bildungs-Experte Niki Glattauer

"Mein Kind geht bestimmt nicht in die Türken-Schule"

Problem Zwei-Klassen-Gesellschaft: Die aktuellen Schuleinschreibungen belegen ein schulpolitisches Dilemma. Aber niemand spricht darüber.

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Eltern, die "situationselastisch" plötzlich ihre Wohnadresse ändern, um sich nur Wochen später wieder rückanzumelden; die mit Stadtplan und Zirkel in die Schulen kommen, um die erforderliche Nähe des Wohnorts zur Schule zu beweisen; die sogar "Geschwisterkinder" erfinden. All das, um das eigene Kind in der Wunschschule unterzubringen. Die Schuleinschreibungen - jetzt gerade aktuell - lassen die Emotionen hochgehen.

Passt, oder? "90 Prozent der Kinder können dort untergebracht werden, wo ihre Eltern das wollen", sagte unlängst Wiens Bildungsdirektor Heinrich Himmer. Also eh alles gut? Im Gegenteil.  Was er nämlich nicht dazu sagt: Dass das rotpinke Wien damit bereits in den Volksschulen die Zwei-Klassen-Schule einzementiert.

Nein falsch! Seit Jahren gebraucht man es als Totschlagsargument gegen die gemeinsame Schule: Die Volksschulen als Österreichs einzige Gesamtschule beweise, dass diese nicht funktioniere, weil sie keine besseren Ergebnisse liefere als später die getrennte Schule.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Blanker Unsinn Denn de facto ist die Volksschule längst zu einer Zwei-Klassen-Schule geworden. Mit drei dafür maßgeblichen Faktoren:
- der Wohngegend
- den Privatschulen
- der Weigerung der Schulpolitik, Schülerinnen und Schüler den Schulen nicht nach den Wünschen und (auch finanziellen) Möglichkeiten der Eltern zuzuweisen, sondern einzig nach pädagogischen Kriterien.

Salopp formuliert: Für die Kinder aus den immer gleichen Haushalten und Wohngegenden gibt es die immer gleicheren Schulen und Klassen – in doppelter Bedeutung des Wortes. Hässlicher ausgedrückt: Die aus der "richtigen Gegend" kommen ins schulische Töpfchen, die aus der "falschen" ins schulische Kröpfchen… Eine Weichenstellung auf den Rücken von Siebenjährigen.

Niemand traut sich das Problem öffentlich anzusprechen
Kinder, die in der "richtigen" Gegend wohnen, sind die Sieger

Entscheidend: Die "passenden" Mitschülerinnen Um an dieser Stelle ein Missverständnis auszuräumen: Keineswegs sind die einen Schulen besser als die anderen, und schon gar nicht sind es die Lehrerinnen darin (oft im Gegenteil). Es geht den Eltern bei der Wahl ihrer "Wunschschule" um die Klientel in den Klassenräumen, also "die passenden" Mitschülerinnen für Herrn Sohn und Fräulein Tochter, und die wird an der Sprache festgemacht. "Mein Kind geht bestimmt nicht in die Türken-Schule" ist ein Spruch, den ich als Direktor oft gehört habe. Nur schöner formuliert: "Ich gebe mein Kind bestimmt nicht dorthin, wo es Deutsch mehr verlernt als lernt."

Unverständlich ist dieser Zugang nicht. Und die Zahlen verleihen ihm auch Legitimation.

Fast 79.000 fehlt Staatsbürgerschaft 6.000 Schulen gibt es in Österreich, die Hälfte davon sind Volksschulen mit aktuell knapp 360.000 Schülern und Schülerinnen. Von diesen haben österreichweit inzwischen 118.8000 (knapp 33%) eine andere Umgangssprache als Deutsch (78.700 Kinder nicht einmal die österreichische Staatsbürgerschaft).

Problem Städte Dramatisch ist die Situation aber in den Ballungsgroßräumen Linz, Steyr, Graz, Dornbirn, St. Pölten, Wien und - als Spitzenreiter des migrationshinter- und vordergründigen Schullebens - Wels: In den Volksschulen überall dort übersteigt der Anteil der Kinder von Zuwanderern die 50%-Marke (in Wien und Wels sind es gar mehr als 60%), der noch einmal höher wird, wenn man öffentliche und private Volksschulen vergleicht:

Multiethnische Schule für junge Kinder (Symbolbild)
Multiethnische Schule für junge Kinder (Symbolbild)
iStock

Zwei Drittel sprechen im Alltag nicht Deutsch So sprechen in öffentlichen Volksschulen in Wien inzwischen knapp 66 Prozent der Schüler in ihrem Alltag, das heißt, wenn sie zuhause sind, mit Freunden spielen oder mit ihren Eltern einkaufen gehen, nicht deutsch. Ihre "Umgangssprache" ist Türkisch, Kurdisch, Serbisch, Bosnisch, Kroatisch, Arabisch, Syrisch, Paschtu, Dari, Farsi, Chinesisch, Tschetschenisch oder Ukrainisch. Mit den höchsten Ausschlägen wieder in den "klassischen" Ausländerbezirken:  84% in Margareten, 82 % in Brigittenau, 75% in Favoriten.

Reine "Ausländerklassen" Noch einmal: Da reden wir von der Volksschule, der vermeintlichen "Gesamtschule". Und wir reden von Klassen, in denen kein einziges deutschsprachiges Kind mehr sitzt, weil immer mehr Direktor:innen (ich kenne nicht nur eine) auf Druck heimischer Eltern "Ausländerklassen" bilden, um in die Parallelklasse wenigstens eine Handvoll deutschsprachige Kinder gemeinsam setzen zu können.

"Gemma Pizza" Eine Bestätigung dafür gab es unlängst in der ORF-Sendung "Wien heute" von Walter Emberger, Gründer von "Teach for Austria", jener Organisation, die seit zwölf Jahren Universitäts-Abgängerinnen als sogenannte Fellows in den Lehrerberuf einspeist: "Wir haben Fellows in Kindergärten und Schulen, wo es in der ganzen Gruppe oder Klasse kein Kind mit Muttersprache Deutsch mehr gibt. Die sagen dann 'gemma Pizza' und niemand in der Klasse kommt drauf, dass da was fehlt in dem Satz."

Verstärkt wird die Zwei-Klassen-Volksschule noch durch die Privatschulen, die meisten davon konfessionell.

Chancenindex könnte eine Lösung sein
Zwei-Klassen-Schulen

Jedes zweite Kind in Privatschule Beispiel Wien (veröffentlicht im "Standard", basierend als Grafik auf den neuesten Daten der Statistik Austria):  Da gehen im "grünen" Bezirk Neubau fast 50% der Kinder in eine Privatschule, im "schwarzen" Döbling knapp 48%, 44% im 4. Bezirk Wieden, 43% in Mariahilf.

"Bessere Eltern" Während umgekehrt in Margareten, Simmering, Meidling, Ottakring oder der Brigittenau nahezu 100% der Kinder in öffentlichen Volksschulen sitzen, in Favoriten 91%, in Fünfhaus 85%. Das liegt daran, dass es in diesen Gegenden Privatschulen entweder nicht gibt – oder sich Eltern diese nicht leisten können, womit sie erst recht wieder den Kindern der "besseren Eltern" aus "besseren Gegenden" vorbehalten bleiben.

"Chancenindex" als Lösung Was gegen die Zwei-Klassen-Volksschule getan werden könnte – Zugang eins: Man akzeptiert sie, investiert aber in die zweite Klasse ungleich mehr als in die erste, zum Beispiel mit der Einführung eines so genannten "Chancenindex", wie ihn z.B. die Arbeiterkammer seit Jahren fordert. Heißt verkürzt: Schulen mit überwiegend schwieriger Klientel (Armut, Analphabetismus, fehlen einer Schriftsprache, mangelhaftes Deutsch, Kriegstraumata, Gewalterfahrung, etc.)  kriegen mehr Personal, Support, Ressourcen. Und: Um erlesene Lehrerinnen für solche Schulen wird aktiv geworben, sie werden nach strengen Qualitätskriterien ausgewählt und – dann als die besten des Landes – auch deutlich besser bezahlt, doppelt und dreimal so hoch wie andere.

Na dann organisieren wir halt Busse
Durchmischung der Bezirke

Ohne Mauern und Scheuklappen Zugang zwei: Man versucht die Zwei-Klassen-Schule aufzulösen. Da man Eltern nicht vorschreiben kann, wo sie wohnen, müssten die Schüler bei der Einschreibung schulbehördlich aufgeteilt werden, ausschließlich nach pädagogischen und gruppendynamischen Kriterien, wenn nötig auch über Bezirksgrenzen hinweg (die erfolgreichsten Schulen in Deutschland, wie die "Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule" in Göttingen, Deutscher Schulpreis 2011) tun das seit Jahrzehnten.

Ins Fettnäpfchen gesetzt Ein Schulkleinbussystem nach dem Vorbild der Fahrtendienste würde das Schulwegproblem lösen, heterogene Klassen würden die Gesellschaft realistisch abbilden und Lehrerinnen die Arbeit erleichtern, weil sich in den Klassen Peer-Group-Mechanismen einstellten, in der schwächere von stärkeren Kindern lernten und sich stärkere als Role-Models auszeichnen könnten. ÖVP-Mann Johannes Hahn hatte das vor Jahren gefordert und sich damit – wenn man mich heute fragt, leider – ins Fettnäpfchen gesetzt.

Woran alles scheitert Bis heute scheuen Politiker aller Couleur die schulbehördliche Intervention bei der Schulplatzzuweisung: zu aufwendig, zu teuer, logistisch nicht machbar. Am ehrlichsten ist wohl das nur hinter vorgehaltener Hand genannte Argument: Sie wäre den Eltern schlicht nicht zu verkaufen. D e n Eltern? Allen Eltern? Nein, aber jenen der 1. Klasse, jenen, die Engagement und Einfluss haben. Und wählen gehen.

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung "Der engagierte Lehrer und seine Feinde" erschien 2010

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