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"Warum ist Schulausbildung eigentlich so lebensfern?"

Über die Nutzlosigkeit von brauchbaren Kenntnissen: Mikhail Lemeshko, theoretischer Physiker am ISTA, glaubt nicht, dass die Schule den Kindern unbedingt Lebenskompetenzen beibringen sollte. Das sind seine Argumente.

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Die Nützlichkeit von nutzlosen Kenntnissen ("The usefullness of useless knowledge") – unter diesem Titel erschien 1939 der berühmte Essay von Abraham Flexner. Ein US-amerikanischer Pädagoge, Wissenschaftsorganisator und Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton, an dem später auch Albert Einstein gearbeitet hat. Laut Flexner erweisen sich letztendlich alle auf den ersten Blick nutzlosen Kenntnisse als nützlich und brauchbar – mit dem unvermeidbaren Schluss, dass man auch die fundamentale, rein von Neugier getriebene Forschung ausreichend finanzieren sollte.

In Bezug auf die Schule kann Flexners Frage, "wie nützlich können nutzlose Kenntnisse sein?", auch umgekehrt gestellt werden. Sind die nützlichen, praktischen, sofort im echten Leben umsetzbaren Kenntnisse, die so viele als Teil des Schulunterrichts ihrer Kinder gerne hätten, wirklich so nützlich, wie man glaubt? Wenn man über die langfristige Perspektive redet, über eine nachhaltige Ausbildung, deren Einfluss man auch nach vielen Jahrzehnten spüren kann, ist meine Antwort ein eindeutiges "Nein".

"Schule bringt zu wenige Lebenskompetenzen bei!" Es gibt immer wieder Menschen, die nicht nur problemlos zugeben, sondern auch stolz darauf sind, dass sie das Schulfach Mathematik im "echten Leben" nie gebraucht haben. Die Schule sei zu lebensfern, meinen sie. Statt Trigonometrie solle man Steuern und Betriebskosten erklären und wie man ein überzeugendes Motivationsschreiben bei der Jobbewerbung verfasst.

"Schule bringt zu wenige Lebenskompetenzen bei!", wird so oft ausgerufen, dass nur wenige daran zu zweifeln wagen. Die wichtigste Frage wird aber selten gestellt: "Was ist eigentlich die wichtigste Lebenskompetenz?"

Es ist kein Geheimnis, dass Schule weniger eine Bildungseinrichtung als eine Sozialisationsinstanz ist. Der Lehrplan lässt sich mit gebührender Leidenschaft viel schneller aneignen, als es vom Ministerium vorgeschrieben wird. Aber obwohl die sozialen Kompetenzen zu den absolut wichtigsten Lebenskompetenzen gehören, möchte ich mich hier gerne auf die "soliden Kenntnisse" fokussieren – auf die Fächer, die eigentlich im Lehrplan stehen. Welche davon – Mathematik, Chemie, Geschichte oder gar keine – verwenden wir Jahrzehnte nach dem Schulabschluss am häufigsten?

Abraham Flexner (1866 bis 1959) war Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton
Abraham Flexner (1866 bis 1959) war Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton
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Die wichtigste Lebenskompetenz Wodurch sich eine gute Ausbildung vor allem auszeichnet, ist: Man lernt zu lernen. Nicht bloß eine Menge von Fakten und Informationen in den Kopf hochladen, seien es Geschichtsdaten, mathematische Formeln oder Gesetzesparagraphen. Man entwickelt die Fähigkeit, sich unabhängig weiterzubilden und an die ständig wandelnde Welt anzupassen. Man eignet sich idealerweise eine bestimmte Denkweise an, die für die "erwachsenen" Experten typisch ist. Wie arbeiten Literaturwissenschafter mit Texten? Wie beweisen Mathematiker Theoreme? Wie argumentieren Philosophen? Schulunterricht dient als eine Spielecke dafür.

Das scheint auf den ersten Blick nutzlos zu sein: Wie viele Schüler werden bitte akademische Wissenschafter, die sich der Philosophie oder Mathematik widmen? Die meisten Kenntnisse an sich wird man in der Tat nie brauchen. Die Denkart jedoch, mit der man diese Kenntnisse selbstständig erwerben kann, ist hingegen unersetzbar. Die alte Weisheit, "Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn alles Gelernte vergessen ist", bezieht sich genau darauf.

Was wichtig ist: Die Denkart, die den langweiligen Schulfächern eigen ist, ändert sich im Laufe der Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gar nicht so viel. Im Unterschied dazu, wie man Steuerformulare ausfüllt oder große Dateien über das Internet überträgt.

Die meisten Kenntnisse an sich wird man nie brauchen. Die Denkart jedoch, mit der man diese Kenntnisse selbstständig erwerben kann, ist hingegen unersetzbar
Die meisten Kenntnisse an sich wird man nie brauchen. Die Denkart jedoch, mit der man diese Kenntnisse selbstständig erwerben kann, ist hingegen unersetzbar
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Dabei muss man unbedingt sagen: die Aufteilung der Welt in klassische Disziplinen wie Mathe, Chemie oder Geschichte ist überhaupt nicht perfekt Wo genau die Grenze zwischen Chemie und Physik oder zwischen Linguistik und Literaturwissenschaften liegt, könnte man debattieren. Muss man aber nicht. Als willkürlich ausgeschnittene Puzzleteile passen die Einzelwissenschaften trotzdem ziemlich gut zusammen und decken alle Aspekte des Lebens auch ausreichend ab.

Und, sobald ein Puzzleteil in der Ausbildung fehlt, kann es spürbare oder gar katastrophale Konsequenzen haben. Beispiele davon gibt es sowohl in Bezug auf die Natur-, als auch auf die Geisteswissenschaften.

Die Unkenntnis von Wahrscheinlichkeiten und Statistik, die Unfähigkeit zwischen Korrelation und Kausalität zu unterscheiden, tragen wesentlich zu Impf- oder Klimawandelskepsis bei. Oder haben Aussagen wie "Mein Onkel hat täglich getrunken und geraucht und ist trotzdem mit 96 gestorben" zur Folge. Der Fokus auf Mathematik und Naturwissenschaften im Schulunterricht sollte dabei helfen, indem er eine besondere Denkweise vermittelt.

Elon Musk, Tesla-Gründer und Eigentümer von X (früher Twitter), hat einen ganzen Haufen Fachbücher und Forschungsartikel gelesen. Na und?
Elon Musk, Tesla-Gründer und Eigentümer von X (früher Twitter), hat einen ganzen Haufen Fachbücher und Forschungsartikel gelesen. Na und?
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Ein Mangel an geisteswissenschaftlichen Fächern kann auch katastrophale Konsequenzen mit sich ziehen Wie Naturwissenschafter denken zu können erzeugt auch andere Vorteile. Als gebildeter Physiker oder Mathematiker verfügt man über eine fast unschlagbare Fähigkeit, in neue Bereiche einzutauchen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

Deswegen finde ich es als Physiker zum Beispiel nicht so beeindruckend, wenn Elon Musk angibt, er sei ein Elektroauto-Experte geworden, indem er selbst einen Haufen Fachbücher und Forschungsartikel gelesen hat. Viele Naturwissenschafter müssen etwas Ähnliches mehrmals im Laufe ihrer Karriere tun.

Andererseits ist Elon Musk ein wunderbares Beispiel dafür, was passiert, wenn geisteswissenschaftliche Puzzleteile bei der (Selbst-)Ausbildung fehlen. Daran leiden viele Naturwissenschafts- und Technikfreaks, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung an sich.

Als überzeugte Reduktionisten verstehen sie zum Beispiel nicht, dass sich die Welt der Politik und sozialen Wechselwirkungen nicht immer mit den Methoden der Physik verstehen lässt, wo man oft die Sache in die kleinsten Bestandteile zerlegen und alles "bottom-up" verstehen kann. Und dass man alle Aussagen in einer Diskussion nicht nur in die "richtigen" und "falschen" einteilen kann, sondern auch in die "angemessenen" und "nicht angemessenen". Und das kann nur durch Vermittlung einer geisteswissenschaftlichen Denkweise und nicht durch bloße Paukerei von Daten und Zitaten repariert werden.

Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Nach seinem Doktorat am Fritz-Haber Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin forschte der gebürtige Russe an der Harvard Universität in den USA. Seit 2014 ist er am ISTA in Klosterneuburg und erforscht atomare, molekulare und optische Physik. Auf seinem YouTube-Kanal Prof. Lemeshko beantwortet er Alltagsfragen aus Physik und Naturwissenschaft.

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