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Initiative

Warum 117.000 Kinder 10 Tage freiwillig aufs Handy verzichten

"10 Tage ohne Bildschirm". Kein Smartphone, kein Fernseher, kein Videospiel, kein Computer. In der Schule und privat. Was vor 20 Jahren in Kanada begann, erobert nun immer mehr Länder der Welt. Dienstag war Start. Was hinter der Aktion steckt.

Mädchen verbringen über vier Stunden pro Tag am Smartphone
Mädchen verbringen über vier Stunden pro Tag am SmartphoneiStock
Newsflix Redaktion
Akt. 13.05.2025 23:21 Uhr

Jedes zweite Kind zwischen 6 und 13 Jahren in Österreich besitzt ein eigenes Handy. Bei den 12- bis 19-Jährigen sind es dann sogar schon 96 Prozent. Das führt zu enormen Bildschirmzeiten. Eine Studie der "Mental Health Days" ergab: Kinder und Jugendliche verbrachten 2024 täglich bereits 221 Minuten am Smartphone, bei den Mädchen waren es sogar 248 Minuten, über vier Stunden also.

Aber es ist nicht das Handy allein. Heranwachsende nutzen auch andere digitale Medien immer intensiver. Sie sind 96 Minuten pro Tag auf Social Media, 92 Minuten auf Streaming-Portalen, nutzen Videospiele im Schnitt 72 Minuten täglich. Das klassische Fernsehen tritt da mit 43 Minuten klar in den Hintergrund.

Die digitale Sucht schneidet sich immer größere Teile aus dem Alltag von Kindern und Jugendlichen und das hat Konsequenzen. Junge Menschen verlernen zu leben, nehmen die Umwelt weniger stark wahr, Sinne verkümmern. die Konzentration für Relevantes nimmt ab, Aggressivität steigt. Wissenschaftlich ist das gut dokumentiert. Aber nun erhält eine Initiative immer mehr Zulauf. Was dahinter steckt:

Worum geht es konkret?
Am Dienstag startete die Challenge "10 Tage ohne Bildschirme", sie läuft vom vom 13. bis 22. Mai. 117.694 Schüler versuchen sich zehn Tage lang an einer nahezu unmögliche Mission: einem Leben ohne Bildschirme.

10 Tage dauert es, um das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu ändern
10 Tage dauert es, um das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu ändern
iStock

Wer macht mit?
Laut Letztstand 789 Bildungseinrichtungen, Kindergärten, Schulen, Mittelschulen und Gymnasien. 117.694 Schülerinnen und Schüler. Die Initiative erlebt vor allem in Frankreich enorm viel Zulauf.

Worauf muss verzichtet werden?
Grob auf alles, was strahlt und leuchtet. Also nicht nur aufs Handy, sondern auch auf Fernseher, Videospiele, Computer, Notebooks oder Tablets. Das Ziel ist ein vollkommener Verzicht, aber auch eine deutliche Reduktion ist okay. Das Bewusstsein soll geschärft werden.

Wo gilt der Verzicht überall?
Überall heißt überall. Also nicht nur in der Schule, sondern auch auf dem Weg dorthin und heim, aber auch in den Privaträumen. Angestrebt wird ein kompletter Digital Detox.

Was soll man mit der vielen Zeit anfangen?
Genau diese Überlegung war ein zentraler Teil schon zum Start der Challenge. Die teilnehmenden Institutionen wurden angehalten, ein möglichst attraktives Alternativ-Programm auf die Beine zu stellen.

Was ist darunter zu verstehen?
Die Kinder und Jugendlichen sollten wieder mehr rausgehen. Es werden Spiele im Freien organisiert, kreative Workshops, sportliche Aktivitäten angeboten, es gibt bildschirmfreie Abende. Wichtig: Auch die Familien sind eingeladen, sich aktiv zu beteiligen.

In vielen Ländern wird der Grad der Digitalisierung in Schulen zurückgeschraubt
In vielen Ländern wird der Grad der Digitalisierung in Schulen zurückgeschraubt
Getty Images

Woher kommt die Idee?
Aus Kanada. Der Sportlehrer Jacques Brodeur gründete 2003 in Quebec "10 Jours sans écrans", also 10 Tage ohne Bildschirm, zwei Jahre später lief die Aktion an. Sein Ziel war es, die Konzentration der Kinder in der Schule neu zu schärfen. Gesündere Lebensgewohnheiten wie körperliche Aktivität, Schlaf, Lesen und Familieninteraktionen sollten gefördert werden.

Wer war Jacques Brodeur?
Er unterrichtete 30 Jahre lang, war daneben Redner, Trainer, Berater. Das Thema Sensibilisierung von Bildschirmzeit begann ihn schon in den achziger Jahren zu interessieren, als Computer aufkamen. Brodeur war kein Fundi, er schätzte Fernseher, Computer und seine Bildschirme, aber er versuchte, sich auch ein Leben abseits zu behalten.

Was sagte er selbst über die Initiative?
"Ich wurde von einer Idee inspiriert, die mir in San Jose, Kalifornien, im Rahmen des SMART-Programms kam", sagte er der Zeitung La Croix. "Smart ist eine Schul-Initiative, die Fettleibigkeit bei Kindern verhindern und Aggressionen reduzieren soll, indem die Zeit vor dem Fernseher reduziert wird."

Wie funktioniert das?
"Das Programm basiert auf lehrergeführten Unterrichtseinheiten, um die Kinder für ihren übermäßigen Fernsehkonsum zu sensibilisieren", so Brodeur. "Sie werden außerdem ermutigt, an einer zehntägigen Aktion ohne Fernsehen und Videospiele teilzunehmen. Anschließend werden sie angehalten, ein „Budget" von sieben Stunden pro Woche einzuhalten.“

Was ist SMART genau?
Eigentlich die wissenschaftliche Basis der Challenge. Das Programm "Student Media Awareness to Reduce Television" wurde in den 1990er Jahren von der Stanford University entwickelt. Es sollte Kindern dabei helfen, ihre Bildschirmzeit zu reduzieren und die Auswirkungen dieser Reduzierung auf ihr Wohlbefinden, ihr Verhalten und ihre Gesundheit zu beobachten.

Seit 1. Mai gilt in Österreichs Schulen ein Handyverbot
Seit 1. Mai gilt in Österreichs Schulen ein Handyverbot
Michael Bihlmayer / ChromOrange / picturedesk.com

Welche Erkenntnisse wurden gewonnen?
Erstaunlich viele. Das Programm bestand aus 18 Unterrichtsstunden und führte zu einer "signifikanten Verringerung der Fettleibigkeit bei Kindern", berichtete das "Journal of the American Medical Association" (JAMA) bereits 1999 über eine Studie. Die Kinder lernten, ihre Bildschirmzeiten besser zu managen und sich in geringerem Maß gewalttätigen und Werbeinhalten auszusetzen. Dieser Effekt erstreckt sich auch auf Eltern und Geschwister.

Blieb das nur kurzfristig so?
Nein! Die Studie ergab einen anhaltenden Rückgang verbal aggressiven Verhaltens sowie eine bemerkenswerte Wirkung bei der Vorbeugung von Fettleibigkeit. Dazu eine Verbesserung des Zusammenlebens im Klassenzimmer.

Wie wird die "10 Tage ohne Bildschirme" durchgeführt?
Sie bricht jedenfalls nicht über die Beteiligten herein. Es gibt monatelange Vorbereitungen. Meist wird schon im Jänner gestartet. Es wird ein Lenkungsteam gebildet, das die Organisation übernimmt und alternative Aktivitäten plant. Die Schüler erhalten ein Logbuch, in dem sie ihre Fortschritte und Gefühle festhalten.

Was hat es mit diesem Logbuch auf sich?
Jedes Kind führt während der Challenge ein Tagebuch und gibt darin bildschirmfreie Zeiten und Ersatzaktivitäten an. Durch ein Punktesystem können Leistungen anerkannt werden. Es soll aber kein wirklicher Wettbewerb entstehen, im Vordergrund stehen Spaß und Anreize. Am Ende der Challenge gibt es oft eine Abschlussparty, um die Erfolge zu feiern.

Kostet die Teilnahme etwas?
Der Verein verlangt pro Person 12 Euro Mitgliedsbeitrag pro Jahr. An der Aktion können aber alle auch gratis teilnehmen. Mitglieder erhalten allerdings Logbücher, Badges, Plakate, einen Ratgeber für die Eltern und Aufkleber gratis.

Macht das Handy unsere Kinder krank? Experte Golli Marboe <a rel="nofollow" href="https://www.newsflix.at/s/221-minuten-am-tag-macht-das-handy-unsere-kinder-krank-120097589">erklärt im Podcast</a> seine Sicht der Dinge
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Warum dauert die Challenge 10 Tage?
Wissenschaftlich gesehen dauert es so lange, bis man in der Lage ist, mit seinem gewohnten Alltag zu brechen. Auch das ist ein Ergebnis des SMART-Programms der Stanford University.

Gibt es ähnliche Initiativen?
Ja, eine Reihe von Programmen versucht in verschiedenen Ländern, die Bildschirmzeiten von Jugendlichen zu reduzieren. Immer mehr Schulen bauen auch den Grad ihrer Digitalisierung zurück, darunter die Musterländer Schweden oder Finnland, aber auch die baltischen Staaten.

Viele Schulen reagieren auch, oder?
Ja, in immer mehr Bildungseinrichtungen werden Smartphones während der Unterrichtsstunden weggesperrt. Seit 1. Mai dürfen Schülerinnen und Schüler bis einschließlich der 8. Schulstufe auch in Österreich Mobiltelefone, Smartwatches und vergleichbare, der digitalen Kommunikation dienende Geräte in der Schule und bei Schulveranstaltungen nicht mehr nutzen.

So ganz ohne Technik geht es aber auch nicht, oder?
Nein, die Challenge wird in Videokonferenzen vorbesprochen.

Newsflix Redaktion
Akt. 13.05.2025 23:21 Uhr