Eine Frau pöbelt dunkelhäutige Kinder an, als deren Mutter sie zur Rede stellen will, wird sie erschossen. Unvorstellbar: Ein Gesetz deckt die Täterin. Was nach einem schlechten Krimi klingt, ist wirklich passiert. "The Perfect Neighbour" geht der Tragödie auf den Grund.

Von Filmliebhabern wird das boomende "True Crime"-Genre mitunter milde belächelt: Moniert wird der Fokus auf banale Schockwirkung, eine oft generische Umsetzung nach Schema F oder eine "billige" Machart. Und gerade in Bezug auf Doku-Formate sind all diese Vorwürfe in manchen Fällen nicht von der Hand zu weisen.
Festival-erprobt und preisgekrönt Einen eindeutig anderen, geradezu innovativen Weg geht die mehrfach preisgekrönte Regisseurin Geeta Gandbhir mit ihrem Film "The Perfect Neighbor", den man geradezu "True Crime-Arthouse" nennen könnte: Nicht umsonst lief er im Programm des Sundance Film Festival (und bekam da den Regie-Preis für Ganbhir) und erhielt Lob von allen Seiten.
Bodycam-Aufnahmen Das gut 90-minütige Werk setzt nahezu ausschließlich auf Bodycam-Aufnahmen von Polizisten, die einen eskalierenden Nachbarschaftsstreit in Florida aus dem Jahr 2023 dokumentieren. Das sorgt für eine manchmal unerträgliche Direktheit, die die Zuschauer geradezu ins Geschehen hineinzieht.
Ein harmloser Beginn Die Geschichte, die die Grundlage für "The Perfect Neighbor" bietet, begann vergleichsweise harmlos: Ein typischer US-Vorort in Ocala, Florida, kleine, weiße Häuser, eine breite Hauptstraße, viel Grün. Und zahlreiche Kinder, die die Nachmittage und Abende draußen verbringen, herumtollen, spielen, eben Kinder sind. So weit so gewöhnlich.

Kinderlärm Auch dass Kinderlärm manch ältere Anrainer nerven kann, soll vorkommen. Aber das Verhalten der damals 58-jährigen Susan Lorincz nahm seit 2021 zunehmend paranoide Züge an: Regelmäßig rief sie die Polizei, oft mehrmals die Woche, beschwerte sich über (angebliches) "Trespassing" ihres Grundstückes (das ihr gar nicht gehörte), über lautes Geschrei und Belästigungen.
Kein Handlungsbedarf Die Polizei rückte aus, konnte aber nie Gravierendes feststellen und nahm irgendwann die Beschwerden von Lorincz nur noch bedingt ernst. Kein anderer Nachbar störte sich an den Kindern und die Dame war bald als verrückt verschrien.
Ein Schuss durch die Tür Im Juni 2023 eskalierte der schwelende Konflikt allerdings dramatisch: Lorincz soll Rollerskates nach Kindern geworfen, einem Kind sein Tablet weggenommen und die Kids mit dem "N-Wort" beschimpft haben. Ajike Owens, eine der Mütter aus der Nachbarschaft, deren vier Kindern regelmäßig mit Lorincz in Kontakt kamen, klopfte an die Tür von Lorincz. Doch anstatt ihre Türe zu öffnen, feuerte die 58-Jährige mit einer Schusswaffe durch die geschlossene Tür – mit fatalen Folgen.
Das "Stand your Ground"-Gesetz In den USA sorgte der Vorfall bereits 2023 für großes Medienecho. Zum einen aufgrund der Tatsache, dass die Schützin eine Weiße ist und ihr Opfer dunkelhäutig. Aber mehr noch, weil das in vielen US-Bundesstaaten geltende "Stand your Ground"-Gesetz hier zur Anwendung kam. Es erlaubt Hausbesitzern den Einsatz von Waffen, wenn sie sich auf ihrem Grundstück durch Fremde "bedroht fühlen".
Selten erlebte Direktheit "The Perfect Neighbor" streift all diese Themen, doch der hervorstechendste Aspekt der Films ist seine Machart: Keine Interviews mit Betroffenen, Tätern, Opfern, Hinterbliebenen. Keine Einordnung von Ermittlern, Journalisten und Experten. Nahezu alles wird über die Aufnahmen der Body-Cams der Polizisten erzählt. Dieser Kniff ist nicht nur innovativ, sondern erzeugt auch eine selten erlebte Direktheit: Als Zuschauer wird man in das Geschehen geworfen, erlebt auch emotional mit, wie der Konflikt immer weiter eskaliert. Und fühlt umso mehr mit.

Rassistisch und gestört Susan Lorincz wurde schließlich - allerdings erst nach Tagen - festgenommen. In den ebenfalls auf Kameras im Verhörraum festgehaltenen Befragungen zeigt sie so gut wie keine Reue. Sie redet sich stets darauf aus, um ihr Leben gefürchtet und daher zur Waffe gegriffen zu haben - eine Darstellung, die von allen anderen Zeugen bestritten wurde. Besonders ungustiös wird es, als sie zu erklären versucht, warum sie Nachbarskinder rassistisch beschimpft hat. Es entsteht das Bild einer psychisch gestörten und von Vorurteilen getriebenen Frau, die den Kontakt zur Realität schon lange vor dem tödlichen Vorfall verloren hat.
War es Vorsatz? Bei der Gerichtsverhandlung ging es schließlich um die Frage, ob Lorincz wirklich Grund gehabt hatte, "um ihr Leben zu fürchten" – und daher der Einsatz einer tödlichen Waffe tatsächlich gerechtfertigt war. Ob sie paranoid gewesen ist. Oder ob all das gar mit Vorsatz von ihr provoziert wurde, im Wissen der Gesetzeslage in Florida.

Das fragwürdige Gesetz bleibt Dass in diesem Fall die Gerechtigkeit siegte, ist zumindest ein geringer Trost für die Hinterbliebenen, die Freunde, die Nachbarn und vor allem für die vier Kinder von Ajike Owens. Das Stand-your-Ground-Gesetz ist indes in den meisten US-Bundesstaaten, auch in Florida, weiterhin in Kraft.
Fazit Kein typisches True Crime-Format, sondern mehr: "The Perfect Neighbor" erzählt auf packende und innovative Art von einem tragischen Nachbarschaftskonflikt und streift dabei größere Themen wie Rassismus und fragwürdige Waffengesetze in den USA. Die Doku verzichtet auf gezielte Schockwirkung, lässt Bilder für sich sprechen und ist so auch ein filmisches Andenken an eine Mutter, die nichts anderes wollte, als ihre Kinder zu beschützen – und dafür mit ihrem Leben bezahlte.
"The Perfect Neighbor – Ein Gesetz und seine Folgen", Dokumentation. USA 2025, 97 Minuten, Netflix