Großbritannien kehrt mit einem Bein – oder eher mit einem Zeh – in die Europäische Union zurück. Am Montag wurde in London das erste Abkommen seit dem Austritt 2020 unterzeichnet. Was sich ändert, wer profitiert, was Kritiker sagen.
Die alten Schützengräben waren schnell bezogen. Nachdem der britische Premierminister Keir Starmer und die EU-Spitzen am Montag ihr Abkommen öffentlich gemacht hatten, schrieb die britische Boulevardpresse vom "Brexit-Betrug". Die Opposition nannte die Vereinbarung, von der man nur Bruchstücke kennt, "Kapitulationsvertrag".
Das ist ziemlich weit hergeholt, denn die neue Vereinbarung ist nicht besonders weitreichend und größtenteils sehr vage. Am Ende kam ein Pakt heraus, der von den Verhandlern mit Superlativen gefeiert wird, den Kritiker als Einknicken sehen, der aber zumindest eine Trendumkehr markiert. Was Sie darüber wissen müssen:
Was ist überhaupt passiert?
Im prachtvolle Lancaster House im Zentrum Londons gaben Ursula von der Leyen (Präsidentin der Europäischen Kommission), António Costa (Präsident des Europäischen Rates) und der britische Premierminister Keir Starmer am Montag eine erste Serie von Vereinbarungen zwischen der EU und Großbritannien bekannt. Übertitel: "Reset", also Neustart.
Was wurde neu gestartet?
Die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien, die durch den Brexit gelitten hatten. Es ist davon auszugehen, dass die am Montag präsentierten Vereinbarungen nur der Auftakt zu weiteren Kooperationen waren.
Worum geht es im "Reset"?
Im Wesentlichen um eine engere militärische Zusammenarbeit, Abbau von Handelsbeschränkungen, Reiseerleichterungen und um Sicherheit.
Worum geht es definitiv nicht?
Eine Rückkehr der Briten in die EU, auch nicht auf Samtpfoten. Die Briten machten klar, dass sie an ihren roten Linien festhalten. Sie werden dem Binnenmarkt und der Zollunion nicht beizutreten und die Personen-Freizügigkeit nicht wieder aufnehmen.
Wie feierten sich die Teilnehmer selbst?
Mit markigen Worten. Starmer sah Großbritannien zurück auf der Weltbühne und nannte den Deal "bahnbrechend". Dann streute er etwas Trump ein und sagte, er habe "ein gutes Geschäft" gemacht. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sprach von einem "historischen Moment".
Warum haben die Briten auf den Deal gedrängt?
Weil die EU ihr wichtigster Handelspartner ist. Die Union nimmt ihnen 40 Prozent der Exporte ab, doppelt so viel wie die USA und 20 Mal so viel wie Indien. Mit beiden anderen Ländern hatte Starmer kürzlich Zoll- bzw. Handelsabkommen abgeschlossen.
Wann traten die Briten aus der EU aus?
Am 31. Januar 2020 verließ Großbritannien offiziell die Europäische Union. Damit wurde das Ergebnis des Referendums von 2016 umgesetzt.
Wie war die Abstimmung ausgegangen?
51,9 Prozent der Briten hatten für den Ausstieg gestimmt, 48,1 Prozent waren für einen Verbleib. 1,27 Millionen Stimmen machten den Unterschied.
Waren alle Briten dafür?
Nein, in England fiel das Votum klar aus (53,4 Prozent für Ausstieg), auch in Wales fand sich eine Mehrheit (52,5 Prozent). Aber in Nordirland waren 55,8 Prozent für einen Verbleib, in Schottland sogar 62 Prozent.
Wie sehen die Briten den Brexit heute?
Eine deutliche Mehrheit hält ihn inzwischen für einen Fehler. 55 Prozent der Briten meinen, der Austritt Großbritanniens aus der EU sei falsch gewesen. Nur 11 Prozent sehen den Brexit eher als Erfolg denn als Misserfolg, ergab eine Umfrage von YouGov.
An erster Stelle steht das Militär, oder?
Ja. Aufgrund der neuen Sicherheitslage (Trump, Russland, Ukraine) wurde ein Verteidigungs- und Sicherheitspakt zwischen Großbritannien und der EU geschlossen. Es ermöglicht britischen Rüstungsunternehmen den Zugang zu einem EU-Verteidigungsfonds in Höhe von 150 Milliarden Euro, der Kredite für Verteidigungsprojekte bereitstellt.
Was ist mit der Wirtschaft?
Hier sollen vor allem Handelshemmnisse abgebaut werden. Britische Lebensmittelprodukte sollen einfacher in die EU gebracht werden können. Die Agrarexporte sollen dadurch um über 20 Prozent steigen, ein geschätzter wirtschaftlicher Gesamtgewinn von 9 Milliarden Pfund bis 2040.
Was heißt das in der Praxis?
Keir Starmer Büro verkauft den Deal so: "Nach dem Rückgang der Exporte um 21 Prozent und der Importe um 7 Prozent seit dem Brexit wird Großbritannien wieder in der Lage sein, verschiedene Produkte wie Burger und Würstchen in die EU zu verkaufen und so diese wichtigen britischen Industrien zu unterstützen."
Weit hergeholt, oder?
Nicht wirklich. Frischfleisch, Gemüse, Holz, Wolle und Leder sollen von den sogenannten sanitären und phytosanitären Kontrollen (SPS) ausgenommen werden. Mit einem Schlag bedeutet dies, dass Käse- und Wursthersteller wieder ohne Gesundheitszertifikat in die EU verkaufen können. Also auch rohe Burger und Würstchen.
Wie ist das mit Arbeitskräften?
Beide Seiten arbeiten an der gegenseitigen Anerkennung von Berufsabschlüssen und Qualifikationen, um die Mobilität von Fachkräften zu fördern. Nach dem Brexit waren den Briten vor allem Pflegekräfte abhanden gekommen.
Was ist mit Sicherheit?
Hier wurde eine engere Zusammenarbeit vereinbart. Großbritannien erhält wieder Zugriff auf Europol-Datenbanken, also DNA- und Strafregister, Fingerabdrücke, Fahrzeugzulassungen, gestohlene Waren. Der Ausweitung des Datenaustausches auf Gesichtsbilder wird überprüft.
Bezieht sich das auch auf die Migration?
Auch hier soll die Zusammenarbeit vertieft werden. Die "British Border Force" soll in Echtzeit Informationen von Behörden in Aufnahmeländern wie Italien, Griechenland, den Balkanstaaten und den Kanarischen Inseln in Spanien erhalten, so der Guardian.
Was passiert beim Klimaschutz?
EU und Großbritannien bekundeten, dieselben Ziele zu haben. Die Emissionshandelssysteme werden miteinander verknüpft, um den Handel mit Emissionszertifikaten zu erleichtern. Ein gemeinsamer Strommarkt wird angestrebt.
Was ist das jetzt mit der Fischerei?
In Großbritannien ein hochemotionales Thema. Im neuen Pakt mit der EU wurde aber lediglich festgeschrieben, dass die geltenden Regelungen bis 2038 fortgesetzt werden. Die EU-Fischereiflotten erhalten für weitere 12 Jahre, also bis 2038, Zugang zu britischen Gewässern. Diese Entscheidung stieß auf Kritik seitens der britischen Fischereiindustrie.
Warum sind die Briten darauf eingestiegen?
Das war in der Tat das letzte heikle Kapitel, das noch bis Montag früh verhandelt wurde. Die EU hat ausgenutzt, dass der Pakt in Großbritannien vorab durchsickerte, Starmer stand also unter Erfolgszwang. In Sachen Angelei: Die EU verpflichtete sich im Gegenzug, den bürokratischen Aufwand für britische Fischereibetriebe zu reduzieren, wenn sie ihre Waren in die EU exportieren wollen.
Warum ist das für die Briten relevant?
Weil sie 70 Prozent ihrer gefangenen Fische in die EU exportieren.
Was bedeut das Abkommen für Reisende?
Briten sollen am Flughafen wieder die elektronischen Gates der EU benutzen dürfen. Sie werden also so behandelt wie vor dem Brexit. Unklar ist, wann das startet. Laut Verhandlungstext erst „nach der Einführung des Einreise-/Ausreisesystems der Europäischen Union (EES)".
Was ist das EES?
Das neues Grenzsystem zur Registrierung von Besuchern aus Nicht-EU-Ländern, die in die Union einreisen. Es soll im Oktober in Kraft treten. Heißt für Briten: Diesen Sommer ist es noch nichts mit der schnelleren Abfertigung...
... oder?
Der Abgeordnete Nick Thomas-Symonds, der die Verhandlungen mit der EU leitete, sagte zu BBC Radio 4: "Es gibt keine rechtlichen Hindernisse für die Nutzung von E-Gates durch britische Bürger in den Mitgliedsstaaten. Es geht um die einzelnen Mitgliedsstaaten." Heißt: Es kommt noch zu einer Klärung bis Sommer, oder jedes Land tut wie es meint.
Was bedeutet der Deal für Studenten?
Nach dem Brexit war die Zahl der Studierenden aus der EU eingebrochen. Wer in Großbritannien ein Studium oder ein Auslandssemester absolvieren wollte, musste nun die gleichen Studiengebühren zahlen wie alle anderen aus der ganzen Welt. Das bedeutete eine Verdreifachung der Kosten.
Was bedeutet das in Zahlen?
Für Briten beträgt die Studiengebühr zum Beispiel in Cambridge ab 9.535 Pfund pro Jahr, also rund 11.300 Euro. Das hatten bis zum Brexit auch etwa Studenten aus Österreich zu bezahlen. Nach dem Austritt begannen für Ausländer die Studiengebühren bei 27.024 Pfund im Jahr. Wer Lust auf Medizin oder Veterinärmedizin hat, muss 70.554 Pfund hinblättern. Pro Jahr.
Was ändert sich jetzt?
Noch ist das nicht ganz klar, weil erst darüber verhandelt wird, aber es wird wohl eine Rückkehr zum alten System angestrebt. Wenn sich die Unis, die steuerlich in Großbritannien auch bluten mussten, das leisten können. Und wollen.
Wie ist das bei anderen Programmen?
Auch da ist noch alles sehr vage. Ein neues "Jugenderfahrungsprogramm" (der frühere "Jugendmobilitätsplan") soll eingeführt werden, das jungen Menschen aus beiden Regionen temporäre Arbeits- und Studienaufenthalte ermöglicht. Zudem wird das Vereinigte Königreich wieder am Erasmus-Programm teilnehmen.
Was sagen Kritiker?
Nigel Farage, Vorsitzender der rechtspopulistischen Reform UK Party, Wegbereiter des Brexit und zuletzt bei Wahlen sehr erfolgreich, hat angekündigt, den Deal aufzukündigen, sollte er Premierminister werden. In den sozialen Medien nannte er das Fischereiabkommen "das Ende der Fischereiindustrie". Der schottische Fischerverband bezeichnete es als "Horrorshow".
Und andere Stimmen?
Kemi Badenoch, Vorsitzende der Konservativen Partei, sagte, sie sei "baff". Es handle sich um einen "Ausverkauf", Großbritannien werde „wieder einmal zu einem Brüsseler Regelempfänger." Künstlern wie Elton John geht der Deal wiederum nicht weit genug. Sie vermissen eine Vereinbarung, die britischen Musikern Tourneen in der Europäischen Union erleichtert.