In "Selbstporträt eines Serienmörders" werden die Taten einiger der furchtbarsten Verbrecher der Gegenwart von diesen selbst aufgearbeitet. In der neuesten Ausgabe geht es um David Berkowitz, der als "Son of Sam" New York terrorisierte. Jetzt auf Netflix.
Unter True Crime-Filmemachern gilt er als Experte, als Mastermind und der "Beste von allen": Joe Berlinger, dessen Karriere in den 1990er-Jahren mit der Doku-Reihe "Paradise Lost" über eine Mordserie an Kindern in Arkansas begann, hat sich seither einen Namen als absoluter Fachmann erarbeitet, wenn es um das filmische Ergründen des Bösen geht. Seine Formate tragen stets ihre eigene Handschrift und heben sich so von durchschnittlicher True Crime-Massenware ab, die mittlerweile die meisten Streamingdienste flutet.
Blick in die Abgründe des Bösen In Berlingers Reihe "Selbstporträt eines Serienmörders" lässt er einige der berüchtigtsten Killer der USA in ihren eigenen Worten erklären, warum sie taten, was sie taten. Meist über (teilweise zuvor unveröffentlichte) Bänder von Verhören oder Gesprächen. Das Publikum erhält so einen oft beängstigenden Einblick in die Psyche der Täter, aber auch psychologische Einordnungen. Bisher erschienen sind in diesem Rahmen Doku-Miniserien über Ted Bundy, John Wayne Gacy und Jeffrey Dahmer. Und seit kurzem läuft auf Netflix die neueste Ausgabe der "Selbstporträts" über David Berkowitz, den "Son of Sam".
New York in Angst Berkowitz hielt Mitte der 1970er-Jahre ganz New York in Angst und Schrecken: Mit einem 44er Bulldog-Revolver schoss er auf hübsche, junge Frauen, die meisten von ihnen brünett. Fast immer lauerte er ihnen auf, während sie im Auto saßen, mit ihren Dates oder mit Freundinnen. Berkowitz schlich sich ans Seitenfenster und streckte die Insassen nieder. Zwischen 1976 und 1977 wurden auf diesen Art 13 menschen Opfer des Killers. Sieben überlebten das Attentat, sechs kamen ums Leben.
Ein Medienspektakel Die Polizei New Yorks war lange Zeit ratlos, es fehlte jede Spur: Die Beschreibungen der überlebenden Zeugen waren kaum aussagekräftig und wichen teils drastisch voneinander ab. In der Bevölkerung machte sich Panik breit, junge Frauen vermieden es, nach Einbruch der Dunkelheit außer Haus zu gehen – insbesondere, wenn sie brünette Haare hatten. Wenig überraschend, griffen die Medien den Fall auf und machten reißerische Geschichten daraus, die die Auflagen nach oben schnellen ließen.
Zweifelhafter Ruhm Berkowitz selbst hatte inzwischen ebenfalls Gefallen an seiner "Berühmtheit" gefunden: Er las jeden Artikel. Und verschickte schließlich seinerseits Briefe an Ermittler und Journalisten, in denen er sich über deren Versagen regelrecht lustig machte.
Der Nachbarshund befahl die Morde … Das Absurdeste daran war aber, wie Berkowitz seine Taten in seinen Briefen erklärte: Der Hund seines Nachbarn, Sam Carr, mit dem er seit längerer Zeit eine Fehde hatte, habe ihm die Taten befohlen. Der Hund sei von einem jahrtausendealten Dämon besessen, der zu ihm sprechen würde und "Blutopfer" verlange. Dieser Dämon heiße "Son of Sam" – und Berkowitz gab sich fortan selbst diesen Namen.
Selbstinszenierung als Monster Nach seiner Festnahme 1977 - die Ermittler kamen durch ein Falschparker-Ticket auf seine Spur - breitete Berkowitz diese Geschichte in Befragungen weiter aus, wissend, dass die Medien sie aufgreifen würde. Er wollte sich selbst als verrücktes Monster inszenieren, in krassem Gegensatz zu seinem Auftreten: Berkowitz war eher unscheinbar, hatte einen freundlichen Gesichtsausdruck und lächelte oft – selbst bei und nach seiner Festnahme, die er geradezu zu genießen schien.
Es war doch nicht der Hund! Wer dachte, die Geschichte um den "Son of Sam" würde mit Berkowitz' Festnahme und Verurteilung – er plädierte selbst gegen Anraten seines Anwalts auf "schuldig" – enden, täuschte sich: Er widerrief später die Dämon-im-Hund-Geschichte und gab zu, dass er sich diese nur ausgedacht hatte. In der Netflix-Serie sind Aufnahmen zu hören, wo Berkowitz genau das bestätigt.
Es war ein satanischer Kult … Der Wahnsinn ging aber weiter: 1993 behauptete Berkowitz, nicht alle ihm zu Last gelegten Morde selbst begangen zu haben. Er habe vielmehr Mittäter gehabt. Er wäre 1975 einem Satanisten-Kult beigetreten, die Morde wurden von ihm und anderen Mitgliedern verübt. Der Journalist Maury Terry heftete sich an diese Story und widmete ihr sein ganzes Leben, was in der Netflix-Doku "The Sons of Sam: Abstieg in die Dunkelheit" (2021) sehenswert aufgearbeitet wird.
… oder doch nicht Berkowitz selbst – inzwischen laut eigenen Worten "bekehrter" Christ, der im Gefängnis Gott gefunden habe – widerrief jedoch auch diese Aussage weitere 20 Jahre später: Er wäre tatsächlich alleine für alle Morde verantwortlich gewesen.
Was ist die Wahrheit? Doch was bleibt vom "Son of Sam" David Berkowitz, was ist die Wahrheit? Der Mann ist inzwischen 72 Jahre alt und sitzt weiterhin in Brooklyn im Gefängnis. Sein zweifelhaftes "Vermächtnis" beschäftigt auch fast 50 Jahre nach den Taten immer noch Fachleute, Ermittler und True Crime-Fans weltweit.
Ein Serienkiller des neuen Medien-Zeitalters Was diese Morde von zahlreichen anderen abhebt, ist die Dreistigeit und Kaltblütigkeit, mit der sie begangen wurden. Die berechnende Überheblichkeit des Täters, der eine ganze Stadt über ein Jahr lang in Atem hielt, seine perfide Macht genoss, Angst und Schrecken zu verbreiten. Und seine Fähigkeit, immer wieder neue Geschichten zu erfinden, die die Polizei auf Trab hielt, die Massenmedien herausforderte und das Publikum "unterhielt".
Minderwertigkeitskomplex … So lag auch der Fokus der Berichterstattung lange Zeit primär auf Berkowitz. Der Faszination des "Bösen" kann man sich oft nur schwer entziehen, das ganze True Crime-Genre lebt davon. Die neue Netflix-Doku leistet insofern ihren Beitrag zu einem Interessen-Ausgleich, da sie auch die Opfer von Berkowitz und deren Angehörige ausgiebig zu Wort kommen lässt.
… und Misygynie Und nicht zuletzt liefert sie einen Beitrag zur "Entzauberung" des Täters, hinter dessen Aussagen die wahren Motive für seine Taten durchschimmern: Die verzweifelte Suche nach Aufmerksamkeit und Bedeutung einerseits und ein ausgeprägter Frauenhass andererseits – die Frauen mussten einfach nur deshalb sterben, weil sie Frauen waren.
Fazit Die "Son of Sam"-Dämonengeschichte wurde von Berkowitz selbst längst als Spinnerei abgetan. Die Erzählung um einen satanischen Kult wird ebenso lediglich das Märchen eines Schwätzers sein, der es liebte, sein Publikum an der Nase herumzuführen.
Ob Berkowitz' proklamierte Läuterung durch den Glauben, sein Finden von Gott, echt ist, oder auch nur eine weitere Geschichte, die ihm Interviews und Aufmerksamkeit beschert, muss jeder für sich selbst entscheiden. Die neue Netflix-Doku "Son of Sam: Selbstporträt eines Serienmörders" trägt jedenfalls dazu bei, das Rätsel Berkowitz weitgehend entziffern zu können.
"Son of Sam: Selbstporträt eines Serienmörders", True Crime-Doku. USA 2025, 3 Episoden à ca. 60 Minuten, Netflix