Am Montag nahm das Vera Rubin Observatorium in Chile den Betrieb auf. Es erfasst nun 10 Jahre lang den Weltraum in bisher nicht gekannter Genauigkeit – und findet vielleicht einen neunten Planeten irgendwo weit hinter dem Neptun.
Am 15. April um 20 Uhr Ortszeit zeichnete das Vera Rubin Observatorium die ersten Photonen von Sternenlicht auf.
Zunächst sahen die Bilder, die alle Bildschirme im Kontrollraum auf dem Cerro Pachón, 2.500 Meter hoch am Fuße der Anden im Norden Chiles, füllten, wie ein Feld von schneeweißem Rauschen auf einem alten Fernseher aus. Aber als man näher heranzoomte, verwandelten sich die Flecken bald in unzählige Sterne und Galaxien, die zwischen riesigen, feine Staubwolken schwebten, wie winzige bunte Farbspritzer, die über eine riesige schwarze Wand gespritzt waren.
"Es gab einen riesigen Jubel und Geschrei, den Menschen kamen die Tränen", erinnert sich Alysha Shugart, eine Physikerin, die die Ereignisse in dieser Nacht mitverfolgte. "Diese kleinen Photonen hatten keine Ahnung von dem roten Teppich, der für ihren Empfang ausgerollt worden war."
Die Ankunft dieser Photonen – viele davon stammten von alten Sternen und Galaxien und waren Milliarden von Jahren durch das Universum gereist – war ein Moment perfekter Symmetrie. Genau zehn Jahre zuvor hatten die Arbeiten am Bau des Observatoriums auf dem Cerro Pachón begonnen. Damit startete auch ein zehnjähriges Projekt – die Legacy Survey of Space and Time (LSST). In dessen Rahmen wird das Rubin-Teleskop alle drei bis vier Tage ultrahochauflösende Bilder des gesamten Nachthimmels der südlichen Hemisphäre aufnehmen.
Rubin wird mehr Details über den Kosmos erkennen und mehr seiner Geheimnisse lüften als jedes andere Gerät zuvor. Es wird so schnell so viele Informationen sammeln – Billionen von Datenpunkten zu mehr als 40 Milliarden neuen Sternen, Galaxien und anderen kosmischen Objekten –, dass es die Astronomie grundlegend verändern wird.
Allein im ersten Jahr wird es die Datenmenge verdoppeln, die bisher von allen anderen Instrumenten in der Geschichte der optischen Astronomie gesammelt wurde. Jede Nacht werden 20 Terabyte an Rohbilddaten gesammelt, im Laufe des LSST-Projekts mehr als 500 Petabyte an Bildern und Analysen produziert. Zum ersten Mal werden Astronomen auch über einen zehnjährigen Zeitraffer des Nachthimmels verfügen.
Dieser letzte Teil ist es, dem die Wissenschaftler am erwartungsvollsten entgegenblicken. Bislang haben sich astronomische Observatorien darauf konzentriert, detaillierte Momentaufnahmen von winzigen Punkten am Nachthimmel zu machen. "Aber der Himmel und die Welt sind nicht statisch", sagt Yusra Al-Sayyad, Forscherin an der Princeton University, die Rubins Bildverarbeitungsalgorithmen überwacht. "Es rasen Asteroiden vorbei, Supernovae explodieren."
Viele dieser schnellen oder vorübergehenden Objekte können nur von großen Observatorien gesehen werden, wenn sie zufällig genau zur richtigen Zeit in die richtige Richtung zeigen. "Heute haben wir noch kein wirklich vollständiges, umfassendes und tiefes Bild vom Universum", sagt Leanne Guy, Physikerin bei Rubin.
Rubin wird diese Lücke schließen. Seine 1,7 Meter lange Kamera mit 3.200 Megapixeln – die größte Digitalkamera, die je gebaut wurde – hat ein enormes Sichtfeld, das einer Fläche von 45 Vollmonden entspricht.
Die Kamera wird mit Sternenlicht gespeist, das von einem 8,4 Meter breiten Hauptspiegel reflektiert wird, Wissenschaftler der University of Arizona sieben Jahre lang gearbeitet, um ihm seine einzigartige Form zu geben.
Trotz ihrer Größe können sich die Spiegel, das Teleskop und die riesige silberne Kuppel, in der sie untergebracht sind, extrem schnell gemeinsam bewegen. Das Teleskop wird alle 30 Sekunden ein Bild aufnehmen können, und sein "Gehirn". Eine Software namens "Scheduler" wird mithilfe eines Algorithmen für maschinelles Lernen jede Nacht automatisch die besten Positionen für die Kamera berechnen, um so viel wie möglich vom Himmel abzudecken und gleichzeitig Hindernisse wie Wolken oder vorbeifliegende Satelliten zu vermeiden.
Im Laufe eines Jahrzehnts wird jeder Punkt am Himmel etwa 800 Mal fotografiert.
In einem Bild, das diese Woche vom Rubin-Team veröffentlicht wurde und zehn Stunden Beobachtungen zusammenfasst, konnten Astronomen beispielsweise mehr als 2.000 bisher unbekannte Asteroiden im Sonnensystem identifizieren (darunter sieben erdnahe Asteroiden). Zum Vergleich: Von allen anderen Boden- und Weltraumobservatorien werden jedes Jahr insgesamt etwa 20.000 Asteroiden entdeckt.
Während des LSST wird Rubin die bislang detaillierteste Bestandsaufnahme von Millionen bisher unbekannter Objekte im Sonnensystem durchführen, darunter eine Verdreifachung der Anzahl bekannter Objekte, die der Erde nahe kommen könnten, und die Entdeckung von rund 70 Prozent der als "potenziell gefährlich" eingestuften Asteroiden, das heißt Asteroiden mit einer Breite von mehr als 140 Metern.
Wenn es, wie einige Wissenschaftler vermuten, irgendwo weit hinter Neptun in den Wolken aus Gesteinsbrocken einen neunten Planeten gibt, wird Rubin ihn finden.
Die Bestandsaufnahme wird weit über das Sonnensystem hinausreichen. Da die LSST-Kamera während ihrer zehnjährigen Beobachtungszeit immer wieder zum gleichen Punkt am Himmel zurückkehren wird, können Astronomen viele Bilder desselben Ortes kombinieren. Je schwächer ein Objekt leuchtet, desto weiter entfernt und älter ist es wahrscheinlich. Daher werden Hunderte von übereinandergelegten Bildern schließlich die allerersten Sterne und Galaxien sichtbar machen.
Durch die Aufzeichnung von Details – wie Farben, Formen, Positionen und Bewegungen – von mehr als 17 Milliarden Sternen und 20 Milliarden Galaxien soll Rubin einen Katalog des Nachthimmels erstellen, den Kosmologen dann verwenden können, um ihr bisher detailliertestes Bild des frühen Universums zu erstellen und zu untersuchen, wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat.
Dies wird für zwei der Hauptziele des Rubin-Observatoriums von entscheidender Bedeutung sein: das Verständnis der Natur der dunklen Materie und der dunklen Energie.
Es ist dieses dunkle Universum, für das Rubin Ende der 1990er Jahre ursprünglich konzipiert wurde. Die Namensgeberin des Observatoriums, Vera Rubin, war eine US-amerikanische Astronomin, die in den 1970er Jahren berühmt wurde, weil sie maß, dass sich die Sterne am Rand der nahe gelegenen Andromeda-Galaxie genauso schnell bewegten wie die im Zentrum. Was unmöglich wäre, wenn nur normale Materie vorhanden wäre.
Ihre Entdeckung lieferte den Beweis für die Existenz von "dunkler" Materie, die nicht sichtbar ist und nur durch die Schwerkraft mit normaler Materie interagiert.
Zwei Jahrzehnte später entdeckten Wissenschaftler ein noch größeres Loch im Universum: Eine mysteriöse Substanz beschleunigte die Expansion des Weltraums. Es stellte sich heraus, dass dunkle Energie 68 Prozent der Masse im Universum ausmacht und dunkle Materie etwa 27 Prozent. Nur etwa 5 Prozent stammen aus der uns bekannten "normalen" Materie, aus der Sterne, Planeten, Staub und alles auf der Erde besteht.
Um zu verstehen, wie sich das unsichtbare dunkle Universum verhält, müssen wir das sichtbare Universum besser beobachten. Rubins LSST wird dabei helfen, indem es misst, wie das Licht von sehr weit entfernten Galaxien durch die Gravitationskraft der Materie zwischen ihnen und der Erde verzerrt wird. Diese Messungen werden Astronomen Details darüber liefern, wie Materie im Universum angeordnet ist und wie sie sich bewegt. Beides sind wichtige Hinweise auf die Natur des dunklen Universums.
Insbesondere die Erforschung der dunklen Energie wird einen Schub erhalten. Das Phänomen wurde in den 1990er Jahren entdeckt, als Wissenschaftler die Bewegungen der wenigen Supernovae untersuchten, die damals in der Milchstraße bekannt waren.
Rubin wird laut den dort arbeitenden Wissenschaftlern eine „Supernova-Fabrik” sein, die möglicherweise Milliarden weiterer dieser explodierenden Sterne entdecken wird und Kosmologen einen weitaus größeren Datensatz liefert, um das Verhalten der dunklen Energie tiefer und präziser und mit viel besseren Statistiken zu untersuchen.
Die Daten von Rubin bleiben nicht auf dem Berggipfel in Chile. Weniger als zehn Sekunden nach dem Schließen der LSST-Kamera werden alle Daten über spezielle Glasfaserkabel an Computer im SLAC National Accelerator Laboratory in Kalifornien übertragen (Backups gehen an Rechenzentren in Frankreich und Großbritannien).
Im SLAC werden die Bilder zunächst automatisch bereinigt und einer ersten Analyse unterzogen, bei der Objekte gesucht werden, die beispielsweise zum ersten Mal aufgetaucht sind oder seit der vergangenen Nacht ihre Position oder Helligkeit deutlich verändert haben.
Diese Veränderungen – wahrscheinlich Millionen pro Nacht – werden schnell (durch speziellere Algorithmen) zu einer Prioritätenliste zusammengefasst und an andere Observatorien auf der ganzen Welt weitergeleitet, die dann eigene detailliertere Direktmessungen durchführen können. All dies geschieht autonom. "Es ist absolut unmöglich, dass ein Mensch diese Warnmeldungen mit bloßem Auge durchgehen könnte", sagt die Physikerin Leanne Guy. "Das ist unmöglich."
Der Start des LSST in Rubin ist für Oktober geplant. In der Zwischenzeit werden die Instrumente auf dem Cerro Pachón weiter getestet, erneut getestet und kalibriert. Obwohl die Hauptaufgabe von Rubin vorerst festgelegt ist, wissen die Wissenschaftler, die das Observatorium gebaut haben, dass sie letztlich über eine Entdeckungsmaschine verfügen. "Was mich langfristig am meisten begeistert, sind die Dinge, an die wir noch gar nicht gedacht haben", sagt Dr. Guy.