Juden in österreich

"Wir haben es mit einer Explosion antisemitischer Vorfälle zu tun"

Ist Österreich für Juden noch ein sicherer Ort? Benjamin Nägele, Generalsekretär der Kultusgemeinde, über den neuen Antisemitismus-Bericht, Hass und Linke. 

Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) und Leiter der Antisemitismus-Meldestelle
Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) und Leiter der Antisemitismus-Meldestelle
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Christian Nusser
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Newsflix: International häufen sich die antisemitischen Angriffe auf Juden. Trifft das auch auf Österreich zu?
Benjamin Nägele: Ja, uneingeschränkt. Wie in ganz Europa haben wir es auch in Österreich seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 mit einer regelrechten Explosion antisemitischer Vorfälle zu tun.

Newsflix: Welche Entwicklung hat das in den letzten Jahren, in den letzten Monaten genommen?
Nägele: Wir stellen gerade den Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle für das Jahr 2023 fertig. Darin sieht man, dass es seit 2021 und bis Oktober 2023 einen Rückgang der gemeldeten Vorfälle gab. Das Massaker gegen Israelis hat leider zu einer deutlichen Zunahme der Anfeindungen und Übergriffe geführt.

Teile der muslimischen Community sind dafür besonders anfällig. Hier wurde zu lange weggeschaut
Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde

Newsflix: War der 7. Oktober eine Zäsur, also hat sich durch das Hamas-Massaker in Wien, in Österreich maßgeblich etwas geändert?
Nägele: "Zäsur" trifft's. Dabei gehen die Gefahren von Extremisten einerseits, aber auch von politischen Mitläufern aus. Wir erleben eine vermeintlich politisch korrekte Täter-Opfer-Umkehr, wobei immer Israel – als der Jude unter den demokratischen Staaten – beschuldigt wird. Natürlich sind auch die Menschen im Gazastreifen Opfer der Hamas-Terrorherrschaft. Viele palästinensische Zivilisten sind gewissermaßen auch Geisel der Hamas. Sie werden für Propagandazwecke geopfert, eine Propaganda, die aus menschlichem Leid antisemitische Hetze produziert. Teile der muslimischen Community sind dafür besonders anfällig. Hier wurde zu lange weggeschaut.

Gedenkkundgebung der Israelitischen Kultusgemeinde für 1.200 israelische Geiseln der Hamas am 7. März 2024 in Wien
Gedenkkundgebung der Israelitischen Kultusgemeinde für 1.200 israelische Geiseln der Hamas am 7. März 2024 in Wien
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Newsflix: Es gab vergangene Woche wieder zumindest zwei antisemitische Vorfälle. Was weiß man darüber?
Nägele: Das sind nur die Vorfälle, die medial bekannt sind. Wir wissen, dass die Sicherheitsbehörden solche Vorfälle sehr ernst nehmen und verfolgen. Sehr viel geschieht online, was gerne verharmlost wird. Dabei ist der Gedanke der erste Schritt, es folgen zu oft Worte und auch Taten. Die Frage, die sich jeder stellen muss: Wo ziehe ich die Grenze und schreite ein. Bei der Tat ist es meist zu spät.

Newsflix: Ist Österreich für Juden ein sicherer Ort?
Nägele: Österreich ist weiterhin eines der sichersten Länder der Welt. Das gilt auch für Jüdinnen und Juden. Aber damit Österreich weiterhin so sicher bleibt, braucht es jede und jeden. Wir arbeiten gut mit der Exekutive zusammen, aber die Exekutive kann auch nicht jedes gesellschaftliche Problem lösen.

Newsflix: Wie gehen Juden im Alltag mit der neuen Bedrohungslage um?
Nägele: Es ist besorgniserregend zu sehen, wenn manche auf der Straße nicht mehr als Juden sichtbar sein möchten, weil sie schlicht und ergreifend Angst vor Übergriffen haben. Unsere Sicherheitskräfte sind seit dem 7. Oktober im Ausnahmezustand und machen einen ausgezeichneten Job, ebenso wie die Polizei und das Bundesheer. Dennoch sind viele Menschen verängstigt. Einige überlegen nicht mehr nur leise, ob sie nicht doch auswandern werden.

Palästinenser-Demo am Stephansplatz: "Das Aufstacheln zum Hass sollte bei uns nicht nur theoretisch untersagt sein"
Palästinenser-Demo am Stephansplatz: "Das Aufstacheln zum Hass sollte bei uns nicht nur theoretisch untersagt sein"
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Newsflix: Gehen Menschen seit dem 7. Oktober mit Juden anders um? Im Alltag, auf der Straße, im öffentlichen oder privaten Bereich?
Nägele: Am Anfang gab es noch eine große Anteilnahme, doch leider hat sich das Bild sehr schnell gewandelt. Jüdinnen und Juden sind nicht die Vertreter Israels, auch wenn dieses Land unsere kulturelle und spirituelle Heimat ist. Zuhause sind wir hier in Wien. Die Anfeindungen in der Schule, an den Unis und anderswo sind unerträglich. Auf der anderen Seite: Für viele Menschen, die als Jüdinnen und Juden erkennbar sind, ist die Erfahrung eines anderen Umgangs schon alltäglich, auch wenn er sich über die vergangenen Jahrzehnte sukzessive normalisiert hat.

Newsflix: Der neue Antisemitismusbericht wird demnächst präsentiert. Was lässt sich dazu schon sagen?
Nägele: Der Bericht beinhaltet die gemeldeten und verifizierten antisemitischen Vorfälle im Jahr 2023. Aktuell wird dieser Bericht fertiggestellt, weshalb ich keine Zahlen daraus zitieren möchte. Aber wir hatten in den ersten 70 Tagen nach dem 7. Oktober 2023 mindestens 580 Vorfälle registriert. Im Vergleich zum Tagesdurchschnitt im Jahr 2022 war das eine Vervierfachung. Leider stieg diese Zahl im Dezember nochmals an.

Einige überlegen nicht mehr nur leise, ob sie nicht doch auswandern werden
Benjamin Nägele über die Bedrohungslage

Newsflix: Was müsste die Politik tun, um Juden zu schützen?
Nägele: Politisch sind sehr viele richtige Schritte gesetzt worden. Das Kulturerbegesetz oder die Nationale Strategie gegen Antisemitismus sind zwei von vielen Beispielen. Auch die Solidaritätsbekundungen aus allen relevanten politischen Lagern bestärken unsere Gemeindemitglieder. Der Kampf gegen Antisemitismus ist aber eben nicht nur politisch zu führen, da geht es um jeden einzelnen.

Newsflix: Was müsste die Zivilgesellschaft tun, um Juden zu schützen?
Nägele: Ich will keinen Forderungskatalog präsentieren. Angesichts der aktuellen Situation wäre ein großer Schritt getan, wenn Medien keine Hamas-Propaganda, manchmal mit UNO-Mascherl, verbreiten. Israelbezogener Antisemitismus ist aktuell eine der größten Bedrohungen, und die wird auch durch Desinformation genährt.

Newsflix: Wie erleben Sie die Palästinenser-Demonstrationen in Wien? Sollten sie untersagt werden?
Nägele: Das Aufstacheln zum Hass sollte bei uns nicht nur theoretisch untersagt sein. Unter normalen Umständen müssten sogenannte Palästinenser-Demos das Ende der Hamas fordern. Die Befreiung der israelischen Geiseln würde dann auch die Befreiung der Palästinenser von der Hamas-Herrschaft bringen.

Judith Butler, Begründerin der Gender Studies, nannte das Hamas-Massaker vom 7. Oktober auf einer Veranstaltung in Paris "einen Akt des "Widerstands".
Judith Butler, Begründerin der Gender Studies, nannte das Hamas-Massaker vom 7. Oktober auf einer Veranstaltung in Paris "einen Akt des "Widerstands".
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Newsflix: Viele Menschen waren von Wortmeldungen oft Linker, oft Intellektueller überrascht, die den Hamas-Terrorangriff relativieren, zuletzt etwa Judith Butler. Hat Sie das überrascht?
Nägele: Nein, Judith Butler hat schon früher die Hamas und die Hezbollah als Verbündete betrachtet. Nichts daran ist überraschend, es scheinen nur erstmals mehr Menschen zu verstehen, wie gefährlich diese Aussagen sind. Wenn Feministinnen Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Mord als Widerstand bezeichnen, dann wissen Sie, dass hier etwas nicht stimmt.

Wenn Feministinnen Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Mord als Widerstand bezeichnen, dann wissen Sie, dass hier etwas nicht stimmt
Benjamin Nägele über Judith Butler

Newsflix: Steckt da Judenhass dahinter, oder was ist die sonstige Motivationslage?
Nägele: Die Motivation ist mir in erster Linie egal. Es zählt doch nur was passiert. Wenn zum Hass aufgestachelt wird oder noch Schlimmeres, dann ist es doch egal, was sich die Person davor dabei gedacht hat. Juden werden gerne zu Sündenböcken gemacht. Das unterscheidet Antisemitismus auch von Rassismus. Es ist kein bloßes Vorurteil, sondern Ressentiment. Der Feind wird als minderwertig betrachtet und zugleich soll er mächtig sein. Auf Demos wird "Ceasefire" und "Intifada" gerufen.

Newsflix: Ist Judenhass ein linkes, ein rechtes Problem?
Nägele: Es ist in erster Linie das Problem der Antisemiten. Am ehesten ist es eine Krankheit, die psychotherapeutisch behandelt gehört. Rechts haben wir speziell in Österreich ein großes Problem, das zeigt jede Erhebung und auch die Vorfallsstatistik. Der muslimische Antisemitismus ist religiös aufgeladen. Dazu kommt der politische Islam, besonders durch religiös-nationalistische Proponenten aus der Türkei, die hier Öl ins Feuer gießen. Judenhass von Links wird gerne verharmlost. Er war bisher quantitativ und qualitativ selten mit jenem von Rechts oder dem muslimischen Antisemitismus vergleichbar. Das hat sich spätestens ab dem 7. Oktober 2023 geändert.

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