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"Wenn China uns schaden will, können sie aufhören, uns mit Antibiotika zu versorgen"
Ukraine-Krieg, die Welt und die Schwäche des Westens: TV-Experte Carlo Masala findet in der "Zeit" deutliche Worte.

Als "Drosten des Ukrainekriegs" wird er in Deutschland gerne bezeichnet: Carlo Masala, Politikwissenschafter und Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. So wie der Virologe Christian Drosten während der Covid-Pandemie zum "Corona-Erklärer der Nation" wurde, verdeutlicht Masala den Bundesbürgern seit mehr als zwei Jahren den Verlauf und die Auswirkungen von Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und dessen Bedeutung für die gesamte westliche Welt.
Prekäre Lage Seit über 800 Tagen tobt jetzt bereits der Krieg in der Ukraine, und kaum je zuvor war die Lage an der Front für die ukrainischen Verteidiger so prekär wie derzeit. Mangels Nachschub an Waffen und Munition aus dem Westen haben die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyi den russischen Angreifern immer weniger entgegenzusetzen. Stück um Stück rückt die Front weiter ins Landesinnere, während die inzwischen bereits lückenhafte Flugabwehr immer öfter Schläge vor allem gegen die zivile Infrastruktur und die Energieversorgung des Landes hinnehmen muss.
"Der Westen hat Angst" Für den deutschen Politikwissenschafter Masala ist vor allem die Angst des Westens vor einem schwachen, kollabierenden Russland ausschlaggebend dafür, dass die Waffen- und Munitionslieferungen für die Ukraine immer zögerlicher freigegeben werden. Spätestens der offene Aufstand von Jewgenyi Prigoschin, dem Führer der Söldnertruppe Wagner, gegen Russlands Militärführung im Juni 2023 hätte hier den Ausschlag gegeben, so Carlo Masala in einem aktuellen Interview im deutschen Wochenmagazin "Die Zeit". "Das hat zu der jetzigen Situation geführt und zeigt unsere Hilflosigkeit", so der Wissenschafter.
Wie der Experte die Chancen auf einen Frieden in der Ukraine einschätzt, was der Westen unternehmen muss, um für mögliche direkte Konflikte mit Aggressoren gerüstet zu sein und wie groß die europäische Verteidigungsbereitschaft überhaupt ist – die wichtigsten Aussagen von Politikforscher Carlo Masala:
So ist die Lage aktuell für die Ukraine
Russland sehe im aktuellen Waffen- und Munitionsmangel eine riesige Chance und ziehe gerade bis zu 25.000 Mann an der Front zusammen, um die Schwäche der Ukrainer auszunützen. Masala sieht die Gefahr, dass sich die Ukraine möglicherweise bis Kramatorsk zurückziehen oder überhaupt den gesamten Donbass aufgeben muss.

Was das Geschehen an der Front stabilisieren könnte
Hier setzt der Professor darauf, dass die – nach monatelangem innenpolitischem Hickhack in den USA – vor kurzem freigegebenen Waffen- und Munitionslieferungen der USA für die Ukraine die Situation wieder beruhigen und die Front stabilisieren werden. Erst dann sei es vielleicht möglich, irgendwann wieder in die Offensive zu gehen.
Wie groß die Chance auf einen Waffenstillstand ist
Derzeit extrem gering, so Carlo Masala. Die Zögerlichkeit des Westens bei der Unterstützung der Ukraine bestärke Wladimir Putin vielmehr in seinem Glauben, der Krieg wäre für ihn zu gewinnen. "Solange Russland sich in der Offensive wähnt, werden sie weiterkämpfen", so Masala in der "Zeit". Und auch wenn es irgendwann zu Verhandlungen käme, würde Russland Maximalforderungen stellen, was hieße, dass die Ukraine bis zu 25 Prozent ihres Territoriums verlieren könnte.

Welche Signalwirkung solch ein Frieden hätte
"Wenn wir das zulassen, wäre das für andere Staaten ein fatales Signal", so Masala. Etwa für China, wo es ja ebenfalls Begehrlichkeiten gibt, Stichwort Taiwan. Die Botschaft wäre demnach, man könne in Europa gewaltsam Grenzen verschieben und der Preis, der dafür zu zahlen wäre, sei verkraftbar, so der Wissenschafter.
Weshalb Europa so zurückhaltend agiert
Theoretisch sei man sich im Westen einig, so Carlo Masala, nämlich dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe. In der Praxis geschehe jedoch viel zu wenig, um die Ukraine dabei zu unterstützen. Dafür macht der Deutsche einerseits eine allgemeine Erschöpfung in Westeuropa verantwortlich, auf die Putin von Anfang an hingearbeitet habe. Und andererseits die bevorstehenden Europawahlen, die für die extrem geringe Entscheidungsfreudigkeit in der Politik verantwortlich wären. Bei der NATO, so Masala, sorge diese Haltung derzeit für "eine gewisse Verzweiflung".
Wie man das Ruder herumreißen könnte
Es gehe darum, die "militärische Logik" zu drehen und Russland massiv unter Druck zu setzen, so Carlo Masala. Die Zerstörung der Kertsch-Brücke zur Krim sei solch ein Zug, um die Versorgung der russischen Armee im Süden der Ukraine erheblich zu erschweren, auch die Eisenbahnlinie zur Krim wäre demnach ein lohnendes Ziel, etwa für Partisanenangriffe. Masala in der "Zeit": "Ich glaube, das würde in Moskau etwas bewegen, vielleicht nicht bei Putin persönlich, aber es wird einflussreiche Russen geben, die sagen: Die Krim dürfen wir nicht verlieren."

Wie groß die Gefahr ist, dass Europa angegriffen wird
Alles stehe und falle mit der Bereitschaft der NATO, ihr Territorium geschlossen zu verteidigen, so der Politikwissenschafter. Habe Russland den Eindruck, dass es hier Wankelmütigkeit gibt, sei ein russischer Angriff etwa auf die baltischen Staaten durchaus realistisch.
Wie es um die Widerstandsfähigkeit Europas bestellt ist
Carlo Masala in der "Zeit": "Wenn wir Russland und all den anderen Staaten, die unsere liberale Weltordnung angreifen wollen, Einhalt gebieten wollen, müssen wir als Gesellschaft viel resilienter werden." Davon sei man aber etwa in Deutschland noch weit entfernt, sowohl technisch, als auch psychologisch. Und auch die Verletzlichkeit unserer Lieferketten sei ein Schwachpunkt, den es alsbald zu beheben gelte: "Wenn China uns schaden will, können sie einfach aufhören, uns mit Antibiotika zu versorgen."
Was geschehen müsse, um die europäische Resilienz zu stärken
Der Ausbau des Zivilschutzes und die Rückverlagerung von relevanten Lieferketten nach Europa seien hier zwei von vielen Punkten, die Carlo Masala als entscheidend ansieht. Noch wichtiger sei aber die grundsätzliche Bereitschaft der gesamten europäischen Gesellschaft, unsere Demokratie im Notfall zu verteidigen, mit oder ohne Waffe.
Ob die liberale Weltordnung des Westens in Gefahr sei
Auch da ist Politikwissenschafter Carlo Masala in seiner Analyse klar und hart: "Wir sind gerade dabei, den Kampf um unsere liberale Weltordnung zu verlieren." Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei der Wendepunkt gewesen und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Konflikt zwischen den Großmächten käme. Masala im "Zeit"-Interview: "Was mich allerdings überrascht hat, ist die Geschwindigkeit, mit der sich jetzt alles entwickelt." Die Reaktionen des Globalen Südens auf den Krieg in Gaza, das Agieren der Chinesen oder wie Russland das strategische Vakuum in der Sahelzone fülle, seien nur drei Beispiele dafür. Und auch die hybride Kriegsführung Russlands und Chinas würde in Europa noch komplett unterschätzt.