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"Auf der Kippe"

Stell dir vor, die Erde bebt, und du bist gerade beim Ikea!

Der Gegend um Portland droht ein Jahrhundert-Erdbeben (also wirklich). Der neue Roman "Auf der Kippe" von Emma Pattee beschäftigt sich mit den Folgen der Katastrophe, den menschlichen und den unmenschlichen. Angela Szivatz hat ihn gelesen und war verzückt.

Das Erdbeben in Oregon 2001, es gibt einen Haken: es fand nie statt, die Bilder dazu stammen von einer KI
Das Erdbeben in Oregon 2001, es gibt einen Haken: es fand nie statt, die Bilder dazu stammen von einer KIReddit
Angela Szivatz
Akt. 02.06.2025 23:43 Uhr

Unklar ist nur, wann es passieren wird. Doch damit beschäftigt sich das Roman-Debut von Emma Pattee nicht. Vielmehr malt sich die Journalistin und Autorin aus, wie das alles sein wird, wenn es einmal sein wird.

In den USA gibt es mehrere seismisch aktive Zonen, etwa alle 200 Jahre ereignen sich schwerste Erdbeben. Eine davon ist die Cascadia-Subduktionszone, die sich vom Süden Kanadas bis nach Nordkalifornien erstreckt. Mittendrin liegen die Metropolen Vancouver, Seattle und Portland mit insgesamt mehr als 2 Millionen Einwohnern.

In der Stadt Portland spielt die Handlung von Emma Pattees fulminantem Roman-Erstling. Was Sie über das große Beben wissen müssen:

Worum geht es?
Zum letzten Mal bebte die Erde in der Cascadia-Störungszone im Jahr 1700. Die Stärke des Bebens lag damals zwischen 8,7 und 9,2 Punkten auf der Richterskala. Zu dieser Zeit war das Gebiet kaum besiedelt. Inzwischen ist ein schweres Erdbeben dort beinahe überfällig.

Was heißt "überfällig"?
Laut Geologen und Erdbebenexperten liegt die Wahrscheinlichkeit bei 90 Prozent, dass sich innerhalb der nächsten 30 Jahre entlang der Nordwestküste ein extrem starkes Erdbeben ereignen wird. Pattee nimmt dieses Ereignis in ihrem Buch vorweg.

Gab es da nicht vor ein paar Jahren ein Erdbeben?
Ja, aber nur in der Fantasie. Im März 2023 veröffentlichte ein Reddit-Nutzer einige fotorealistische Bilder, die das "Great Cascadia 9.1 Earthquake" vom 3. April 2001 zeigen sollten. Das hatte allerdings nie stattgefunden, die Bilder wurden mit Midjourney erstellt und zeigten Szenen von Zerstörung. So überzeugend, dass viele glaubten, sie würden ein reales historisches Ereignis dokumentieren. Dies führte zu Diskussionen über KI-generierten Inhalte.

Wie beginnt die Geschichte des Romans?
Stellen Sie sich vor, Sie sind bei IKEA. Es ist zwar Montagvormittag, deshalb nicht ganz so anstrengend wie an einem Freitag oder Samstag, aber dennoch allerhand los. Stellen Sie sich weiter vor, Sie sind hochschwanger.

Warum sind wir bei IKEA?
Annie, 35, verheiratet mit Dom, 39, braucht dringend ein Babybett. Es sind nur noch drei Wochen bis zum Geburtstermin. Leider kann sie den Artikel nicht finden. Also muss eine Mitarbeiterin her. Die findet das Babybett genau dort, wo es im Computersystem angegeben war. Spöttisch zerrt sie den Karton aus dem Regal in Richtung Einkaufswagen.

Und wann passiert was?
Plötzlich erzittert das Gebäude. Angst breitet sich aus, dann beginnt das große Erdbeben. Annie wird auf den Beton geworfen, die Mitarbeiterin verschwindet aus ihrem Gesichtsfeld, die Metallregale schwanken, Kartons krachen rundherum auf die Erde. Annie verkriecht sich unter dem Regal, aus dem sie eben noch das Babybettchen holen wollten. Auf allen vieren versucht sie unter all dem Staub und den Pappkartons, ihren Bauch zu schützen.

"Auf der Kippe" von Emma Pattee, 256 Seiten, € 22,70
"Auf der Kippe" von Emma Pattee, 256 Seiten, € 22,70
Piper

Gelingt ihr das?
Ja, doch als das Beben endlich endet, liegt Annie eingerollt in einem dunklen Loch hinter Möbelkartons vergraben. Sie kann weder vor noch zurück, ihre Füße sind eingeklemmt. Rundherum schreien Menschen, heult eine Sirene. Sie denkt, ihr "Krümel" und sie werden hier sterben. Doch dann erinnert sie an ihre zwei Jahre zuvor völlig überraschend an Covid verstorbene Mutter. Deren Motto hatte immer gelautet: "Halte durch."

Kommt Annie wieder heraus?
Sie schafft es, dank der Hilfe der spöttischen Mitarbeiterin von vorhin. Gemeinsam schieben sie die Kartons zur Seite, bis Annie herauskriechen kann. Verletzte Menschen liegen zwischen all den umgekippten Möbelstücken, schreien vor Schmerz. Andere rennen, suchen rufend nach Angehörigen. Als das Gebäude ächzende Geräusche macht, laufen die beiden Frauen zum Ausgang. Doch im Gedränge verlieren sie einander.

Wo ist Annies Mann?
Sie vermutet Dom an seinem Arbeitsplatz in einem Café, drei oder vier Meilen entfernt. Eigentlich ist er 39-Jährige ein begabter Schauspieler, hat aber immer noch nicht den Durchbruch geschafft. Weil ihre Handtasche mit dem Handy irgendwo unter den Regalen begraben liegt, kann Annie ihn nicht anrufen. Der Verkehr auf der Straße steht. Also macht sie sich zu Fuß auf den Weg. In eineinhalb Stunden müsste sie es schaffen, dort sein.

Was erlebt sie auf ihrem Weg?
Eine Apokalypse. Blutverschmierte Menschen, die schreiend und stöhnend auf der Straße sitzen. Entgleiste Straßenbahnen, herunterhängende, Funken sprühende Oberleitungen. Aus einem Elektronikmarkt führen Leute wagenweise Geräte davon. Alle paar Minuten der Griff nach ihrem Handy. "Es ist wie ein Phantomglied" (Zitat). Doch der Mobilfunk ist ohnehin zusammengebrochen.

Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Helmut Graf

Wie geht es dem Baby in Annies Bauch?
Zwischendurch horcht sie in sich hinein, sie spürt das Baby lange nicht. Sie erinnert sich daran, als sie und Dom sich für ein Baby entschieden. Und wie sie im Lauf der Schwangerschaft immer unwirscher und unsicherer wurde. Sich ständig fett, hässlich und für die Mutterschaft ungeeignet gefühlt hat. Als sie das Baby endlich wieder spürt, breitet sich ein großes Glücksgefühl in ihr aus.

Wie gelangt sie weiter?
Zu Fuß, quer durch die Stadt. Aus einer unbestimmten Angst traut sie sich nicht, das Mitfahrangebot eines jungen Mannes anzunehmen. Solche Situationen, oder allein in der Dunkelheit in einem Park, das macht ihr als Frau immer Angst.

Verwirrend, oder?
Ja, das hat sich wohl auch der Verlag gedacht. Damit wir ihren langen, mühsamen Weg mitverfolgen können, ist deshalb vorne eine Orientierungskarte eingezeichnet.

Was beschäftigt Annie?
Sie rekapituliert all die verpassten Gelegenheiten ihres Lebens. Die Chance auf ein Studium in New York nahm sie sich selbst. Sie fühlte sich unter den gut situierten, schicken Studienkollegen unwohl, ging zurück nach Portland. Dort wurde ein erstes Stück von ihr an einem Theater uraufgeführt. Bei der Gelegenheit lernte sie auch Dom kennen. Beide hatten die Hoffnung, ganz groß rauszukommen.

Ist das gelungen?
Ganz und gar nicht. Schließlich, so stellt Annie in ihren Überlegungen fest, wollten alle Stars sein. Doch sie schrieb nur noch Notizbücher voll mit Fragmenten, veröffentlichte nie wieder etwas, gab irgendwann auf. Nun arbeitet sie als Office-Managerin in einem großen Tech-Unternehmen. Dom jobbt im Café, er hofft immer noch.

Auch dieses Bild vom "Erdbeben" in Oregon ist nicht echt
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Reddit

Wie geht es nach dem Erdbeben weiter?
Durst und Hunger werden in der Hitze immer größer. Annie bleibt bei einer Sterbenden auf einem Golfplatz, bis diese tot ist. Dann nimmt sie deren Wasser mit. Als sie endlich beim Café ankommt, erfährt sie, dass Dom gar nicht da ist. Dass er für eine große Rolle heimlich zu einem Probentermin in der Altstadt gegangen ist. Dorthin, wo alle alten Gebäude aus Ziegeln gemacht sind ...

Wie wird das Drama geschildert?
Annie erzählt aus der Ich-Perspektive, einmal als innerer Monolog, meist aber spricht sie zu ihrem Ungeborenen. Sie berichtet auch über den existentiellen Streit mit Dom am vorangegangenen Abend.

Wer ist die Autorin?
Die preisgekrönte Journalistin Emma Pattee lebt selbst in Portland im Bundestaat Oregon. Sie schreibt freiberuflich für The Atlantic, The New York Times, The Washington Post, The Cut, The Guardian und viele andere und ist spezialisiert auf Klimathemen. Bekannt wurde sie auch mit dem Ausdruck "Climate-Shadow", also Klimaschatten, größer als der CO2-Fußabdruck jedes einzelnen Menschen.

Wie kam es zu dieser Buchidee?
Pattee schreibt auf ihrem Blog "Just One More Question", dass sie selbst bis 2015 keine Ahnung von der großen Bedrohung hatte, bis zu einem Artikel im The New Yorker. Nach dreitägiger Angst verdrängte sie das Thema, bis sie 2018 zum ersten Mal schwanger wurde. Von dem Moment an hatte sie regelrecht Panik davor, sich und ihr Ungeborenes in dieser hochriskanten Erdbebenzone zu wissen.

So schaut Portland, Oregon, wirklich aus
So schaut Portland, Oregon, wirklich aus
iStock

Wie fiel die Reaktion aus?
Sie begann, alles rund um die möglichen Auswirkungen eines so großen Erdbebens zu recherchieren. Das half ihr ein wenig gegen die Angst und führte zu dem eindrücklichen Bild, das sie in "Auf der Kippe" malt: Was sich auf den Straßen, in den Parks und Häusern abspielen wird. Wie die Menschen einander stützen, aber auch als Feinde gegenüberstehen werden, im Kampf ums Überleben.

Wie geht man mit der Bedrohung so eines Megabebens um?
Die Frage ist, ob man sich darauf überhaupt vorbereiten kann. Die Metropolen im Norden der USA waren es laut Experten bis vor ein paar Jahren nicht. Inzwischen werden in Schulen Schutz- und Evakuierungsmaßnahmen geprobt. Die Menschen werden darauf hingewiesen, Vorräte für 14 Tage anzulegen. Fachleute gehen davon aus, dass vor allem ältere Gebäude aus Ziegelsteinen einstürzen werden.

Und Pattee selbst?
Sie erzählt in ihrem Blog, dass sie und ihr Partner viel darüber diskutiert haben, ob sie wegziehen sollten. Doch beide lieben das Leben, die Gemeinschaft in Portland und wollen ihre beiden Kinder dort aufwachsen sehen. Deshalb übersiedelten sie an den Rand der Stadt und ihre Kinder besuchen Schulen in neuen, sichereren Gebäuden. Sie selbst setzt sich für Ersatz der alten Ziegelgebäude und viele vorbeugende Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung ein.

Warum lohnt es sich, das Buch zu lesen?
Weil es großartig und sehr spannend geschrieben ist, ein gelungenes Romandebüt! Bei all dem Chaos, der bedrückenden Situation, den Momenten der Entmenschlichung, Trauer und Verzweiflung, stecken auch sehr viel Liebe und Wärme darin. Weil es schonungslos ehrlich mit unterschiedlichen Situationen im Leben umgeht. Und dennoch Mut macht, zu sich selbst zu stehen.

"Auf der Kippe" von Emma Pattee, Roman, 256 Seiten, Mai 2025 Piper Verlag, Übersetzung Stefanie Jacobs, € 22,70

Angela Szivatz ist Autorin ("Betrug und Liebe - die wahren Fälle einer Detektivin") Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Angela Szivatz lebt in Wien. Ihr erster Krimi "Tödliches Gspusi" ist eben erschienen.

Angela Szivatz
Akt. 02.06.2025 23:43 Uhr