Deutscher Tarantino
"Kommando Ajax": Was im wildesten Roman des Frühjahrs steht
Ein Buch wie eine Achterbahnfahrt: Es gibt Verbrechen und Tote, gleichzeitig wird die vielschichtige Familiengeschichte eines kurdischen Clans in den Niederlanden erzählt. Angela Szivatz hat "Kommando Ajax" von Cemile Sahin gelesen – und konnte es kaum weglegen.

Rasantes Tempo, viele Vor- und Rückblenden, dazwischen immer wieder Angaben wie aus einem Filmskript. Alles an diesem Buch wirkt, als wäre es dazu geschrieben worden, verfilmt zu werden. Das ist als Erzählstruktur neu für einen Roman im deutschen Literaturraum.
Die Art des Blicks von außen erinnert dazu immer wieder an Bertold Brecht. Der Text baut sich aus detaillierten Angaben darüber, was man gerade sieht und hört, zusammen. Also all das, was auch die Protagonisten des Buches wahrnehmen. Das können genaue Kameraeinstellungen sein, Zooms, Soundbeschreibungen oder Uhrzeiten. Dazwischen gibt es immer wieder klassische Erzähl-Passagen.

Alles in allem ist "Kommando Ajax" von Cemile Sahin ein turbulenter Mix, der wirkt, als wäre man in einem Actionfilm gelandet. Bereits das ausführliche Personenverzeichnis macht schwindlig. Doch zum Glück ist es da. Im Lauf der Story wird man immer wieder hinblättern müssen. Denn schon nach ein paar Seiten liest sich das Buch wie ein Film von Quentin Tarantino, "Pulp Fiction" etwa. Voller Personen, Wendungen, Verschachtelungen. Damit nimmt einen die Geschichte gefangen. Was man über "Kommando Ajax" wissen muss:
Ist dieser Stil nicht sehr anstrengend?
Er ist anfangs gewöhnungsbedürftig. Sprache und Bilder sind so stark ineinander verwoben, als würde keines ohne das andere funktionieren. Aber es lohnt sich! Trotz der zeitweiligen Sperrigkeit des Textes gelingt es Sahin, uns an die Gefühlswelt ihrer Protagonisten anzudocken. Einzutauchen wäre hier zu viel gesagt, dafür geht alles zu schnell. Gleichzeitig kriegen wir, wie mit einem Verfolger-Scheinwerfer beleuchtet, auf alle wichtigen Figuren einen guten Blick, auch in ihr Inneres, in das, was sie bewegt.
Wer ist die Autorin?
Cemile Sahin heißt auf kurdisch Cemîla Şahîn. Sie wurde 1990 in Wiesbaden geboren. Ihre Familie hatte den Dersim-Aufstand überlebt, den letzten Kurdenaufstand in der Türkei, der sich 1937/38 in der Region Dersim ereignete. Ihre Eltern flüchteten nach Deutschland, übersiedelten nach London. Sahin studierte Bildende Kunst und Design, später an der Universität der Künste Berlin. Sie arbeitet mit Bildern und Geschichten, die sie mittels Film, Fotografie, Skulptur, Collage und anderen Medien neu inszeniert.
Ist sie als Bildende Künstlerin anerkannt?
Ihre multimedialen Arbeiten, die sich kritisch mit der Instrumentalisierung von Medien und der Bedeutung unterschiedlicher Perspektiven für die Geschichtsschreibung auseinandersetzen, wurden mit dem renommierten Ars-viva-Preis ausgezeichnet.

Wie kam sie zum Schreiben?
Für die Berliner Zeitung taz betreute sie zusammen mit Ronya Othmann als Autorin die Kolumne "Orient Express". 2019 erschien ihr Debütroman "Taxi", für den Cemile Sahin die Alfred Döblin-Medaille erhielt. Der Roman wurde 2021 am Münchner Residenztheater als 19-teilige Podcast-Lesereihe aufgeführt. Ihr zweites Buch "Alle Hunde sterben" erschien 2020 und behandelt die Grausamkeiten des türkischen Militärs gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei.
Wovon handelt "Kommando Ajax"?
Von der kurdischen Familie Korkmaz, fünf Brüder und eine Schwester, die 1995 nach Holland fliehen mussten, nachdem ihr Vater getötet und ihr Heimatdorf in Dersim niedergebrannt worden war. Die Männer arbeiten heute am Bau und als Handwerker. Fatma, die Schwester, als Putzfrau, wie alle ihre Schwägerinnen und überhaupt alle Kurdinnen. Die Story spannt sich über 30 Jahre bis 2025.
Wie geht das Buch los?
Mit der Hochzeit des jüngsten Bruders, Keko, in Delfshagen im Jahr 1995. Der Reihe nach tauchen alle Korkmaz-Männer auf: Ali Ekber, der spielsüchtig ist, sein Verdienst wandert in Spielautomaten oder Pokerrunden. Seine Frau Ayse hat lange keine Ahnung davon, seine Kinder Robin und Ridvan leiden darunter. Ali Hüseyin, der älteste Bruder, dicklich, gemütlich und ein künstlerisches Genie, verheiratet mit Zeyno, die ihn immer unterstützt. Er malt wie Caravaggio, dessen Bilder er kopiert, doch die Figur in den Bildern ist immer er selbst.
Wer gehört noch zur Familie?
Bruder Xidir, verwitwet und Vater von Arin. Er ist Elektriker und ein introvertierter Typ, zu dem alle Vertrauen haben. Dann Ali Haydar, der Fußballer werden wollte und jetzt eine Kindermannschaft trainiert. Er ist ein begnadeter Sänger, mit Ehefrau Gülcan hat er den Sohn Diyar. Und Fatma, die Schwester, geschieden von ihrem gewalttätigen Ehemann. Sie ist patent, nicht auf den Mund gefallen und checkt gemeinsam mit Ali Hüseyin alle Familienangelegenheiten.
Gibt es noch weitere wichtige Figuren?
Ja, vor allem Muzaffer, von allen nur Muro genannt. Er hatte schon in den 1990er-Jahren die Idee, eine Turnhalle zu kaufen und daraus einen Hochzeitssaal zu machen. Aus einem Saal wurden viele, man munkelt, er wäre Millionär. Er umgibt sich mit Bodyguards, hat einen Fahrer, liebt "Der Pate" 1-3 und die Familie Corleone und kleidet sich auch so. Brutale Angelegenheiten erledigt er, wenn nötig, selbst. Sein wichtigster Mitarbeiter ist Doktor Afra mit seinen Bombenideen. Eine davon soll die Familie Korkmaz vor der Rache Celals schützen.

Wer ist Celal?
Ein alter Bekannter aus der kurdischen Heimat. Dort war er nur der angeberische Handlanger eines mafiösen Geschäftsmanns und kam ins Gefängnis. Als er 20 Jahre später in Rotterdam auftaucht, ist er ein gnadenloser Mafioso, der sich an Ali Hüseyin rächen will. Doktor Afra heckt für Ali einen Plan aus, der so verrückt und verwegen ist, dass es nur gut gehen kann.
Wie wichtig die Familie ist
Die Familie bedeutet allen alles. Der Zusammenhalt ist unbeirrbar, ständig besuchen sie einander, die Cousins und Cousinen verbringen viel Zeit miteinander, jeder ist für den anderen da. Trotzdem herrscht oft ein rauer Ton untereinander, sie schenken sich nichts. Wie Ali Ekber zu seinem Bruder Ali Hüseyin sagt: "Ich liebe dich. Du bist mein Bruder. Aber mit Brüdern wie euch brauche ich keine Feinde."
Was passiert auf der Hochzeit?
Das Brautpaar Beritan und Keko begrüßt die Gäste, es wird gegessen, gelacht und getanzt. Die Kinder krabbeln unter den Tisch, laufen einander nach, spielen Räuber und Räuber, weil keiner der Gendarm sein will. Aus ihren Händen formen sie Pistolen und Maschinengewehre. Das kennt Arin noch aus ihrer Kindheit in Mezra. Als sie spielerisch auf ihren Onkel Keko zielt, bricht der zusammen. Was alle zunächst für einen Scherz halten, stellt sich als bittere Wahrheit heraus. Keko liegt tot in seinem eigenen Blut.

Erfährt man, warum?
Nicht sofort. Die Autorin dreht zuerst die Zeit um ein paar Jahre zurück. Vier der Korkmaz-Brüder waren zum Arbeiten in Istanbul. Auf einer Baustelle entdeckt Ali Hüseyin in einem Kühlhaus ein paar Gemälde, eingewickelt in rosa Stoff. Er erkennt, dass sie etwas Besonderes sind, auch wenn ihm der Name Rembrandt nichts sagt und Ali nicht ahnt, dass sie aus einem Kunstraub stammen.
Was tut er also?
Kurzerhand tauscht er drei der Gemälde gegen eigene Malereien aus. Denn eines Tages will er ein Museum in Mezra, Dersim, eröffnen. Stattdessen werden er und die ganze Familie nach Rotterdam auswandern.
Wie geht es weiter?
Die Handlung springt jetzt nach vorne, in das Jahr 2005. Fatma ist zwar schon Premium-Premium-Putzfrau, aber Geld ist immer noch knapp. Ihr Sohn Muro stiehlt deshalb an einem ihrer Arbeitsplätze Sportkleidung und verkauft sie. Dafür kauft er Fleisch und spart. Fatma pumpt ihn an und kauft mit seinem und ihrem Ersparten einen Mercedes, obwohl sie nicht Auto fahren kann. Doch nach kurzer Zeit verspielt Muro den Wagen seiner Mutter beim Glücksspiel in einem "Männercafé" am Hafen.

Und wer hat jetzt Keko auf seiner Hochzeit ermordet?
Verhaftet wurde jedenfalls sein Bruder Xidir, weil er die Waffe des Scharfschützen in den Händen gehalten hatte, als die Polizei bei der Hochzeit auftauchte. Auch 2005 sitzt er noch im Gefängnis, seine Tochter Arin besucht ihn regelmäßig. Aber kaum dort, hat sie das Gefühl, die Zeit rast. Sie lebt jetzt bei ihrem Onkel Ali Hüseyin. In der Schule wird ihr Vater von Mitschülern als Terrorist bezeichnet.
Und was wurde aus den gestohlenen Gemälden?
Dieses Geheimnis kann hier nicht gelüftet werden. Aber dafür noch ein Stückchen der weiterem turbulenten Handlung: Ali Hüseyin gelingt es mit seiner beharrlich ausdauernden Art, drei seiner eigenen Malereien in einer Ausstellung des Auktionshauses Christie's unterzubringen. Leider werden alle Exponate der Ausstellung gestohlen. Bald darauf taucht eine Bande von gewalttätigen alten Bekannten auf, die ihm einen gefälschten Mondrian abpresst.
Was man noch wissen muss
Zusammenhalt ist in der kurdischen Community ebenso wichtig wie Rache. Für Ersteres steht der Geschäftsmann Muzo. Warum er der Familie Korkmaz immer wieder hilft, wird auch am Ende des Buches nicht klar, aber er tut es. Die Sehnsucht nach der alten Heimat, nach Sicherheit in einem Staat Kurdistan, ist in allen Geschwistern immer präsent. Und Rache ist für sehr viele der Geschehnisse in "Kommando Ajax" das zentrale Thema, aus dem sich auch das furiose Ende des Buches im Jahr 2025 erklärt.
Was sagt Cemile Sahin über ihr aktuelles Buch?
Ausschlaggebend war für sie der reale große Bostoner Kunstraub im Jahr 1990. Alle damals gestohlenen Kunstobjekte sind bis heute verschwunden. Ihr gefiel die Idee, diesen Kunstraub mit einer kurdischen Familie, die in Rotterdam landet, zu verknüpfen. In ihrem Kopf entstünden immer zunächst die Bilder, dann erst der Text. Die Arbeit an diesem "Mammutwerk", so Sahin, war schwierig und lange.

Ist an eine Dramatisierung gedacht?
Keinesfalls als Theaterstück, da ist Sahin vehement. Aber sie könnte sich dieses Buch gut als TV-Serie vorstellen, wo in jeder Folge eine Hauptfigur und auch der Kunstraub selbst im Mittelpunkt stehen. Es wird vermutlich nicht lange dauern, bis eine Streamingplattform die Idee aufgreift, erinnert doch "Kommando Ajax" nicht von ungefähr an die erfolgreiche Serie "Haus des Geldes" auf Netflix.
Warum sich "Kommando Ajax" lohnt
Cemile Sahin mutet ihren Lesern zwar einiges zu, gibt uns aber auch Orientierung. Wer sich darauf einlässt, findet großes Vergnügen an diesem Gangsterepos mit Herz, entwickelt Mitgefühl für die Familie Korkmaz und einen Hauch von Verständnis dafür, was es bedeuten kann, in der kurdischen Community und mit dem Trauma von Vertriebenen aufzuwachsen und zu überleben.
"Kommando Ajax" von Cemile Sahin, Roman, 351 Seiten, Aufbau Verlag, € 25,70
Angela Szivatz ist Autorin ("Betrug und Liebe - die wahren Fälle einer Detektivin") Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Angela Szivatz lebt in Wien. Ihr erster Krimi "Tödliches Gspusi" ist eben erschienen.