Erstmals zu hören

Geheimes Tondokument: So wurde Österreich zur Diktatur

Von "I wer' narrisch" bis "Gott schütze Österreich!": Das Haus der Geschichte widmet sich in einer Schau bedeutenden Hör-Momenten. Entdeckt wurde auch eine verschollene Radioansprache von Engelbert Dollfuß. Die Geschichte dahinter ist hörenswert.

Der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in seinem Arbeitszimmer bei einer Rundfunkansprache zum 1. Mai 1934
Der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in seinem Arbeitszimmer bei einer Rundfunkansprache zum 1. Mai 1934
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Christian Nusser
Uhr
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Wie war das jetzt genau? Hat Edi Finger I wear narrisch“ oder "I werd' narrisch" oder doch "I wer' narrisch" ins Mikrophon gebrüllt?

Die Sache ist nicht ganz eindeutig, obwohl es sich eindeutig um ein zeithistorisch relevantes Ereignis handelt. Oder doch nicht? Am 21. Juni 1978 besiegte Österreichs Fußball-Nationalteam in Córdoba "die Deutschen" mit 3:2. Es war ein schon völlig bedeutungsloses Match, wurde aber durch die Radioübertragung bedeutungsschwanger.

Nun kann sich jeder im Haus der Geschichte Österreich (hdgö) selbst ein Bild vom Ton machen. Am Donnerstag öffnete eine Ausstellung, die sich mit prägnanten Hörbeispielen aus den letzten 100 Jahren beschäftigt. Bei der Erstellung der Schau wurde sogar ein geheimes Tondokument der "Dollfuß-Rede" 1934 entdeckt. Das müssen Sie über die Ausstellung wissen:

Wie heißt die Schau genau?
"Es funkt! Österreich zwischen Propaganda und Protest".

Am Eingang hängen 60 Kopfhörer zur freien Entnahme
Am Eingang hängen 60 Kopfhörer zur freien Entnahme
Helmut Graf

Wo läuft sie?
In Haus der Geschichte, Neue Hofburg, am Wiener Heldenplatz. Das Museum ist über den Eingang Nationalbibliothek erreichbar.

Wie lange ist "Es funkt!" zu sehen?
Ab sofort und bis 6. Jänner 2026. Die Ausstellung ist von Dienstag bis Sonntag von 10 Uhr bis 18 Uhr und am Donnerstag von 10 Uhr bis 21 Uhr zu besuchen. Erwachsene zahlen 10 Euro, es gibt Ermäßigungen. Kinder und Jugendliche unter 19 Jahre können gratis rein.

Was fällt beim Besuch sofort auf?
Die vielen Kopfhörer, die zur freien Entnahme am Eingang hängen. Logisch: Eine Ausstellung übers Hören sollte hörbar sein. Damit jede(r) etwas davon hat und niemanden stört, heißt es: Kopfhörer auf!

Ist das nicht unhygienisch?
Nein, es handelt sich um Over-Ear-Kopfhörer und keine Stöpsel. Die insgesamt 60 Stücke werden zweimal am Tag desinfiziert, es liegen auch Desinfektionstücher auf, damit man das selber machen kann.

Blick von der Ausstellung auf den (gesperrten) "Hitler-Balkon"
Blick von der Ausstellung auf den (gesperrten) "Hitler-Balkon"
Helmut Graf

Aber was ist jetzt in der Ausstellung zu sehen?
Es gibt sechs Stationen mir jeweils vier Räumen, in denen alles in allem 60 Hörbeispiele angeboten werden und das in sehr unterschiedlicher Länge. Die Originalaufnahmen sollten möglichst nicht zerschnitten werden, damit die Besucherinnen und Besucher einen unverfälschten Gesamteindruck bekommen.

Aber warum Ton und nicht Video?
Berechtigter Einwand in einer visuellen Welt. Es ist allerdings so, dass sich Österreichs jüngere Geschichte nur über Ton erzählen lässt. Wir sind ein Radioland. Es gibt von bedeutsamen Ereignissen oft lediglich Tonmaterial.

Zum Beispiel?
Na, etwa die Rede von Leopold Figl nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages. Hier ist der bekannte Satz zu hören: "Österreich ist frei!"

Belvedere 1955 (v.l.): Llewellyn Thompson, John Foster Dulles (beide USA), Antoine Pinay (Frankreich), Leopold Figl, Adolf Schärf, Wjatscheslaw Molotow (UdSSR), Julius Raab und Iwan Iljitschow (UdSSR)
Belvedere 1955 (v.l.): Llewellyn Thompson, John Foster Dulles (beide USA), Antoine Pinay (Frankreich), Leopold Figl, Adolf Schärf, Wjatscheslaw Molotow (UdSSR), Julius Raab und Iwan Iljitschow (UdSSR)
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Aber der Satz fiel doch am Balkon vor allen Leuten, oder?
Das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955 im Marmorsaal des Belvedere hielt Außenminister Lepold Figl als Letzter eine rund vier Minuten lange Rede. Sie endete mit dem Satz: "Österreich ist frei!" Danach traten alle Außenminister auf den Balkon. Figl winkte der jubelnden Menge zu – aber schwieg.

Warum glauben dann alle, dass der Satz am Balkon fiel?
Einmal, weil die Zeremonie, zu der nur Diplomaten Zugang hatten, live im Radio übertragen wurde. Das österreichische Fernsehen startete erst 1957. Zum anderen: Im Kino aber gab es seit 1949 eine "Wochenschau" vor dem Film. Die Bilder vom Balkon wurden mit dem Ton aus dem Marmorsaal unterlegt. Voilà! Die (falsche) Erzählung verselbständigte sich. In der Ausstellung im Haus der Geschichte ist die originale Tonaufnahme nun zu hören.

Was man dabei nicht hört?
Was es beim Staatsbankett am Abend für die 85 Gäste zu essen gab, in Österreich immer ein Thema. Unter anderem Brandteigkrapferln mit Gansleber, Kraftsuppe mit Markscheiben, Seezungenfilet in Weißweinsauce und Spargel, Filet mit Champignons und Paradeiser, gefülltes Huhn, Eiscreme und Mokka; als Weinbegleitung etwa Dürnsteiner Katzensprung.

Die Reproduktion des Bundesadlers für das Ausweichquartier des Parlaments
Die Reproduktion des Bundesadlers für das Ausweichquartier des Parlaments
Helmut Graf

Der Figl-Satz ist aber nicht der "Star" der Ausstellung, oder?
Nein, sie ist in vier Bereiche geteilt, die jeweils geschichtliche Bedeutung haben. Am spektakulärsten ist eine Tonaufnahme von Engelbert Dollfuß.

Die sechs Themenbereiche der Ausstellung

  • 1. Mai 1934 Die Rede von Bundeskanzler Dollfuß, Österreich wird zur Diktatur
  • 11. März 1938 Die Rücktrittsrede von Kurt Schuschnigg, "Gott schütze Österreich!" Die Nazis übernehmen endgültig die Macht
  • 15. Mai 1955 Die Unterzeichnung des Staatsvertrags
  • 1964 Das Rundfunk-Volksbegehren, das den ORF politisch befreien sollte
  • 1993 Das Aufblühen der Radio-Piraterie gegen das ORF-Monopol
  • 2025 Die aktuelle politische Situation und die Medien
Um nicht aufgespürt zu werden, blieben die Privatradio-Piraten mit dem Sender per Rad mobil
Um nicht aufgespürt zu werden, blieben die Privatradio-Piraten mit dem Sender per Rad mobil
Helmut Graf
Klassiker aus einer längst vergangenen Zeit: Musik-Kassetten
Klassiker aus einer längst vergangenen Zeit: Musik-Kassetten
Helmut Graf

Warum ist die Dollfuß-Rede so relevant?
In vielen Geschichtsbüchern ist über die "Trabrennplatzrede" des damaligen Kanzlers zu lesen, gehalten am 11. September 1933. Er kündigt den "sozialen, christlichen, deutschen" Ständestaat "unter starker, autoritärer Führung" an. ("Gott will es"). Nicht minder bedeutsam aber ist die Ansprache am 1. Mai 1934, denn sie markiert einen historischen Wendepunkt. Dollfuß verkündete eine neue Verfassung und damit das Ende der 1. Republik. Von da an war Österreich ein autoritärer Staat.

Was ist davon nun zu hören?
Die gesamte Rede von Dollfuß, die im Radio gehalten wurde. Sie ist rund eine Viertelstunde lang, bisher war kein Tondokument davon verfügbar.

Wie tauchte es nun auf?
Ein Mann, der anonym bleiben will, zeichnete die Radiorede damals mit einem Tonband auf. Danach ließ er sich das Zeitdokument auf eine Schallplatte pressen und nahm sie mit, als er "ins Exil" musste, wie das Museum sagt, mehr aber nicht. Der unbekannte Mann war sich immer bewusst, dass er die bedeutsame Aufnahme besaß, nicht aber, dass es sich um ein Unikat handelt. Im Zuge der Recherche stieß das Museum nun darauf.

Das Tor, das Fußball-Österreich ganz narrisch machte
Das Tor, das Fußball-Österreich ganz narrisch machte
Helmut Graf

Welche anderen Ereignisse werden beleuchtet?
Teil des Museums ist auch der "Hitlerbalkon". Von hier aus verkündete der "Führer" am 15. März 1938 vor mehr als 200.000 jubelnden Menschen den "Anschluss", Österreich wurde Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs. Blaue Sitzmöbel in Blickrichtung Balkon und ein Rednerpult laden im Rahmen der Ausstellung zur Reflexion ein.

Gibt es auch ein Tondokument dazu?
Ja, vor allem eine Reportage aus einem anderen Blickwinkel. Zu hören ist nämlich ein US-Reporter, der live vom Heldenplatz aus berichtet. Sein zentraler Satz: "I think all we can do is listen for ourselves", ich denke, alles was wir tun können, ist selbst zuzuhören.

Muss sein, was gibt es zu Córdoba?
Was viele vergessen: Berühmt wurde nicht die TV-Übertragung, sondern Edi Finger, der im Radio ausflippte. Im Wortlaut zu hören: "Schuss … Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor! I wer’ narrisch! Krankl schießt ein – 3:2 für Österreich! Meine Damen und Herren, wir fallen uns um den Hals; der Kollege Riepl, der Diplom-Ingenieur Posch – wir busseln uns ab. 3:2 für Österreich durch ein großartiges Tor unseres Krankl."

Was dabei immer noch auffällt?
Dass Edi Finger, sogar im Ausnahmezustand höchster Erregung, als Zeuge und Mitgestalter eines historischen Ereignisses, ja eines nationalen Erweckungs-Erlebnisses, nicht auf den korrekten akademischen Titel vergisst. Er sagt nicht einfach "Herr Posch", sondern "Diplom-Ingenieur Posch". Österreichischer wird es im österreichischen Haus der Geschichte nicht mehr.

Uhr
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