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Wahl-Kopfnüsse 1: Hey Leute, wie werdet Ihr Mäuse wählen?

Die Kopfnüsse vor der EU-Wahl. Über die neue politische Kindersprache, worüber besser Stillschweigen herrschen sollte und was wir jetzt bereden müssen.

ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka lässt sich für Europa schön machen
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Helmut Graf
Newsflix Kopfnüsse
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Wählen heißt auch, einen möglichen Irrtum in Kauf zu nehmen. Ob man sich richtig entschieden hat oder nicht, erfährt man oft erst Jahre später. Dann bekommt man eine neue Chance eingeräumt, sich ein weiteres Mal zu blamieren, leider ist das Risiko eines abermaligen Irrtums gleich hoch. Darauf basiert unser politisches System, es verführt uns in Wahlkämpfen zu möglichen Irrtümern. Diesmal nicht, denn Wahlkampf gab es genau genommen keinen, und die Gefahr, von einem Wahlplakat verführt zu werden, stellte sich als geringfügig heraus.

Irrtümer gibt es aber nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion und im Leben abseits davon. Der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller gab dem Schweizer Portal kath.ch ein Interview und erklärte darin, warum Frauen keine Priester werden könnten. Der Priester repräsentiere nämlich "in seinem Mannsein Christus, den Bräutigam der Kirche". Dieser Bräutigam sei mit der Kirche verheiratet, sie sei "seine Braut". Ich vereinfache die Folgen jetzt ein bisschen: Eine Priesterin wäre dann mit der "Braut" Kirche verheiratet, also eine Frau mit einer Frau, und so ist das nicht vorgesehen. Auf der "Vienna Pride" sahen das die meisten am Samstag mutmaßlich etwas differenzierter.

Eine Ehe, sagte Müller, gebe es nur zwischen Mann und Frau, die Berufung zu Mann und Frau komme von Gott. "Da müsste man sich bei Gott selbst beschweren, dass er die Menschen als Mann und Frau geschaffen hat." Leider fragte die Interviewerin hier nicht nach, wie man mit Gott günstigstenfalls in Verbindung treten könnte. Vielleicht hatte sie Angst, dass der Kardinal darauf mit "am besten per E-Mail" antwortet und tags darauf ist das Postfach voll, weil es ja doch recht viele Menschen gibt und noch viel mehr Fragen.

Kann sich die grüne Spitzenkandidatin Lena Schilling heute Brüssel abschminken?
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Helmut Graf

Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat keine Fragen offen, er ist mit Antworten geradezu gesegnet. Es sei mitnichten eine Diskrimierung, dass Frauen nicht ins Priesteramt gewählt werden könnten, es handle sich nicht einmal um eine Ungerechtigkeit. Selbst wenn sich die Frau berufen fühlt. Das sei "reiner Subjektivismus", sagt Müller. "Frauen können nicht zu diesem Amt berufen sein", und wenn, müsse das "ein Irrtum sein". Ob sich darüber eine Beschwerde an oberster Stelle lohnen würde, verrät er nicht.

Priester wählen wir an diesem Sonntag keine und eine Hohenpriesterin schon gar nicht. Vielleicht täuscht die subjektive Wahrnehmung, aber ich habe im Vorfeld einer Wahl noch nie so viele Menschen sagen hören, dass sie nicht wissen, wem sie ihre Stimme geben sollen. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie vor der Wahlzelle etwas warten müssen. Vielleicht kann sich der eine oder die andere nicht entscheiden, malt die Kreise neben den Parteinamen aus, fragt, ob es möglich wäre, mehrere Parteien zu wählen oder eine verbale Beurteilung abgeben zu können. Dafür würde man aber ein paar weitere Stimmzettel benötigen, der Platz werde langsam eng.

Das Dilemma lag, wie bei der Kirche, auch hier an der Berufung. Die Parteien taten sich bekanntlich schwer, Kandidatinnen und Kandidaten zu finden. Viele befanden aus einem "reinen Subjektivismus" heraus das politische Leben in Wien geiler als in Brüssel, die Parteigötter kassierten reihenweise Absagen. Was mit dem Auswahlkriterium "Suche nach den besten Köpfen" begonnen hatte, endete mit der Frage: "Wer hat Zeit?"

FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky will kein Naseweis sein
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Helmut Graf

Ich vermute, es war dann so. Beleg habe ich natürlich keinen dafür, aber ein paar eidesstattliche Erklärungen werden sich zur Not schon auftreiben lassen. Mir ist ein Gespräch zwischen FPÖ-Obmann Herbert Kickl und seinem Generalsekretär Christian Hafenecker zu Ohren gekommen. Es muss von Anfang des Jahres stammen, als alle Parteien auf der Suche nach Spitzenkandidaten waren. Und sagen wir einmal so: Als Headhunter würden einige Parteimanager beruflich am Hungertuch nagen und es würde nicht aus Marzipan sein.

Also der Dialog zwischen Kickl und Hafenecker soll so gegangen sein:
Herbert Kickl: Sag einmal, wer ist denn eigentlich für uns in Brüssel?
Christian Hafenecker: Der Vilimsky Harald.
Kickl: Kenne ich nicht.
Hafenecker: Der ist ja auch schon zehn Jahre weg.
Kickl: Wo ist er denn?
Hafenecker: Na in der EU.
Kickl: Und wie macht er sich da?
Hafenecker: Der Vilimsky ist in der EU der Wahnsinn.
Kickl: Super, dann nehmen wir den wieder und den EU-Wahnsinn gleich als Spruch für die Plakate dazu. Brauch ich nichts mehr reimen.
Hafenecker (halblaut): Gott sei's getrommelt.

Dehnen für Europa, oder hält SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder hier ein Taxi an?
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Helmut Graf

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die FPÖ am Sonntag die Wahl gewinnen. Wenn Herbert Kickl Glück hat, dann liegt Harald Vilimsky solide vorne, aber auch nicht zu weit, jedenfalls nicht über 30 Prozent. Das verschafft ihm Luft für seine eigene Bewährungsprobe im September. Da wird Kickl nicht nur an den anderen Parteien gemessen, an seinen Vorgängern, am letzten Wahlergebnis, sondern auch am Vilimsky-Resultat. Und er sollte signifikant darüber liegen.

Die EU-Wahl, und das wird immer noch grob unterschätzt, ist dieses Mal nicht nur eine Art Generalprobe für die Nationalratswahl knapp drei Monate später. Viel wichtiger: Sie sortiert das politische Leben in Österreich vollkommen neu, nicht mehr und nicht weniger. Es handelt sich nicht um ein Violinkonzert in a-Moll, sondern um einen Paukenschlag. Es macht einen großen Unterschied, ob wir darüber reden, dass die FPÖ in Umfragen auf Platz 1 liegt oder erstmals bei einer bundesweiten Wahl von der Spitze lacht. Das eine ist Fiktion, das andere das echte Leben.

In diesem echten Leben werden die Diskussionen mit einem Mal anders sein. Die Rolle von Jäger und Gejagten dreht sich um. Das Selbstvertrauen wird sich wandeln. Auf der einen Seite die vor Zuversicht strotzende FPÖ, um die sich noch mehr als schon jetzt die politische Debatte drehen wird. Auf der anderen Seite die früheren Großparteien voller Selbstzweifel, vor allem dann, wenn das Ergebnis am Sonntag unter den Erwartungen ausfällt, den eigenen, vor allem aber den fremden.

Handy, Handy in der Hand, wer ist der Schönste im EU-Land? NEOS-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter
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Helmut Graf

Einigen Erzählungen der vergangenen Monate droht das Zerschellen. Die EU-Wahl ist der erste Fingerzeig, ob Andreas Babler seiner SPÖ tatsächlich neues Leben eingehaucht hat. Die Sozialdemokraten hatten in den letzten Jahren eine gewisse Leidenschaft dafür entwickelt, interne Debatten im öffentlichen Raum zu führen, die Kunstgattung könnte bei einem mageren Abschneiden eine Renaissance erleben. Nicht allein burgenländischer und tirolerischer Zungenschlag würde dann zu vernehmen sein.

Die EU-Wahl weist auch Karl Nehammer den Weg. Dem Kanzler droht selbst bei einem miserablen Ergebnis mitnichten die Gefahr, dass er vor der Nationalratswahl abgelöst wird, aber die ersten parteiinternen Sägen würden ausgepackt werden und das nicht, um als Musikinstrumente Einsatz zu finden. Die ÖVP wird ohnehin einen Absturz zu verdauen haben, sie kam bei der letzten EU-Wahl auf 34,6 Prozent, das wird sich in den ORF-Grafiken nicht hübsch machen.

Anders als für die ÖVP muss für die Grünen ein schlechtes Ergebnis kein schlechtes Ergebnis sein. Wenn sie über 10 Prozent landen, vier Prozentpunkte unter 2019 bleiben, denn werden in der Parteizentrale trotzdem alle mit Tofu anstoßen. Die NEOS werden mutmaßlich der zweite Gewinner dieser Wahl sein, auch das hat aber eine Schattenseite. Helmut Brandstätter legt Beate Meinl-Reisinger die Latte für den September herausfordernd hoch.

Benzinbrüder unter sich: Briten-Premierminister Rishi Sunak, Österreichs Kanzler Karl Nehammer
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Der Kanzler versucht indes über Veranstaltungen wie den "Autogipfel", Land zu gewinnen, aber anders als bei Sebastian Kurz scheint dem Unterfangen kein Faltplan hinterlegt. Rettung des Verbrennermotors vor dem Aussterben: Scheinwerfer hin, Scheinwerfer weg. Nehammer forderte ein Aus für das Verbrenner-Aus, aber die EU hat das gar nicht beschlossen. Er will "Technologieoffenheit", was hindert ihn?

In Tateinheit mit Deutschland torpediert der Kanzler den Umstieg auf die E-Mobilität. Die Austoindustrie ist in Österreich ein maßgeblicher Wirtschaftszweig, bis zu 400.000 Arbeitsplätze hängen am Tropf. Man darf zudem nicht außer Acht lassen, dass E-Autos kaum Service brauchen, keinen Ölwechsel, es geht also nicht nur um die Erzeugung von Fahrzeugen und Bestandteilen, sondern auch um das gesamte Werkstättengeschäft. Sich hier zu engagieren, ist politisch von Überlebenswillen durchdrungen.

Nur ist es halt so, dass Europa in den letzten Jahrzehnten am besten darin war, die Zukunft zu verschlafen. Jetzt verschlafen wir sogar die Gegenwart. Egal ob Digitalisierung oder Elektrifizierung oder nun der KI-Boom: Die USA und China entwickeln, wir kaufen teuer zu. Unsere Betriebe werden zu Botengängern, die einst stolze Industrie trägt Gehstock. Die Folgen davon sind noch gar nicht so richtig ins öffentliche Bewusstsein getreten.

In einer solchen Situation braucht man kühne Würfe in die Zukunft, Kennedy-Momente, Mondlande-Phantasien, nicht das Beharren auf alten Technologien. Es geht da viel um Kommunikation, um den Auftritt, wie wir wahrgenommen werden. Weniger in Österreich, sondern außerhalb. Als vergangenheitsversessen oder als zukunftsmutig. Als alter Kontinent. Oder als "Alter, was für ein Kontinent!"

Fax-Theoretiker Martin Kocher im Rahmen des benzinologischen Quartetts
Fax-Theoretiker Martin Kocher im Rahmen des benzinologischen Quartetts
Helmut Graf

Ich bedaure manchmal Martin Kocher. Er tut mir nicht leid, denn er hat sein Schicksal ja frei gewählt. Aber dann steht der Ökonom, wie am vergangenen Montag, inmitten des benzinologischen Quaretts und muss einen Satz aufsagen, den ihm vermutlich die PR-Abteilung so hingeschrieben hat: "Niemand ist auf die Idee gekommen, das Faxgerät zu verbieten, die Telefonzelle zu verbieten oder die Pferdekutsche zu verbieten", sagte Kocher nach dem Autogipfel. Das klang für den Moment toll, es stimmt auch. Das Fax, die Telefonzelle, die Kutsche wurden nicht verboten, die waren irgendwann einfach weg. Wie das Vierteltelefon.

Es hat sich aber zu keiner Zeit ein Kanzler oder ein Arbeitsminister hingestellt und gesagt: "Wir brauchen ein Aus für das Vierteltelefon-Aus. Wir brauchen Technologieoffenheit, vielleicht ist das Vierteltelefon besser als das iPhone. Wir kratzen jetzt das gesamte Forschungsgeld zusammen und entwickeln das Vierteltelefon so weiter, dass niemand ein Smartphone haben will. Ich will in der Weltöffentlichkeit nicht als Kanzler der Zukunft wahrgenommen werden, sondern als Mann, der das Vierteltelefon gerettet hat." Vielleicht hatte das Gründe, warum das keiner gesagt hat. Vielleicht aber auch nicht.

Verbrannte Erde? Bei einem Autogipfel im Kanzleramt versuchte der ÖVP-Teil der Regierung dem Spritmotor beizustehen
Verbrannte Erde? Bei einem Autogipfel im Kanzleramt versuchte der ÖVP-Teil der Regierung dem Spritmotor beizustehen
Helmut Graf

Immerhin sind wir aber bei der Ikearisierung der Politik ziemlich hip, oder? Ich erinnere mich an die Zeit vor wenigen Jahren, als um jedes Begrüßungswort gerungen wurde. Die "lieben Österreicherinnen und Österreicher" bekamen die "Menschen, die in diesem Land leben" beigestellt. Und jetzt? "Hey Leute!" Reicht. Wie wenn man nach dem Fliegenfischen zum Lagerfeuer zurückkehrt.

Das zieht sich durch die politische Landschaft wie ein roter, grüner oder türkiser Faden. Die Webseiten sind grundsätzlich mit einem per Du. Wann immer ich von den Grünen zuletzt elektronische Post bekomme habe, dann war ich der "liebe Christian", egal ob die Absenderin Sigi Maurer, Leonore Gewessler oder Lena Schilling hieß. Die Spitzenkandidatin für die EU-Wahl begrüßt ihr Publikum seit Kurzem der Einfachheit halber mit "Hey Leute". Ich kann nur für mich sagen: "Hey Leute, ich mag das nicht."

Natürlich ist das spießig und uncool und alt und grau und weiß und vermutlich muss ich mich nur ein bisschen lockerer machen. Aber dann sehe ich Werner Kogler und Johannes Rauch vor dem Fußballmatch Österreich gegen Serbien im Ernst Happel-Stadion. Die beiden haben ein Instagram-Video aufgenommen und begrüßen die User mit "Hallo, meine Fußballmäuse". Jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter.

Da steckt keine KI dahinter, denke ich. Soweit ist die künstliche Intelligenz noch nicht, dass sie Werner Kogler nachmachen könnte. Ich meine, da steht der Vizekanzler dieser Republik im grauen Anzug im VIP-Bereich und daneben steht der Sozialminister dieser Republik, mit 65 jetzt auch keine Jugend-Ikone mehr, im weißen Hemd und in einer dieser Strapazjacken, die Deutsche immer auf den Bergtouren mithaben, damit sie sich nicht verkühlen, und nennt uns "Fußballmäuse". Ja wirklich, "Fußballmäuse". Ich Wahlmaus fiebere schon dem Insta-Video nach der EU-Wahl entgegen.

Grünen-Chef Werne Kogler als Blumenkind auf der Vienna Pride
Grünen-Chef Werne Kogler als Blumenkind auf der Vienna Pride
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Ich wünsche einen wunderbaren Wahlsonntag. Falls Sie Zeit und und Muse haben, dann schauen Sie doch die "Wiener Prozesse" nach. Ich war recht skeptisch über dieses neue Format der "Wiener Festwochen", aber ich bin da irgendwie reingekippt. Das Schautheater bietet überraschend viel andersartige Debatten über andersartige Themen, der strenge Ablauf diszipliniert das geschickt.

Der rechte Politikberater Robert Willacker hielt auf der Veranstaltung eine gut neun Minuten lange Rede. Er wolle niemandem einen Spiegel vorhalten, sagte er, und hielt dann vor allem Linken einen Spiegel vor, dafür war er geladen worden, einige traf das unvorbereitet. Die Linken würden die Rechten brauchen, damit sie sich besser fühlen, sagte er. "Und damit haben Sie, meine Damen und Herren, endlich das ausgelagerte Feindbild, das sie brauchen, um sich nicht länger dem Konflikt mit ihrem eigenen Selbst stellen zu müssen."

Ich glaube, dass auch die Rechten die Linken nötig haben und zwar aus demselben genannten Grund. Aber abgesehen davon ist der Gedanke zündend, die Rede sehenswert, auch und vor allem von der Formulierkunst her. Nur das "lecker" hätte nicht sein müssen, irgendwo hat jede Toleranz ihre Grenzen.

Akt. Uhr
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