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Warum TikTok durch Verbote nicht zu stoppen ist

Die Videoplattform ist die erfolgreichste App der Welt. Die aktuelle Auseinandersetzung zwischen dem Konzern und der Regierung der USA ist ein Kampf um die politische Vormacht.

TikToker Mona Swain (Mitte) und ihre Schwester Rachel (rechts) demonstrieren vor dem Capitol in Washington gegen das "TikTok-Verbot"
TikToker Mona Swain (Mitte) und ihre Schwester Rachel (rechts) demonstrieren vor dem Capitol in Washington gegen das "TikTok-Verbot"
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Newsflix Redaktion
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Verkaufszwang oder ein generelles Verbot in den USA, Ärger in der EU mit der neuen Version TikTok Lite – der Video-Plattform weht gerade ein eisiger Wind entgegen. Ein wichtiger Grund für das Sperrfeuer gegen die chinesische App: TikTok ist zu erfolgreich. Drei Jahre in Folge, von 2020 bis 2022, war es die weltweit am häufigsten geladene App überhaupt, die Nutzerzahlen sind zuletzt alleine zwischen Ende 2022 und zweitem Quartal 2024 um 600 Millionern Menschen auf 1,6 Milliarden gestiegen.

Gigant auf Konfrontationskurs Gleichzeitig tritt das Unternehmen TikTok dermaßen selbstbewusst auf, dass sich längst ganze Staaten auf den Schlips getreten fühlen. Bestes Beispiel: USA. Hier hat der Kongress erst diese Woche ein Gesetz verabschiedet, dass TikTok an die Kette legen möchte. Und Präsident Joe Biden, selbst TikTok-Kultfigur mit seinem Superhelden-Alter-Ego Dark Brandon, dessen Augen Laserstrahlen abschießen können wie Superman, hat das Gesetz unterzeichnet und damit den Weg frei gemacht für die Jagd auf TikTok.

Geht es TikTok an den Kragen? Aber weshalb haben es die USA überhaupt auf die Videoplattform abgesehen? Und wie sieht es in Europa aus? Könnte es auch hier zu einem Verbot kommen? Viele offene Fragen also. Newsflix sagt, was Sie über TikTok wissen müssen  und beleuchtet die entscheidenden Fakten:

Dark Brandon ist das Alter Ego von Joe Bider auf TikTok – und sehr erfolgreich
Dark Brandon ist das Alter Ego von Joe Bider auf TikTok – und sehr erfolgreich
TikTok

Worum geht es beim Streit zwischen TikTok und der US-Regierung?
Um einen der Eigentümer von ByteDance, den chinesischen Mutterkonzern hinter TikTok – und damit um dem chinesischen Staat, und der verfügt über ein beträchtliches Mitspracherecht. Deshalb befürchtet man in den USA, dass TikTok einerseits US-Bürger ausspionieren könnte, da diese ja – wie jeder User – eine beträchtliche Menge an Daten mit dem Unternehmen teilen. Und andererseits – und das ist wohl das noch größere Übel – fürchtet man, China könnte seinen Einfluss auf TikTok nutzen, um weite Teile der US-Bevölkerung politisch zu manipulieren und etwa Politiker, die China gut zu Gesicht stehen, fördern.

Was unternehmen die USA jetzt dagegen?
Es wurde diese Woche ein Gesetz verabschiedet, das den Mutterkonzern ByteDance zwingen soll, sein US-Geschäft binnen eines Jahres zu verkaufen, andernfalls würde man die Benutzung von TikTok in den USA generell verbieten.

Wie hat TikTok darauf reagiert?
Mit der Ankündigung, vor Gericht zu gehen und gegen dieses Gesetz zu klagen, weil es nach Ansicht von TikTok dem Recht auf Redefreiheit in der US-Verfassung widerspricht. TikTok-Chef Shou Zi Chew hat dazu ganz aktuell ein Video gepostet, in dem er den Standpunkt des Unternehmens darlegt.

Hat sich auch China selbst dazu geäußert?
Die chinesische Regierung hat bereits klargestellt, dass ein Verkauf des US-Zweigs von Twitter für sie nicht in Frage kommt. Wenn man die Vehemenz und das Selbstbewusstsein betrachtet, mit dem China hier agiert, könnte man schon zu dem Schluss kommen, dass die Befürchtungen der USA bezüglich des Einflusses von China auf die Gebarungen von TikTok nicht ganz abwegig sind.

Gibt es sonst wo auf der Welt TikTok-Verbote?
Ja. Indien, Nepal, der Iran, Afghanistan, Syrien, Jordanien, Usbekistan, Kirgistan und Somalia haben TikTok dauerhaft gesperrt, in China selbst ist nur eine zensurierte Version der App verfügbar. In vielen weiteren Staaten kam es bereits zu zeitweiligen Sperren (u.a. in Pakistan, Indonesien und Bangladesh). Und in zahlreichen westlichen Ländern darf TikTok nicht auf regierungseigenen Kommunikationsgeräten installiert sein, neben den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, den Benelux-Staaten, Australien und Neuseeland gilt das etwa auch für Österreich.

Was gilt in Österreich?
Auf den Smartphones von Mitgliedern der Regierung darf die App nicht installiert sein. Aber: Es gibt natürlich eine Umgehungskonstruktion. Der Mitarbeiterstab der Politiker erhält seine Handys von der jeweiligen Partei und darf dann damit filmen und tiktoken was das Zeug hält. Deshalb finden sich viele Regierungsmitglieder auch auf der China-Plattform, die meisten allerdings mit wenig Erfolg.

Gibt es in Europa ähnliche Befürchtungen wie in den USA?
Ja. 2023 wurde TikTok auf Dienstgeräten für alle EU-Institutionen wegen Sicherheitsbedenken verboten. Auch hier gibt aber es eine Doppelzüngigkeit. Im EU-Wahlkampf will das Europäische Parlament die Plattform ausgiebig nutzen. Der Pressedienst will seine Präsenz aufbauen und ausbauen. Zudem macht sich Europa Gedanken über das Suchtpotenzial von TikTok, vor allem der neuesten Variante der App, TikTok Lite. Die ist in Europa bisher seit Anfang April nur in Spanien und Frankreich verfügbar.

Was ist bei TikTok Lite anders?
Das Lite bezieht sich darauf, dass diese Variante der App weniger Systemressourcen und ein geringeres Datenvolumen beansprucht als das klassische TikTok. Viel entscheidender ist aber, dass TikTok Lite ein Belohnungssystem integriert hat, das User dafür belohnt, wenn sie länger Videos schauen, öfter teilen und mehr bewerten. Dafür bekommt man digitale Token, die man dann in Gutscheine für reale Onlinehändler wie etwa Amazon eintauschen kann. Die EU befürchtet "die Gefahr schwerer Schäden für die psychische Gesundheit der Nutzenden" dadurch und hat vor wenigen Tagen ein Verfahren gegen TikTok nach dem Digital Service Act eröffnet, weil sie einen Verstoß gegen EU-Regeln sieht.

Wie hat TikTok reagiert?
Überraschend flink. TikTok hat inzwischen, wie von der EU gefordert, eine Risikoeinschätzung für TikTok Lite vorgelegt, die nun von den zuständigen Stellen geprüft wird. "TikTok ist stets bestrebt, konstruktiv mit der EU-Kommission und anderen Regulierungsbehörden zusammenzuarbeiten", schrieb der Konzern am Mittwoch auf X. Vor allem aber setzte TikTok die Belohnungsfunktionen aus, "freiwillig, während wir die von ihnen geäußerten Bedenken ausräumen."

Deborah Mayer aus New Jersey, USA, verkauft via Livestream gebrauchte Handtaschen und Mode
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Weshalb geht TikTok gleich mehrfach auf Konfrontationskurs mit westlichen Staaten?
Dazu gibt es mehrere Theorien. Manche Beobachter meinen, das Unternehmen wachse einfach zu schnell und begehe deshalb Fehler. Oder es würden Realitäten falsch eingeschätzt werden. Oder aber, es könnte eine bewusste Strategie dahinterstecken,. Um zu sehen, wie weit westliche Staaten bereit sind zu gehen, ihre politischen Vorstellungen und Forderungen durchzusetzen, wenn gleichzeitig die eigene Bevölkerung und die Wirtschaft durch mögliche Konsequenzen aus diesem Vorgehen beeinträchtigt werden.

Wie viele Menschen nutzen TikTok?
In den USA sind es etwa 170 Millionen Menschen, das heißt, mehr als jeder zweite Amerikaner verwendet die Video-App. In Österreich sind es laut letzten verfügbaren Zahlen vom Oktober 2,1 Millionen. Laut "Social Media Report 2023" verwenden 90 Prozent aller TikToker die App täglich und öffnen sie durchschnittlich acht Mal pro Tag. Bereits 78 Prozent aller Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren sowie 62 Prozent der Burschen in dieser Altersgruppe haben TikTok auf ihrem Smartphone installiert.

Welche Konsequenzen könnte ein TikTok-Verbot für Nutzer haben?
Wenn das Verbot schlagend wird (frühestens in einem Jahr), wird die App nicht mehr in den App-Stores erhältlich sein, es wird auch keine Updates mehr geben. Damit würde die App bei den meisten Konsumenten irgendwann nicht mehr funktionieren. Es wird aber vermutlich Möglichkeiten geben, sich den Support andernorts zu holen. Wie sehr die App dadurch wirklich eingedämmt würde, ist schwer vorhersagbar, ein Verbot wäre aber vermutlich vor allem ein starkes Symbol.

Welche Chancen hat eine Klage seitens TikTok gegen das Gesetz?
Das ist schwer vorhersagbar, weil die Justiz in den USA sehr unkalkulierbar agiert. Der Vorhalt, ein Verbot widerspreche der Redefreiheit, wiegt allerdings schwer. Und es gab bereits einmal den Fall, dass ein US-Gericht ein TikTok-Verbot auf Bundesstaatsebene gekippt hat. Der Staat Montata wollte TikTok im Frühjahr 2023 auf seinem Territorium komplett verbieten und scheiterte.

Welche wirtschaftlichen Konsequenzen hätte ein TikTok-Verbot?
Die unmittelbare Folge wäre, dass der Umsatz des Unternehmens,  in den USA derzeit etwa 16 Milliarden Dollar, einbricht. Auch die rund 7.000 Angestellten von TikTok in den USA würden wohl ihre Jobs verlieren. Und TikTok argumentiert weiters, dass sieben Millionen amerikanische Unternehmen davon abhängig seien, via TikTok Marketing zu betreiben und diese Unternehmen durch ein Verbot beträchtliche Probleme bekommen würden.

Verkaufsstand von Tiktok auf der "Appliance & Electronics World Expo" (AWE) in Shanghai im März 2014
Verkaufsstand von Tiktok auf der "Appliance & Electronics World Expo" (AWE) in Shanghai im März 2014
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Ist TikTok wirtschaftlich wirklich so einflussreich?
Das hängt natürlich von der jeweiligen Branche ab. Aber grundsätzlich ist TikTok mittlerweile der wichtigste digitale Draht zu den Menschen, die man erreichen möchte, vor allem den Jungen, ganz gleich, was man ihnen "verkaufen" will. Und vor allem: TikTok ist extrem treffsicher. Botschaften erreichen ihr Publikum.

Woher kommt die große Treffsicherheit von TikTok?
Das Geheimnis ist der Algorithmus, den TikTok nutzt, um seinen Usern zielgerichtet Videos zuzuspielen. Er stammt vom TikTok-Mutterkonzern ByteDance, wird laufend weiter entwickelt und ist das am besten gehütete Geheimnis des Unternehmens. Es ist davon auszugehen, dass der Algorithmus einer der Hauptgründe dafür ist, dass die chinesische Regierung so eifersüchtig über TikTok wacht und einen Verkauf des Unternehmens, wie von den USA gefordert, kategorisch ausschließt. Der Algorithmus ist "ihr Schatz" und man möchte sich gar nicht ausmalen, wo dieses Programm noch überall zur Anwendung kommt - oder kommen könnte.

Und weshalb ist die App so erfolgreich?
Weil sie im Grunde viele Apps in einer ist. Anfangs wurde TikTok vor allem als lustiges Spielzeug wahrgenommen, auf dem getanzt wird und auf dem zu bereitgestellten Songs lippensynchron "gesungen" werden kann. Aber inzwischen ist TikTok ein ganzer Bauchladen an Anwendungen, und jeder kann sich "seine" Lieblings-Anwendungen heraussuchen.

Man bekommt maßgeschneiderte Infos zu allen Themen, die einen interessieren, seien es nun Bücher ("BookTok"), Kinofilme und Serien, Musik, Mode, Lifestyle, Reisen oder Kochen. Kein Thema, das sich nicht auf der App findet. Dazu kommt, dass TikTok mittlerweile eine der wichtigsten Nachrichten-Plattformen im Netz ist – die "New York Times" berichtet von einer Untersuchung, wonach heute ein Drittel der 18- bis 29-jährigen Amerikaner regelmäßig Nachrichten auf TikTok konsumiert.

Schneidet sich die Politik nicht ins eigene Fleisch, wenn sie TikTok verbietet?
Das sollte man jedenfalls annehmen. Immerhin ist TikTok für Politiker längst einer der wichtigsten Drähte zu ihrer Wählschaft – und eine gute Gelegenheit, sich mit simplen Mitteln darzustellen, regelmäßig ins Gedächtnis zu rufen und die eigenen Botschaften immer wieder zu vermitteln.

Viele Politiker wissen das längst und beschäftigen ganze Teams, die sich mit ihren Auftritten auf TikTok beschäftigen, andere kommen erst langsam drauf. Ein Beispiel: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni etwa hat aktuell etwa 1,5 Millionen Follower auf TikTok bei knapp 59 Millionen Einwohnern. US-Präsident Biden hat derzeit 308.000 Follower auf TikTok, ein Fünftel von Meloni. Bei einer Bevölkerungszahl, die fünfmal so groß ist. Da ist noch viel Luft nach oben.

Wer würde unter einem TikTok-Verbot besonders leiden?
Im Grunde alle, die etwas über TikTok zu verkaufen haben. Die "New York Times" schildert in einer aktuellen Analyse die die Marktmacht von TikTok aus. Die beiden Mega-Blockbuster des letzten Kino-Sommers, der Atombombenfilm "Oppenheimer" (über eine Milliarde Dollar Umsatz an der Kinokasse) und "Barbie" (über 1,4 Milliarden Dollar), liefen vor allem deshalb so gut, weil die Filmstudios TikTok massiv einsetzten. "'Nachdem sie herausgefunden hatten, wie sie TikTok nutzen können, ist das Letzte, was sie wollen, dass es dunkel wird', sagt Sue Fleishman, eine ehemalige Führungskraft von Universal Pictures und Warner Bros., die jetzt als Beraterin tätig ist.

Und wem gehört TikTok eigentlich?
Es klingt kurios, aber der Mutterkonzern von TikTok, das chinesische Unternehmen ByteDance, ist trotz seiner Größe (2022 betrug der Umsatz 80 Milliarden Dollar) nach wie vor in Privatbesitz. Der aktuelle Marktwert des Unternehmens beträgt etwa 268 Milliarden Dollar. Der Gründer des Unternehmens, der ehemalige IT-Student Zhang Yiming, besitzt nach wie vor etwa 20 Prozent von ByteDance.

Gehört alles den Chinesen?
Nein, etwa 60 Prozent sind mittlerweile in der Hand von vor allem amerikanischen Investoren. Die größten sind "Blackrock", der weltgrößte Fonds mit Sitz in New York verwaltet aktuell etwa zehn Billionen Dollar (also 10.000 Milliarden). Außerdem der Finanzinvestor "General Atlantic" aus New York, der knapp sieben Milliarden Dollar in China investiert hat. Und "SIG", ein global agierendes Handels- und Technologieunternehmen mit Sitz in Pennsylvania, dessen 15-Prozent-Anteil an ByteDance auf einen Wert von etwa 40 Milliarden Dollar geschätzt wird. "SIG" ist auch der größte Spender für den Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump mit mehr als 46 Millionen Dollar.

Viele Milliarden guter Gründe also, weshalb TikTok online bleiben könnte. Oder sollte? Es wird sich zeigen, wie sich das Duell zwischen Washington und Peking – denn um nichts anderes handelt es sich beim Kampf um TikTok mittlerweile – weiter entwickelt. Und ob einer der Duellanten vorzeitig die Nerven verliert.

Uhr
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