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Wahl-Kopfnüsse 2: Ein Beben, das dann nur ein Rülpser war

Die Kopfnüsse nach der EU-Wahl. Die FPÖ gewann, aber aus dem Sololauf wurde überraschend ein Dreikampf. Das Protokoll, die Gründe, die Folgen.

Sie wissen, was sie aneinander haben: FPÖ-Bundesparteiobmann Herbert Kickl und Spitzenkandidat Harald Vilimsky
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Newsflix Kopfnüsse
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Wieder ein Beben. Wann war eine Wahl in Österreich eigentlich das letzte Mal kein Beben? Also ganz simpel eine Wahl, die Leute geben ihre Stimmen ab, daraus errechnet sich ein Ergebnis, die einen freut's, die anderen nicht? Bei uns: immer Gezische. Ich denke, an Wahlsonntagen kommen die Reporter in die Newsrooms, fahren ihre Computer rauf, tippen das Wort "Beben" in die Textmasken für Onlineartikel und Zeitungsberichte und dann sagen sie: "So, jetzt können die Resultate kommen, wir wären bereit."

Österreich wird zwischen Erdstößen hindurch regiert. Politisch sind wir ein Vulkanland. Wir haben keine Regionen, sondern die Burgenland-Kontinentalplatte stößt auf die Niederösterreich-Kontinentalplatte und die Niederösterreich-Kontinentalplatte stößt auf die Wien-Kontinentalplatte, so zieht sich das weiter bis Vorarlberg. Das erzeugt Reibung, diese Reibung wird durch den Finanzausgleich abgemildert. Das ist seine wahre Funktion.

Alle paar Jahre bebt das Land, dann finden Wahlen statt, es scheppert so richtig, ein Geklirre wie im Kuchlkastl von Tante Erna bei einem richtigen Erdbeben. Dann ist wieder Ruhe. Bis die Kontinentalplatten erneut aufeinanderkrachen.

Bundeskanzler Karl Nehammer herzt Spitzenkandidat Reinhold Lopatka in der ÖVP Zentrale in Wien
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Das Beben vom Sonntag war allerdings kein Beben. Also zunächst war es schon ein Beben und viele beschrieben das Beben auch als Beben. Furchterregend! Aber am Ende des Tages, und das ist in diesem Fall wortwörtlich zu verstehen, entpuppte sich das Beben als Rülpser. Schon auch laut und beachtlich, aber die Tassen im Kuchlkastl von Tante Erna fingen nicht an zu klirren.

Am Sonntag um 17 Uhr gab es, wie angekündigt, die erste Trendprognose im ORF und auf Puls 24. Es wurde ausführlich und mehrfach darauf hingewiesen, dass es sich um keine Ergebnisse handeln würde und auch um keine Hochrechnung, aber wer hört schon genau zu? Für die Trendprognose standen keine Ergebnisse zur Verfügung, die durfte das Innenministerium nicht vor 23 Uhr herausrücken, denn da machte in Italien das letzte Wahllokal zu. Sie erinnern sich vielleicht dunkel: Es handelte sich um eine Europawahl.

Mich erheitert ja die Vorstellung, dass ein Italiener vor 23 Uhr das Wahlergebnis aus Österreich erfährt, sich deshalb immediatamente in der Wahlzelle umentscheidet und nicht mehr die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni wählt, sondern die italienischen Grünen, um Lena Schilling zu unterstützen. Aber Gesetz ist Gesetz.

Finger als Waffe: FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky erschreckt in der Elefantenrunde Andreas Schieder (SPÖ)
Finger als Waffe: FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky erschreckt in der Elefantenrunde Andreas Schieder (SPÖ)
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Die Gesetzestreue endete in diesem Fall in einem gewissen Untreueerlebnis. Die Trendprognose, also die Vorhersage des möglichen Trends der wahrscheinlichen Ergebnisse, zeigte zunächst eine recht klares Bild: Die FPÖ lag mit 27,0 Prozent deutlich vorn, ÖVP und SPÖ paradierten mit Respektabstand zu den Freiheitlichen, aber ohne Respektabstand zueinander dahinter. Auch zwischen NEOS und Grüne passte kein Degenblatt. Zumindest nicht für den Moment.

Die Trendprognose um 17 Uhr

  • FPÖ 27,0 Prozent
  • ÖVP 23,5 Prozent
  • SPÖ 23,0 Prozent
  • Grüne 10,5 Prozent
  • NEOS 10,5 Prozent
  • KPÖ 3,0 Prozent
  • DNA 2,5 Prozent

Die Trendprognose basierte auf Umfragen, die zwischen Dienstag und Sonntag durchgeführt worden waren. Drei Institute hatten daran gearbeitet, Foresight, ARGE Wahlen und Peter Hajek, und sie hatten nicht wirklich was falsch gemacht. Denn die Schwankungsbreite wurde mit maximal 2,5 Prozent angegeben, aber wer liest schon das Kleingedruckte? Niemand! Das ist bei Keksschachteln so und bei Wahlen erst recht, auch wenn einem das auf den Keks gehen mag.

Wenn eine Trendprognose, die immer noch die Vorhersage des möglichen Trends der wahrscheinlichen Ergebnisse ist, einmal Land gewonnen hat, dann bleibt sie nicht stehen, bis die anderen nachkommen, sondern sie rennt los. Also wurde ab 17 Uhr in den Wahlzentralen das Ergebnis, das es noch nicht gab, gefeiert oder betrauert. Es gab eine Elefantenrunde, in der das Nicht-Ergebnis analysiert wurde und haufenweise Kommentare, die das Nicht-Ergebnis analysierten. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker, von dem sich die Dackel den Dackelblick abgeschaut haben, redete die Niederlage schön, obwohl sie am Ende nicht so schiach war, wie sie anfangs schöngeredet werden musste.

Österreich ging mit dem Bewusstein schlafen, dass die FPÖ einen Triumph erzielt hatte und wachte mit einem Brust-an-Brust-an Brust-Rennen um Platz 1 auf. Die Freiheitlichen lagen immer noch vorn, aber nun nur mehr 0,8 Prozent von der Volkspartei entfernt. In Rülpsweite also.

Ein Ausbund der Freude: NEOS-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter schaffte ein zweistelliges Ergebnis
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Um 23 Uhr war nämlich der Schwung Ergebnisse aus dem Innenministerium im ORF eingetroffen und endlich konnte eine Hochrechnung gemacht werden wie in den guten alten Tagen. In diese Hochrechnung konnten auch die 109.000 Briefwahlstimmen eingerechnet werden, die es an diesem Tag nicht mehr in das Gesamtergebnis geschafft hatten und am Montag nachgereicht wurden. Die Briefwahlstimmen wurden als Prognose erfasst, was mehr ist als ein Trend, wie wir inzwischen gelernt haben.

Das vorläufige Endergebnis

  • FPÖ 25,4 Prozent
  • ÖVP 24,5 Prozent
  • SPÖ 23,2 Prozent
  • Grüne 11,1 Prozent
  • NEOS 10,1 Prozent
  • KPÖ 2,7 Prozent
  • DNA 3,0 Prozent

Das eigentliche Ergebnis, das Urbeben also, ändert nichts an der Reihenfolge. Die FPÖ liegt vorn, sie gewann das erste Mal in der österreichischen Geschichte eine bundesweite Wahl. Das Ereignis soll nicht kleingeredet werden, auch wenn der Rülpser im Lauf des Sonntagabends einen nicht mehr so lauten Nachhall verliehen bekam wie in den Iden des Vorabends.

Wenn ich nicht besser wüsste, wie Wahlergebnisse zustandekommen, dann würde ich den Österreichern einen Sinn für feinen Humor unterstellen. Nicht ganz drei Monate vor der Nationalratswahl machen sie sich einen Jux aus den politischen Parteien. Sie lassen sie fast alle gleichzeitig als Sieger und Verlierer erscheinen. Selbst die FPÖ, die sich am Sonntag das größte Stück Schwarzwälder Kirschtorte abschneiden durfte, aber dann bemerken musste, dass die Creme dünner ist als gedacht und die Weichseln saurer.

Kurve gekriegt: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler, Spitzenkandidatin Lena Schilling, Justizministerin Alma Zadic und Listenzweiter Thomas Waitz
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Dann gibt es da noch die ÖVP, die abstürzte, aber nicht ins Bodenlose fiel. Am Sonntag war ich zu Mittag im Puls 24-Studio, um die Wahlergebnisse zu analyieren, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Nicht-Ergebnisse waren. Ich grüßte artig mit "Mahlzeit" und hörte dann Andreas Khol zu, der seiner ÖVP gefühlt 150 Jahre in verschiedenen Funktionen gedient hatte, und ich bekam eine ungefähre Ahnung davon, welch große symbolische und mentale Bedeutung es für die Volkspartei hat, nicht auf Platz 3, sondern auf Platz 2 zu landen.

Auch die Grünen können gleichzeitig Tränen der Freude und der Wut vergießen. Von den 14,1 Prozent wie vor fünf Jahren sind sie meilenweit entfernt, aber zwischendrin, im Marianengraben der Lena-Schilling-Affäre, werden sie so bei acht Prozent gelegen sein. Nun sind es 11,1 Prozent, zwei Mandate, das Klima wird das Schneuztüchel in den Ärmel gesteckt haben und nun eine Messe lesen lassen. Die NEOS übersprangen erstmals die 10-Prozent-Hürde, aber man hoffte mutmaßlich, mehr Profit aus den Enthüllung über den grünen Mitbewerb ziehen zu können.

Bleibt die SPÖ, sie wird sich am schwierigsten Mut zureden können. Der erwünschte Andreas-Babler-Effekt muss auf der Triester Straße irgendwo rechts abgebogen sein. Oder links. In Wien kam jedenfalls das schlechteste Ergebnis aller Zeiten bei einer EU-Wahl an. Vor ein paar Wochen war ich in einem Wiener Wirtshaus einen Happen essen, ich kam mit dem Besitzer ins Gespräch, ein fröhlicher Typ, um die 40, politisch schwer einschätzbar. "Die SPÖ", sagte er am Ende in einer Mischung aus Verwunderung und Bewunderung, "kämpft mit großer Leidenschaft für die Themen, die vor 20 Jahren wichtig waren".

Harald Vilimsky bei der FPÖ-Wahlparty, zu diesem Zeitpunkt wurden noch 27 Prozent bejubelt
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Es liegt viel Wahrheit in diesem Satz. Die Zuwanderung, der Krieg, das Klima, die Wirtschaft, das waren die bewegenden Themen dieser EU-Wahl. Die SPÖ engagierte sich für das Soziale, das ist ehrenvoll, aber um Erfolg zu haben, müsste sie vielleicht ein paar Umreihungen in ihrer Themenauswahl vornehmen. Nicht das Soziale über Bord werfen, das hieße, sich aus seiner eigenen DNA zu schälen, aber eine klare Linie finden, auch dort, wo es wehtut, wird nötig sein, sonst wird es im September wirklich wehtun.

Dorthin, Richtung Nationalratswahl, wurden die Antennen vor allen am Sonntag ausgerichtet, das ging blitzschnell. Vom "Freundschaftsspiel", sprach die FPÖ, auf das nun "das große Match" folge. Von einer gestarteten Aufholjagd redeten die ÖVP und die SPÖ. Tatsächlich war das die große Tür, die um 23 Uhr überraschend aufgestoßen wurde und den Platz freigab für einen Wettlauf, mit dem kaum jemand mehr gerechnet hatte. FPÖ, ÖVP und SPÖ kamen bei der EU-Wahl innerhalb von 2,2 Prozentpunkten zu liegen, jeder der drei hat nun Chancen, im September als Erster durchs Ziel zu gehen. Die Wählerschaft hat wirklich einen feinen Humor.

Ich wünsche einen wunderbaren Montag. Falls sich in der Zwischenzeit keine neuen Wahlen ergeben, gibt es die nächsten Kopfnüsse am Sonntag. Da lasse ich es dann wieder richtig beben.

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