PETER HAJEK
"Die alten weißen Männer werden sagen: Es ist angerichtet"
Die Affäre Lena Schilling: Was das für den Wahlkampf heißt, ob Werner Kogler beschädigt ist, wo die Grenze zum Privaten liegt. Polit-Experte Peter Hajek analysiert.
Im "Standard" waren am Dienstag schwere Vorwürfe erhoben worden (hier gibt es die Details zum Nachlesen). Lena Schilling, Spitzenkandidatin der Grünen für die EU-Wahl, habe ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit, erfinde Affären, habe Mitstreiterinnen in der Klimabewegung abgekanzelt. Egal, was an der Sache dran ist, für die Grünen kommen die Enthüllungen zur Unzeit. In einem Monat wählt Europa ein neues Parlament, knapp drei Monate später wird in Österreich ein neuer Nationalrat gewählt.
Ein Rücktritt von Schilling stand für die Grünen schnell außerhalb jeder Debatte. Er wäre auch folgenlos, denn die Kandidatenliste steht. Schilling wäre auch nach einem Rücktritt Spitzenkandidatin am Wahlzettel geblieben. In einer Pressekonferenz errichtete die Parteispitze am Mittwoch eine Betonmauer um ihre Frontfrau, Vizekanzler Werner Kogler nannte die Vorwürfe ein "Gefurze" und "Schmutzkübelkampagne".
Was aber sind die Folgen der Affäre? Für die Partei? Die Wahlen? Für Kogler? Polit-Experte Peter Hajek über:
Ob das für die Grünen ein Super-GAU ist
Schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht. Die Erfahrung zeigt, dass so etwas 33 Wendungen nehmen kann. Es wird weiter recherchiert, Menschen können auftauchen, die Schilling verteidigen oder aber auch belasten.
Welche Möglichkeiten es gibt
Ich sehe drei Varianten. Erstens den tatsächlichen Super-GAU und die Grünen stürzen bei den Wahlen deshalb ab. Zweitens: Es gibt Solidarisierungs-Effekte und plötzlich stehen sie besser da. Drittens: Die Geschichte interessiert rasch niemanden mehr und die Grünen sitzen das aus.
Welche Variante die wahrscheinlichste ist
Sagen wir so: Variante 3 ist eher nicht zu erwarten.
Warum der Zeitpunkt heikel ist
Weil Wahlkampf herrscht, mit Interviews, TV-Auftritten. Das Thema wird dauerhaft präsent bleiben.
Was passieren kann
Dass Lena Schilling in klassischen Medien mit Interviews so gut wie nicht mehr vorkommt. Sie verschwindet. Etwa weil als Bedingung gestellt wird, dass über die Vorwürfe nicht oder nicht ausführlich geredet werden soll und die Medien eine solche Vereinbarung ablehnen.
Und im Fernsehen?
Viel Spaß. Die alten, weißen Männer werden sagen: "Es ist angerichtet."
Ob die Vorwürfe mehr Gewicht bekommen, weil sie im "Standard", also eher im grünen Milieu, publiziert wurden
Ja, es wäre sicher anders gewesen, wenn es vom Boulevard oder von AUF 1 (rechter TV-Sender, Anm.) gekommen wäre. Das ist vermutlich der tatsächliche Super-GAU.
Woran sich das auch ablesen lässt
Im Forum des "Standard" gab es bis Mittwoch zu Mittag über 6.000 Postings und die gehen fast alle in eine Richtung: Die moralischen Grünen haben ein echtes moralisches Problem.
Woran sich die Moral orientiert
Die Grenze liegt bei der Frage: Wie weit ist etwas rein privat und wie weit hat es eine politische Komponente? Eine Person, die ins öffentliche Leben tritt, muss sich bewusst sein, dass sie moralisch integer zu sein hat. Es geht ja in diesem Fall nicht darum, ob sie irgendeinen Schokoriegel hat mitgehen lassen. Sexuelle Belästigung ist für die Grünen ein relevantes Themenfeld, egal ob vermeintliches Opfer oder vermeintlicher Täter. Dort hat sich jeder einwandfrei zu verhalten.
Ob es die Trennung zwischen Privat und Beruf in diesem Bereich überhaupt gibt
Nein, ich erinnere an führende Journalisten des Landes, die auf Twitter plötzlich privat sind.
Ob Politik über keine Privatsphäre verfügt
Doch, beim Gesundheitszustand von Politikern sind die Österreicher sehr sensibel, bei Scheidungen, auch was sexuelle Präferenzen betrifft. Im angelsächsischen Bereich ist das ganz anders.
Wie die Grünen kommuniziert haben
Wie eine klassische Altpartei. Sie haben nicht anders reagiert als jede andere Partei bisher in dieser Situation. Ich kann mich ja hinter meine Kandidatin stellen und felsenfest davon überzeugt sein, dass nichts an den Vorwürfen dran ist. Aber wenn ich dann in der Pressekonferenz aufgefordert werde: "Dann sagen Sie mir doch, was an der Berichterstattung falsch ist!", dann muss die Antwort kommen: "Alles." Oder: "Ganz große Teile." Wenn ich nicht so antworte, wird es problematisch.
Ob die Grünen nicht mehr Empathie für die Opfer zeigen hätten müssen
Ja, aber da wird es heikel, weil da ist man schnell bei einem Schuldeingeständnis. Die Freiheitlichen hätten mit einem frontalen Gegenangriff reagiert. "Wir werden alle klagen." Aber das wurde auch nicht gemacht.
Ob sie damit einen Blumentopf gewonnen hätten
Es gibt Situationen, da hat man nur die Wahl zwischen "bad" und "worst", also zwischen "schlecht" und "am schlechtesten".
Was sonst auffiel
Es hat so ausgesehen, als hätten die Vorwürfe die Grünen komplett unvorbereitet getroffen. Dabei wurde schon tagelang vorher recherchiert und es wurden auch Anfragen an die Grünen gestellt. Man hätte sich tippi-toppi vorbereiten können. Das hat mich überrascht.
Ob das innerhalb der Grünen für Streit sorgen wird
Es wird garantiert eine Debatte über Quereinsteiger geben. Wer hat sie geholt und warum?
Ob sich Werner Kogler selbst beschädigt hat
Das ist momentan noch schwer zu beurteilen. Aber Rückenwind schaut anders aus.
Peter Hajek ist Geschäftsführer und Eigentümer von "Unique Research", promovierter Politikwissenschafter und akademisch geprüfter Markt- und Meinungsforscher. Er beschäftigt sich seit 25 Jahren mit empirischer Sozialforschung. Lehraufträge an Universitäten, Fachhochschulen