären auf Tut man das nämlich, relativiert sich das Bild bereits. So ist zwar die Zahl aller tatverdächtigen Jugendlichen im Alter zwischen 14 bis 18 laut Bundeskriminalamt in den letzten zehn Jahren um vermeintlich erschreckende 37 Prozent gestiegen, dabei müsse man aber, so dessen Sprecher, fünf relativierende Punkte berücksichtigen:

Warum die Zahlen mit Vorsicht zu betrachten sind

  • Es wird heute schneller und öfter angezeigt als vor zehn Jahren, vor allem, wenn es sich um Ausländer, und da wieder vor allem um Afghanen und Syrer, handelt
  • Das Internet fördert bestimmte Delikte, die es vor zehn Jahren noch gar nicht gab (Verbreiten von Nacktbildern oder selbstgedrehten Videos pornographischen Inhalts über die (Un-)social Media, gefährliche Drohungen via Whatsapp, usw.
  • Die Bevölkerungszahl ist gestiegen, das vor allem in Wien und dort primär durch Zuwanderung, also durch den Zuzug von Ausländern mit Kindern und Kindeskindern
  • Es wird besser und mehr aufgeklärt, deswegen gibt es öfter Tatverdacht
  • Ein Tatverdacht ist noch kein Schuldspruch. Nimmt man die Zahl der wegen Delikten gegen "Leib und Leben" in Wien tatsächlich später auch verurteilten Jugendlichen her, gab es gegenüber 2012 einen Rückgang von 955 auf 729, rund 200 davon wegen "schwerer Körperverletzung". Österreichweit ist die Zahl der Verurteilungen Jugendlicher in den letzten 10 Jahren sogar um 25 Prozent gesunken.

Hose runter Im Gegensatz zur, nennen wir es freundlich "Sensibilität" der Medien für dieses Thema. Schon dieser vergleichsweise harmlose Vorfall hatte für Schlagzeilen gesorgt: Eine Volksschullehrerin schrieb mir – eigentlich en passant – von einem neunjährigen Buben (frisch zugewandert), der eines Tages aus heiterem Himmel "mitten in der Stunde ohne Anlass" aufstand, seine Hosen herunterzog und ihr "sein… Gemächt wäre übertrieben… (O-Ton)" offenbarte.

Wie gehen wir mit der steigenden Zahl der Jugendkriminalität um?
Wie gehen wir mit der steigenden Zahl der Jugendkriminalität um?
Istock

Nicht aus Bösartigkeit Zwar sagte die Lehrerin auch (und das schrieb ich auch so), dass es der Bub "gar nicht aus Bösartigkeit getan" habe, "sondern weil ihm niemand beigebracht hat, dass das nicht geht, und weil er sowieso kein Wort von dem versteht, was ich spreche", aber in gewissen Medien – und den Kommentaren gewisser Politiker - , fiel diese Aussage, die auf ein Kind mit a) einem Aufmerksamkeitsdefizit und b) mangelnder Erziehung hinwies, wofür es selbst wohl am wenigsten kann, komplett unter den Tisch.

12-Jährige "schwer missbraucht" Ein paar Wochen später dann das schockierende Protokoll eines 13-jährigen Mädchens, das an der Hand seiner Mutter zur Polizei ging, um den monatelangen sexuellen Missbrauch durch ein gutes Dutzend großteils minderjähriger Burschen anzuzeigen – darunter Schüler und Berufsschüler, alle mit Migrationshintergrund - , die das Mädchen, das zum Zeitpunkt der Handlungen noch zwölf war, abwechselnd und gleichzeitig (teilweise "schwer“) „missbraucht" haben sollen.

Ob sie wussten, was sie taten, als sie das Mädchen vier Monate lang zum Opfer machten?
Niki Glattauer, Ex-Schuldirektor

§§ 206 und 207 StGB Nach den Buchstaben des Gesetzes auch dann "(schwer) missbraucht", wenn so manche dieser sexuellen Handlungen mit Einverständnis des Mädchens erfolgt sein mögen, wie die Täter behaupten - immerhin war einer davon damals ihr "fester Freund". "Sexueller Missbrauch von Unmündigen" (nach §§ 206, StGB) liegt nämlich auch dann vor, wenn Handlungen einvernehmlich geschehen. Nur das, was früher gemeinhin Petting genannt wurde, wäre im konkreten Fall – das Opfer war zum Tatzeitpunkt vollendete 12 Jahre alt, die meisten Täter weniger als vier Jahre älter – nach § 207 auch bei Unmündigen straffrei.

Minderjährig, unbegleitet Vier der 17 tatverdächtigen Burschen sind jünger als 14, ein einziger volljährig, alle anderen 14, 15, 16 Jahre alt. Einige haben einen österreichischen Pass, andere sind "frisch" zugewandert – einer aus Italien, einer aus Nordmazedonien, einer aus Bulgarien (wohin er inzwischen mit Erlaubnis der Behörden wieder zurückgekehrt ist), mehrere aus der Türkei und aus Syrien. Einige waren mit ihren Familien bzw. Rumpffamilien nach Österreich gekommen, andere als "unbegleitete Minderjährige" (dazu weiter unten).

Beischlaf unter Gleichaltrigen Ob sie wussten, was sie taten, als sie das Mädchen vier Monate lang regelmäßig zum Opfer machten, indem sie es durch "Überreden" (der Anwalt des Opfers spricht von Drohungen und Erpressung) dazu brachten, zu tun, was sie von ihr wollten? Ob sie wussten, dass man mit 14, 15 oder 16 Jahren, wenn man mit einer subjektiv nahezu Gleichaltrigen "den Beischlaf oder eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternimmt", selbst bei Einverständnis oder Duldung des anderen den Tatbestand des "Schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen" erfüllt?

Wie, frage ich mich, sollen sie wissen, was sie tun, wenn sie nicht verstehen, was wir ihnen sagen?
Wie, frage ich mich, sollen sie wissen, was sie tun, wenn sie nicht verstehen, was wir ihnen sagen?
Istock

Es drohen 7,5 Jahre Haft Ein einziges Mal soll der "Beischlaf" - so der veröffentlichte Stand der Dinge - mit Gewaltanwendung erzwungen worden sein. Beschuldigt ist ein 16-jährigen Bursch aus Syrien, der, wie "Heute" berichtete, im Vorjahr schon wegen eines Raubüberfalls auf zwei andere Jugendliche bei einem Imbissstand verurteilt wurde. Ihm drohen bei einem Schuldspruch nach §201, Vergewaltigung, nach dem Jugendstrafrecht bis zu siebeneinhalb Jahre Gefängnis.

Getätigt, geduldet Auch das Opfer – immerhin in Österreich geboren – wusste offensichtlich nicht, was es tat oder glaubte, tun zu müssen. Wusste offenbar nicht, dass man als Mädchen das Recht hat, Sex zu verweigern, jederzeit, aus welchem Grund immer. Auch sexuelle Handlungen mit dem "Freund", ob nun "getätigt" oder "geduldet", und erst recht mit den Freunden des Freundes.

Erfolgte die "Aufklärung" auf Pornoseiten?
Niki Glattauer

Sex lernen die Jugendlichen am Handy Hat je auch nur mit einem von ihnen, Tätern wie Opfern, jemand mit Kompetenz und pädagogischem Know How über Sex gesprochen? Oder erfolgte die "Aufklärung" auf Pornoseiten? Haben Täter wie Opfer je das nötige "strukturierte Umfeld" gehabt, das Kontrolle und Aufsicht ermöglicht? Oder wurden sie sich selbst überlassen. Der Straße überlassen.

Das Strafrecht löst nichts Der neue Präsident des Obersten Gerichtshofs, Georg Kodek, warnte jetzt auf Ö1 "vor überzogenen Erwartungen", sollte man sich dazu entschließen, die Strafmündigkeit jugendlicher Kinder, wie anlässlich dieses Falls derzeit diskutiert (und von mir aus Lehrer-Sicht grundsätzlich gutgeheißen) von derzeit 14 Jahren auf 12 oder gar 10 (wie in der Schweiz) zu senken. "Das Strafrecht kann, wenn überhaupt, nur ein kleiner Teil der Lösungen sein." Und: "Wenn bestimmte Werte nicht vermittelt werden, von zuhause, vom Elternhaus von der sozialen Umgebung, dann tun wir als Gesellschaft uns sehr schwer, die von außen entsprechend nahe zu bringen." Was es brauche? Verstärkte Betreuung durch Psychologen und Integrationsexperten sowie Strukturen.

Eltern dringend erbeten Was er nicht aussprach: Vor allem bräuchten solche Jugendliche kümmernde Eltern. Nur: Knapp 15.000 Kinder in Österreich sind aktuell als sogenannte "Unbegleitete Minderjährige" im Land, während ihre Asylverfahren laufen, davon rund 2.700 aus Afghanistan, 1.300 aus Syrien und 300 aus Ägypten. Damit liegt Österreich laut Statistik Austria in der EU an der Spitze, gefolgt von Deutschland, das nur rund die Hälfte hat (7.275) und den Niederlanden, die auf grob ein Viertel kommen (4.205). Und: fast 99 Prozent der „unbegleiteten Minderjährigen zwischen 14 und 18 Jahren sind männlich. Mädchenanteil: 1,2 Prozent.

"Vor allem bräuchten solche Jugendliche kümmernde Eltern"
"Vor allem bräuchten solche Jugendliche kümmernde Eltern"
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In Parks, Garagen, Toiletten Auch der Soziologe Kenan Güngör, Mitglied des unabhängigen Expertenrates der Regierung für den jährlich erscheinenden Integrationsbericht, nennt fehlende Strukturen und mangelnde Perspektiven als Hauptgrund dafür, dass "abgehängte migrantische Jugendliche ihre Tage in Meid-Zonen verbringen", in denen sich "einheimische Bevölkerung" kaum oder gar nicht finde – Plätze und Ecken in Parks, Bahnhöfen, Öffi-Stationen, Tiefgaragen, sogar Toilettanlagen. Immerhin kennt die Polizei diese Plätze und hat bis dato dafür gesorgt, dass es in Österreich im Gegensatz zu anderen Ländern klassische Bandenbildung nicht gibt.

Immerhin - keine Jugendbanden "Selbst wenn Jugendliche in Gruppen auftreten, handelt es sich nicht um Jugendgangs im Sinne organisierter Gruppen, die sich wie etwa in Schweden mit dem Vorsatz treffen, kriminelle Handlungen zu begehen." Sagt man wenigstens in der Landespolizeidirektion Wien.

Wie, frage ich mich, sollen sie wissen, was sie tun, wenn sie nicht verstehen, was wir ihnen sagen?
Niki Glattauer

17.000 kleine Kinder mit A.o.-Status Was diese Jugendlichen verbindet, zu einer Art "informellen Gang" macht, ist ihre Sprachlosigkeit, die wegzukriegen offensichtlich auch die Schule nicht imstande ist. In den Klassen manifestiert sich diese Sprachlosigkeit in den sogenannten außerordentlichen Schülern, den A.o. Das Ziel (festgemacht in der 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern für die Jahre 2018 bis 2022), die Zahl der A.o.-Schüler in der ersten Klasse Volksschule um 20 Prozent zu senken, wurde nicht nur nicht erreicht, die Zahl ist um 17 Prozent angewachsen - auf österreichweit fast 17.000, mit zwei Ausreißern noch oben, dem Burgenland (+ 140 Prozent) und Tirol (+105 Prozent). Lediglich in Oberösterreich sind die A.o. weniger geworden, um sechs Prozent.

Wie sollen sie wissen, was sie tun? 17.000 Kinder, rund 13.500 davon in Wien, sechs und sieben Jahre alt, zu fast 100 Prozent aus Zuwandererfamilien, zur Hälfte bereits hier geboren, die in der ersten Klasse einer Volksschule sitzen und so wenig Deutsch können, dass sie außerstande sind, dem Unterricht zu folgen.

Wie, frage ich mich, sollen sie wissen, was sie tun, wenn sie nicht verstehen, was wir ihnen sagen?

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung "Der engagierte Lehrer und seine Feinde" erschien 2010

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