Der Sechsteiler nach dem Buch von Tom Wolfe beeindruckt mit vielfältiger Handlung, buntem Südstaaten-Panorama – und einem großartigen Jeff Daniels als Ungustl. Ab sofort im Stream.
"Ein Mensch sollte mit voller Kraft leben. Was will man sonst hier?" So beginnt die lange erwartete sechsteilige Netflix-Verfilmung von Tom Wolfes zweitem großen Roman "Ein ganzer Kerl" aus dem Jahr 1998. Und der, der das sagt, ist Charlie Croker, Hauptprotagonist in Buch wie Film, dargestellt vom mittlerweile 69-jährigen Jeff Daniels.
Daniels vulgo Croker liegt dabei in unnatürlicher Haltung auf dem Zimmerboden, nur mit Unterwäsche bekleidet, seine Stimme kommt aus dem Off, und es ist nicht klar, ob es sich hier um die letzten Gedanken eines Sterbenden handelt, oder ob es einen anderen Grund gibt für die Liege-Einlage des blonden Hünen gibt, den Jeff Daniels immer noch darstellt. Egal, es folgt eine Rückblende und die Handlung setzt zehn Tage früher ein, als alles noch in bester Ordnung war in Charlie Crokers Welt …
Bigger than life "Ein ganzer Kerl", im Original wesentlich mehrdeutiger "A Man In Full", präsentiert eine sehr amerikanische, bunt schillernde und sehr facettenreiche Story mit mehreren Handlungssträngen, die nur nach und nach zueinander finden und für all jene, die das zugrunde liegende Buch von Tom Wolfe nicht kennen, zunächst einmal vor allem eines ist: sehr verwirrend. Hier deshalb, als Orientierungshilfe, ein Überblick über die wichtigsten Story-Lines der Serie:
Tom Wolfes Opus Magnum Für den Verfasser der Buchvorlage von "Ein ganzer Kerl", dem legendären US-Autor und Journalisten Tom Wolfe, war dieser sein zweiter Roman nach "Fegefeuer der Eitelkeiten" (verfilmt 1990 mit Tom Hanks, Melanie Griffith und Bruce Willis). Und Wolfe wollte damit nichts weniger als "den amerikanischen Roman" schreiben, ein Ansinnen, das bereits Generationen von Schriftstellern umgetrieben hat. Entsprechend ambitioniert und umfangreich fiel das Buch aus. Es hat über 1.000 Seiten und entwirft ein Südstaaten-Sittengemälde von geradezu epischen Ausmaßen, das sich niemals in einer sechsteiligen Serie hätte unterbringen lassen. Nicht wenige Leser haben dieses "Monster von einem Buch" spätestens nach der Hälfte ins Regal zurück gestellt.
TV-Legende legte Hand an Eine Überarbeitung des Stoffes durch den Autor kam allerdings nicht mehr in Frage. Wolfe, der vor seiner Karriere als Romancier (er schrieb insgesamt vier Romane) als Journalist zu Weltruhm gelangte – er gilt als Miterfinder des "New Journalism" und seine Buch-Reportage "Die Helden der Nation" über die ersten US-Astronauten wurde zum Weltbestseller – starb 2018 im Alter von 88 Jahren. Und so griff Produzent und Drehbuchautor David E. Kelley, Schöpfer von Erfolgsserien wie "L.A. Law", "Picket Fences", "Chicago Hope", "Boston Legal", "Ally McBeal", "Big Little Lies" oder "The Undoing" und Ehemann von Michelle Pfeiffer, selbst in die Tasten, um "ein ganzer Kerl" bildschirmreif zu machen.
Gekürzt und gestrafft Kelley kürzte auf Teufel komm raus. Er strich Personen und komplette Handlungsstränge, legte räumlich zusammen, was im Original oft tausende Kilometer voneinander entfernt passiert, lässt Szenen und Geschehnisse weg, die im Original für Kolorit sorgen, aber für das Verständnis der Geschichte unerheblich sind. So gelingt es ihm, die Geschehnisse auf sechs Folgen à 45 Minuten einzudampfen, ohne die Essenz der Handlung aus den Augen zu verlieren.
Top Besetzung David E. Kelleys beherzte Arbeit als Drehbuchautor wäre allerdings nur halb so viel wert ohne die formidable Besetzung von "Ein ganzer Kerl". Diane Lane, Lucy Liu, Aml Ameen und Tom Phelphrey sind jede(r) für sich großartig, der unumstrittene Star ist aber Jeff Daniels als Charlie Croker. Der Mime aus Athens im Bundesstaat Georgia, verkörpert den ehemaligen Football-Star und nun strauchelnden Selfmade-Man mit solcher Selbstverständlichkeit, als wäre er wirklich Croker.
Jeff Daniels, Superstar Der hünenhafte Schauspieler, Daniels ist 1,90 Meter groß und wirkt so massig wie ein Schwergewichtsboxer, hat in den letzten 30 Jahren eine interessante Wandlung durchgemacht. Nach zahlreichen Rollen in den 1990ern, in denen er vor allem als Tollpatsch oder Witzfigur gezeigt wurde ("Dumm und dümmer", "101 Dalmatiner", "Mein Onkel vom Mars"), entwickelte er sich in den letzten Jahren zum gereiften Charakterdarsteller. Mit der Journalisten-Serie "The Newsroom" sowie der Krimi-Drama-Serie "American Rust" (aktuell zwei Staffeln auf Amazon Prime) bewies er, dass er auch Fortsetzungsgeschichten tragen kann.
Die Mimik einer Kartoffel In "Ein ganzer Kerl" perfektioniert er diesen Eindruck endgültig. Jeff Daniels' Charlie Croker ist charmant und sympathisch, aufbrausend und eitel, unberechenbar und schlitzohrig, manipulierend und kumpelhaft, verletzlich und doch kampfbereit. Und das alles alleine Kraft seiner Mimik und seines Ausdrucks. Daniels Kopf sieht in manchen Einstellungen aus wie gemeißelt, das Abbild des aufrechten Amerikaners, steinern und unverwüstlich. Und nur Momente später wirkt er wie eine zu lange gekochte Kartoffel, teigig, verfallen und den Stürmen des Schicksals wehrlos ausgeliefert.
Charlie Croker gibt nicht auf "Ich stecke mehr weg als ihr alle zusammen", sagt Jeff Daniels in seiner Rolle irgendwann einmal – und man ist sofort geneigt, ihm Glauben zu schenken. Ein Selfmade Man seines Schlags gibt nicht auf, weshalb auch? "Ein Mensch sollte mit voller Kraft leben. Was will man sonst hier?" – Crokers Eröffnungs-Monolog steht über der ganzen Serie. Darum geht's: Mit voller Kraft leben, seinen eigenen Weg finden, auch wenn der Pfad zur Erkenntnis nicht immer einfach zu erkennen ist. So ist Amerika.
Fazit: "Ein ganzer Kerl" ist vor allem zu Beginn etwas anstrengend, bis man erkannt hat, welcher Handlungsfaden wohin führt und was weshalb wichtig ist. Dann breitet sich aber ein üppiges Südstaaten-Panoptikum vor dem Zuschauer aus, das eine Ahnung davon hinterlässt, wie diese Nation (auch) tickt. Lohnenswert.
"Ein ganzer Kerl", USA 2024, 6 Folgen à ca. 45 Minuten, ab sofort auf Netflix