Schweizer Grisham

Warum diesem Roman-Millionär alle Herzen zufliegen

Vor 13 Jahren gelang Joël Dicker ein Welt-Bestseller. Nun legt er mit "Ein ungezähmtes Tier" seinen achten Roman vor und entzweit die Leserschaft: Eher genial oder eher nix? Newsflix-Kritikerin Angela Szivatz hat sich selbst ein Urteil gebildet.

Studierter Jurist, Krimiautor, penibler Arbeiter: Joël Dicker erinnert zumindest biographisch an John Grisham
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Angela Szivatz
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Der Mann sieht aus wie ein Filmschauspieler, gleichzeitig wie Mamas Lieblingsschwiegersohn.

Tatsächlich hat der 1985 in Genf geborene Joël Dicker auf seinem Weg zum Autor vieles ausprobiert: Mit zehn Jahren gründete er eine Tierschutzzeitung und veröffentlichte sie sieben Jahre lang. Nach dem Schulabschluss ging er nach Paris, wo er sich ein Jahr lang an einem Schauspielstudium versuchte. Danach kehrte Dicker nach Genf zurück und studierte Rechtswissenschaften, mit Abschluss 2010.

Dann kamen die Literatur, ein Weltbestseller, die Ernüchterung. Nun legte Joël Dicker seinen neues Roman vor. Das müssen Sie darüber wissen:

Wie war das nun mit dem Erfolg?
2010 veröffentlichte Dicker seinen ersten Roman. Schon sein zweiter Roman, "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert", wurde in Frankreich zur literarischen Sensation des Jahres 2012, inzwischen mit Übersetzungen in 40 Sprachen. 2018 wurde "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" in den USA als Serie verfilmt.

Da gab es doch eine Geschichte darüber, oder?
Ja, eigentlich sollte Steven Spielberg das Buch verfilmen. Dicker wollte sich mit ihm in Paris treffen, aber der Star-Regisseur wollte nicht anreisen. "Zu beschäftigt". Also gab Dicker ihm einen Korb. Wer sich so verhalte, habe kein wirkliches Interesse, sagte er.

Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Helmut Graf

Er wurde sicher mit Preisen überhäuft, oder?
Der Autor, heute 39 und mit einer Kanadierin verheiratet, erhielt für seinen zweiten Roman den Grand Prix du Roman der Académie Française sowie den Prix Goncourt des Lycéens und viele andere Auszeichnungen. Auch Dickers nächster Roman, "Die Geschichte der Baltimores", 2016 erschienen, wurde millionenfach verkauft. Er gilt als momentan erfolgreichster Schweizer Autor.

Wie lässt sich das bemessen?
Seine Bücher wurden laut NZZ weltweit bisher über 15 Millionen Mal verkauft. Martin Suter kommt auf 11 Millionen. Dicker hat Werbeverträge mit Citroën oder der Fluggesellschaft Swiss. Auf der Liste "100 unter 40" des Magazins "Bilanz" wird Dicker als einer der hundert reichsten Schweizer unter 40 Jahren gelistet, sein Vermögen auf 50 bis 100 Millionen Franken geschätzt.

Woran scheiden sich dann die Geister?
Es begann mit Dickers Roman "Das Geheimnis von Zimmer 622" im Jahr 2021. Er polarisierte bei Kritikern und Lesern. Die einen fanden ihn spannend, die anderen konstruiert, kitschig oder sogar fad. Zum Beispiel die häufigen Zeit-Sprünge wurden kritisiert.

Wie ist das im neuen Buch?
Die Zeit-Sprünge machen auch die Lektüre des neuen Dickers "Ein ungezähmtes Tier" etwas mühsam. Es gibt eine Gliederung in Prolog, drei Teile und einen Epilog, deren Setzung sich beim Lesen nicht logisch erschließt.

Worum geht es im neuen Buch?
Es eröffnet mit dem Hinweis auf einen Raubüberfall im Juli 2022. Von diesem Ereignis ausgehend, werden die davor liegenden Tage und Wochen im Rückwärtsgang berichtet. Dann springt die Erzählung um 15, 16, danach zehn Jahre zurück, um Herkunft und Vergangenheit der Hauptfiguren aufzurollen.

"Ein ungezähmtes Tier" von Joël Dicker, 432 Seiten,  € 26,80
"Ein ungezähmtes Tier" von Joël Dicker, 432 Seiten, € 26,80
Piper Verlag

Wer sind die Hauptfiguren?
Der gebürtiger Engländer Arpad Braun studierte Finanzwesen in London. Seine Ehefrau Sophie Braun, die aus St. Tropez stammt, absolvierte ein Jusstudium in Paris. Ihre erste Begegnung fand im Lokal von Sophies Vater am Meer statt. Doch die beiden wurden erst nach fünf Jahren ein Paar.

Wieso das?
Arpad hatte sich nach einigen Monaten ihrer Liebesbeziehung von einem Tag zum anderen aus dem Staub gemacht, seinen Job gekündigt, alle Spuren verwischt. Den Grund dafür lieferte Fauve, im Französischen "das Raubtier" oder "das wilde Tier", mit dem Arpad einige Zeit zuvor ein paar Nächte im Gefängnis verbracht hatte. Arpad saß deshalb ein, weil er sich heimlich einen Aston Martin geliehen und zu Schrott gefahren hatte.

Wer ist mit Fauve gemeint?
Fauve heißt im zivilen Leben Philipe Carral und ist einer von den schweren Jungs mit einem Hang zur Anarchie. Diese Begegnung zwischen den beiden Männern wird für das ganze Buch eine zentrale Rolle spielen.

Wie ging es weiter?
Sophie konnte Arpad nicht mehr erreichen. Doch als sie einander fünf Jahre später an seinem Arbeitsplatz in einer Genfer Bank wieder treffen, verzeiht sie Arpad, sie heiraten und gründen eine Familie. Ein Jahr vor Beginn der eigentlichen Handlung, kaufen sie ein Haus, nahe der Stadt mitten in einem Wäldchen gelegen, das Glashaus genannt.

Was spielt sich dort Relevantes ab?
Im Fußballclub der Kinder begegnen sie Karine, Mitarbeiterin einer Boutique, und ihrem Mann Greg. Er ist Polizeibeamter in einer Sondereinheit. Greg beginnt, die schöne Sophie, die morgens nackt vor der gläsernen Hausfront steht, zu stalken.

Bestsellerautor John Grisham schreibt ebenfalls rasante Krimis, allerdings in nachvollziehbareren Abläufen
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MARCUS BRANDT / EPA / picturedesk.com

Kriegt das irgendjemand mit?
Nein, denn Greg ist nie um eine Ausrede verlegen. Karine merkt zwar, dass er sich sehr verändert, schiebt das aber zunächst auf den Umzug in den Vorort. Sie ist darüber sehr unglücklich, fühlt sich unter all den Schönen und Reichen nicht wohl. Umso überraschter und begeisterter ist sie, als Sophie sich um ihre Freundschaft bemüht. Keine der Frauen hat eine Ahnung, was Greg heimlich treibt.

Ein Buch, viele Lesarten
Trotz des strukturellen Aufbaus rund um das Thema Überfall kann man Dickers neuen Roman mit mehreren Brillen sehen. Da sind einmal die sehr unterschiedlichen Ehegeschichten des strahlenden, scheinbar sorglosen Paares Sophie und Arpad und die rasch immer schlechter werdende Beziehung zwischen Karine und Greg.

Woran erinnert das?
Ein Blickwinkel könnte Leser an Filme von Claude Chabrol erinnern, denn auch hier versuchen fast alle Figuren, den gutbürgerlichen Schein zu wahren. Doch beinahe jeder verbirgt etwas.

"Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" machte Joël Dicker weltberühmt
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Was gibt es für Geheimnisse?
Gerade bei einem Kriminalroman grenzen Detailinformationen schnell ans Spoilern. Doch so viel sei verraten: Es gibt jede Menge düstere, teils strafrechtlich relevante Geheimnisse, allmählich und Schritt für Schritt werden Voyeurismus, Diebstahl, Steuer- und Versicherungsbetrug, Jobverlust und Geldwäsche enthüllt und das in durchaus überraschenden Wendungen.

Was ist das Risiko dabei?
Ungeniert belügen die Protagonisten einander, dass es nur so kracht. Wären da nicht die Überschriften, würde man bei der Lektüre ab und zu glatt auf den geplanten Raubüberfall vergessen.

Und was hat es mit dem Titel auf sich?
In einer Parabel über einen Panther, die der Autor in seinen Roman eingebaut hat, lässt er deren Hauptfigur Luchino sagen: "Wilde Tiere sind wie Menschen. Man kann sie zähmen, schminken, verkleiden. Man kann sie mit Liebe und Hoffnung nähren. Ihre Natur aber kann man nicht verändern." Eine ähnliche philosophische Anmutung findet sich auch beim deutschen Schriftsteller Theodor Fontane (1819-1898).

Wer ist mit dem ungezähmten Tier gemeint?
Dieses Fazit in der Geschichte passt zum räuberischen Fauve ebenso wie auf ein paar andere Figuren des Buches. Doch auch Ansätze aus der existentialistischen Philosophie Jean-Paul Sartres lassen sich herauslesen, wie zum Beispiel, dass der Mensch erst durch seine Entscheidungen und Handlungen seine Essenz, sein Wesen bestimmt. Passt auch an einigen Stellen des Buches und gibt für manche Hoffnung. Und die stirbt ja angeblich zuletzt 😉

"Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" machte Joël Dicker 2012 schlagartig weltberühmt
"Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" machte Joël Dicker 2012 schlagartig weltberühmt
Piver Verlag

Wie liest sich das Buch?
Auch wenn die Entwicklung der Handlung etwas konstruiert wirkt, ist der Ablauf immer wieder mitreißend und bietet ein paar Überraschungen. Zwischendurch fühlt man sich aber auch genervt von dem ständigen Hin- und Herspringen in den Zeiten und Handlungsebenen.

Was ist sonst zu bekritteln?
Das sprachliche Niveau ist eher Durchschnitt. Und obwohl es Joël Dicker gelingt, unterschiedliche Milieus zu platzieren, bleiben seine Figuren psychologisch flach und wenig greifbar. Man sieht und hört ihnen zu, findet aber kaum eine klare Identifikationsfigur unter den Charakteren, mit der man mitfühlt.

Lohnt es sich, das Buch zu lesen?
Wenn man die Erwartungen nicht zu hochsteckt, wenn man "Katz- und Maus-Spiele" mag, kann man seinen Spaß haben. Viel vergnüglicher lässt sich jedoch das Reinschnuppern in Dickers Welterfolg "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" an. Einige seiner darin verhandelten Erkenntnisse zweier Schriftsteller haben den Autor wohl auch zu seinem Schreibclub, einem Blog übers Schreiben, inspiriert.

"Ein ungezähmtes Tier" von Joël Dicker, Roman, 432 Seiten. Übersetzt von: Michaela Meßner, Amelie Thoma € 26,80.

Angela Szivatz ist Autorin ("Betrug und Liebe - die wahren Fälle einer Detektivin") Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Angela Szivatz lebt in Wien. Ihr erster Krimi "Tödliches Gspusi" ist eben erschienen.

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