Umstellung

Macht die Sommerzeit wirklich "dicker, dümmer, grantiger"?

Jede Zeitumstellung stresst. Aber vor allem, wenn wir – wie bei der Sommerzeit – Stunden verlieren, versetzt das den Körper in einen Ausnahmezustand, sagt der Chronobiologe Maximilian Moser.

Die Zeitumstellung macht müde, nicht nur Menschen
Die Zeitumstellung macht müde, nicht nur Menschen
iStock
Newsflix Redaktion
Akt. Uhr
Anhören
Teilen

Die EU will die Zeitumstellung abschaffen, aber den Ländern selbst die Entscheidung darüber überlassen, wie sie das tun. Das sorgt für eine Zwickmühle. Was soll es künftig geben? Immer Winterzeit? Immer Sommerzeit?  Oder doch weiter umstellen? Die 27 EU-Staaten müssen sich nämlich auf eine gemeinsame Lösung einigen, um Europa nicht zu einem Zeit-Fleckerlteppich werden zu lassen. Und gleichzeitig müssen sie die geografische Lage ihrer Länder in die Entscheidung miteinbeziehen. Denn vor allem im Winter, wenn die Tage kurz sind, macht es einen riesigen Unterschied, ob die Sonne schon um acht oder vielleicht erst um zehn Uhr morgens aufgeht.

Medizinisch ist alles klar Was politisch noch für die eine oder andere Debatte sorgen wird, scheint medizinisch indes längst entschieden. Denn die Frage, welche Zeit-Form für unseren Organismus verträglicher ist, kann ganz einfach beantwortet werden: "Die Normalzeit, also jene Zeit, von der wir uns jetzt am kommenden Wochenende wieder eine Stunde entfernen, ist die ideale Zeit für den menschlichen Körper", sagt der Mediziner und Biologe Maximilian Moser. Er war lange Jahre Professor für Physiologie an der Medizinuniversität Graz und gehört zu anerkanntesten Chronobiologen Europas. Moser: "Bei der Normalzeit steht die Sonne mittags im Zenit, da stimmen die äußere und unsere innere Uhr am ehesten überein. Alles, was sich davon entfernt, in die eine oder andere Richtung, ist nicht die optimale Lösung für den Organismus." Mit Newsflix sprach Maximilian Moser über Sinn und Unsinn der Sommerzeit:

Kommenden Sonntag werden die Uhren wieder um eine Stunde nach vorne gestellt. Eine gute Idee?

Es gibt wahrscheinlich keinen Chronobiologen auf der Welt, der Zeitumstellungen gut findet. Auch wenn es nur eine verhältnismäßig kleine Störung unserer inneren Rhythmik ist – unsere innere Uhr ist ein wesentlicher Faktor für unsere Gesundheit. Deshalb versuchen Chronobiologen immer, solche Störungen zu vermeiden.

Welche Probleme können entstehen?

Studien haben gezeigt, dass die Unfallzahlen nach oben gehen, was auf eine geringere Aufmerksamkeit im Straßenverkehr oder auch am Arbeitsplatz schließen lässt. Auch die Zahl der Herzinfarkte nimmt rund um die jeweilige Umstellung etwas zu. Wobei - es ist primär die Umstellung im Frühjahr, wenn wir die Uhren nach vorne stellen und eine Stunde verlieren, die Probleme macht. Weil es die Menschen schlechter vertragen, wenn ihre Schlafzeit verkürzt wird. Zumal ohnedies ein chronisches Schlafdefizit bei uns herrscht. Im Herbst gewinnt man diese Stunde zurück, was die meisten Menschen wesentlich leichter verkraften. trotzdem ist es eine Störung der Rhythmik.

Gibt es Strategien, wie man diese Störungen der Rhythmik durch den Wechsel auf die Sommerzeit minimieren kann?

Man kann dieselben Strategien anwenden, wie man sie auch bei weiteren Flugreisen über mehrere Zeitzonen hinweg nutzt. Also sich so rasch wie möglich auf die neue Zeit umstellen, die Uhr auf die Zielzeit ändern, seinen Schlafrhythmus schon vorab adaptieren. Idealerweise stellt man am Beginn der Sommerzeit seine Uhren schon am letzten Abend der Winterzeit um, das erleichtert ebenfalls das Aufstehen am nächsten Morgen. Und ein kurzer Mittagsschlaf ist generell eine gute Idee. Wir Chronobiologen sagen, der Mittagsschlaf ist wie die mittlere Stütze in der Brücke der Zeit, er teilt den Tag in zwei Hälften und sorgt für bessere Erholung. Aber nicht zu lange, 20 Minuten sind ideal.

Gegen die Auswirkungen der Umstellung auf die Sommerzeit helfen die selben Strategien wie gegen einen Jetlag
Maximilian Moser, Chronobiologe

Die EU stellt es ihren Mitgliedsländern künftig frei, ob sie das ganze Jahr nach Normalzeit oder nach Sommerzeit absolvieren möchten. In vielen Ländern scheint dabei die Sommerzeit die Nase vorne zu haben …

Dazu kann ich folgendes berichten: Im Jahr 2011 wurde in Russland die Sommerzeit zur Ganzjahreszeit erklärt, der Sonnenzenit wurde dadurch, je nach Region, sehr weit in den Nachmittag hinein verschoben. Nur drei Jahre später wurde dieses Experiment wieder beendet, da es massive Gesundheitsprobleme in der Bevölkerung gab. Aus Sicht des Chronobiologen ist eine ganzjährige Sommerzeit Unfug, weil man die Zeit verbiegt und dem Menschen einen Zeitgeber nimmt, der ihm hilft, seine Körperrhythmik zu stabilisieren. Man ersetzt die natürliche, biologische Zeit durch eine künstliche. Gerade im Winter heißt das, dass man permanent im Dunkeln aufstehen und gegen seine innere Uhr arbeiten muss, weil das Tageslicht als wichtiger Zeitgeber über weite Strecken des Tages fehlt. 

Wozu führt das?

Mein deutscher Kollege Till Roenneberg, ebenfalls ein Chronobiologe, hat einmal gesagt, dass die Europäer durch eine ganzjährige Sommerzeit dicker, dümmer und grantiger werden würden. Aber es gibt auch Kräfte, die für die ganzjährige Sommerzeit sind. Die Industrie hätte es natürlich gerne, wenn früher zu arbeiten begonnen würde. Und die Freizeitbetriebe fände es super, wenn man abends mehr Zeit zur Verfügung hätte, um ihnen mehr Geld in die Kassen zu spülen.

Sie sprechen von der Körperrhythmik, die durch die Sommerzeit gestört wird – was ist damit konkret gemeint?

Jede Zelle unseres Körpers verfügt über eine Art Zeitorganismus, der ihr die inneren Rhythmen vorgibt, das ist unsere innere Uhr. Diese Rhythmen treiben alle physiologischen Körperfunktionen an: Hormone, Nerven, Temperatur, Verdauung. Am Abend wird die Bereitschaft des Körpers einzuschlafen gefördert und am Morgen die aufzuwachen. 

Der Zeitpunkt, an dem die Bereitschaft einzuschlafen oder aufzuwachen am größten ist, variiert aber von Mensch zu Mensch stark, manche sind wahre Morgenmuffel, andere springen förmlich aus dem Bett …

Es gibt verschiedene Chrono-Typen, wir nennen diese Lerchen, das sind die Morgenmenschen, und Eulen, das sind die Abendmenschen. Praktisch alle physiologischen Parameter, wie Körpertemperatur, Herzfrequenz, Hormonspiegel usw., sind einem Tagesgang unterworfen, sie zeigen also ein Tageshoch und ein Tagestief. Diese sind tatsächlich beim Abendmenschen vulgo Eulen später zu finden als beim Morgenmenschen vulgo Lerchen. Etwa ein Viertel der Menschen gehören jeweils zu den Abend- und den Morgenmenschen, die restlichen 50 Prozent liegen dazwischen, lassen sich also keinem eindeutigen Typus zuordnen.

Maximilian Moser ist einer der renommiertesten Chronobiologen Europas und u.a. Autor des Standardwerks "Vom richtigen Umgang mit der Zeit" (Allegria Verlag).
Maximilian Moser ist einer der renommiertesten Chronobiologen Europas und u.a. Autor des Standardwerks "Vom richtigen Umgang mit der Zeit" (Allegria Verlag).
FOLTIN Jindrich / WirtschaftsBlatt / picturedesk.com

Einmal Lerche, immer Lerche? oder kann sich das auch ändern?

Kleine Kinder sind eher Morgenmenschen, verlieren das aber mit der Zeit. Etwa um das 20. Lebensjahr herum erreicht der Eulen-Anteil in einem seinen Höhepunkt. Es ist also kein Zufall, dass so viele Stundenten nachts lernen und am Morgen lange schlafen. Und ab dem 50. Lebensjahr entwickelt man sich dann wieder stärker in Richtung Morgenmensch - im höheren Alter nennt man das "senile Bettflucht". Wobei – die Unterschiede zwischen Abend- und Morgenmenschen betragen eine bis zwei Stunden im Durchschnitt, was den Tagesablauf angeht. Und: Bei Männern sind die Schwankungen deutlich ausgeprägter als bei Frauen.

Stichwort Kinder: Tun sich die schwerer mit der Umstellung auf die Sommerzeit als Erwachsene?

Kleine Kinder und alte Menschen sind, wie gesagt, eher Morgenmenschen, entsprechend leiden sie stärker, wenn sich der Tagesablauf nach hinten verschiebt. Dazu gibt es eindeutige Studienergebnisse.

Wie kann man seiner inneren Uhr Gutes tun?

Den Zwei-Stunden-Zyklus, der uns allen innewohnt, respektieren. Heißt: Man sollte alle eineinhalb bis zwei Stunden eine Pause machen, egal was man gerade macht. Ins Freie gehen und Luft schnappen, sich ans offene Fenster stellen und den Blick schweifen lassen, etwas tun, was Freude macht und Erholung bringt. Und – einen regelmäßigen Lebensstil pflegen, regelmäßig essen, regelmäßig schlafen gehen und aufstehen. Klingt langweilig. Aber Studien mit Hundertjährigen haben gezeigt, dass sich keiner von denen die Nächte um die Ohren geschlagen hat.

Maximilian Moser, "Vom richtigen Umgang mit der Zeit", Allegria Ullstein, 10,90 Euro
Maximilian Moser, "Vom richtigen Umgang mit der Zeit", Allegria Ullstein, 10,90 Euro
Ullstein Verlag
Akt. Uhr
#Besser Leben
Newsletter
Werden Sie ein BesserWisser!
Wissen, was ist: Der Newsletter von Newsflix mit allen relevanten Themen des Tages und den Hintergründen dazu.