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Mord-Ermittlungen

4 Tote im Hotel: Wieso es plötzlich eine erste heiße Spur gibt

Eine Familie, die in Istanbul Urlaub machte, wurde mit schweren Vergiftungs-Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Mutter und ihre Kinder (3 und 6 Jahre alt) starben, am Montag verlor auch der Vater den Kampf um sein Leben. Was man bisher weiß, was nicht

Das Hotel "Harbour Suites Old City" im Stadtteil Fatih auf der europäischen Seite von Istanbul
Das Hotel "Harbour Suites Old City" im Stadtteil Fatih auf der europäischen Seite von IstanbulScreenshot Google Streetview
Martin Kubesch
Akt. 18.11.2025 00:25 Uhr

Eine junge Familie macht Urlaub in Istanbul. Vater, Mutter und die beiden Kinder, ein Mädchen, 3, und ein Bub, 6 Jahre alt. Sie stammen aus der Türkei, leben aber seit vielen Jahren in Hamburg, haben auch die deutsche Staatsbürgerschaft.

Keine vier Tage nach der Ankunft in Istanbul sind die Mutter und ihre Kinder tot, augenscheinlich vergiftet. Der Vater der Familie rang im Krankenhaus tagelang um sein Leben, verlor den Kampf aber am Montagabend ebenfalls.

Seit Tagen beschäftigt kaum ein Thema die Menschen in den sozialen Medien so sehr wie die Familientragödie von Istanbul. Denn nach wie vor ist ungeklärt, woran die junge Familie gestorben ist. Zunächst war man von einer Lebensmittelvergiftung ausgegangen. Doch mittlerweile haben Mordermittler die Untersuchung übernommen – und sie halten eine ganz andere Spur für heiß.

Was über das tragische Schicksal der Hamburger Familie bisher bekannt ist, was die Behörden mittlerweile für die wahrscheinlichste Todesursache halten, was die Angehörigen der Verstorbenen sagen – das weiß man über das Vergiftungs-Drama von Istanbul:

Worum geht es?
Um den tragischen Tod von Çiğdem B., 27, und ihrer zwei Kinder (3 und 6 Jahre alt) vergangene Woche sowie den letztlich vergeblichen Überlebenskampf des Vaters, Servet B. Der Mann starb am Montagabends. Die junge Familie war vergangene Woche gemeinsam auf Urlaub in Istanbul und wurde dort augenscheinlich Opfer einer Vergiftung.

Der Stadtteil Fatih lebt von seinen vielen kleinen Lokalen und Streetfood-Läden: Hier verbrachte die Hamburger Familie B. ihre letzten Tage
Der Stadtteil Fatih lebt von seinen vielen kleinen Lokalen und Streetfood-Läden: Hier verbrachte die Hamburger Familie B. ihre letzten Tage
APA-Images / dpa / Ahmed Deeb

Woher stammt die Familie?
Sie hatte türkische Wurzeln, lebte aber seit vielen Jahren in Hamburg. Besonders tragisch: Der Vater der toten Frau lebt nach wie vor in Westanatolien und berichtete, dass die Familien plante, demnächst in die alte Heimat zurück zu siedeln.

Aber jetzt war sie auf Urlaub in Istanbul?
Richtig, die vier reisten am Sonntag, dem 9. November, in die Stadt am Bosporus.

Was passierte dann?
Die Familie checkte im Dreistern-Hotel "Harbour Suites Old City" im Stadtteil Fatih auf der europäischen Seite von Istanbul ein. Es handelt sich um eine typische Touristengegend in der Nähe des Meeres, kleine Hotels reihen sich hier aneinander, unzählige Restaurants und Streetfood-Stände buhlen um die Gunst der Besucher.

Wie nahm das Unglück seinen Lauf?
Montag und Dienstag absolvierte die Familie ein typisches Istanbul-Besuchsprogramm, war in der Stadt unterwegs. In der Nacht auf Mittwoch, den 12. November, stellte sich bei allen Familienmitgliedern erstmals Übelkeit ein, wie die (mittlerweile verstorbene) Frau den Ärzten vor ihrem Tod zu Protokoll gab. Am Morgen des Mittwoch ging die ganze Familie ins Krankenhaus und ließ sich behandeln.

Was wurde diagnostiziert?
Durchfall und Gastroenteritis (Magen-Darm-Grippe) bei den Eltern, Erbrechen und Übelkeit bei den Kindern. Die Familie wurde behandelt (wie genau wurde bislang nicht kommuniziert), fühlte sich im Lauf des Nachmittags besser und kehrte in ihr Hotel zurück.

Was geschah weiter?
Noch in der Nacht verschlechterte sich der Zustand vor allem der Frau und der beiden Kinder dramatisch und der Vater rief die Rettung. Laut türkischen Medienberichten kamen alle vier um 3 Uhr früh ins Taksim-Krankenhaus.

Muscheln an einem Streetfood-Stand in Fatih: Insgesamt elf Menschen wurden wegen des Todes der Familie bisher festgenommen
Muscheln an einem Streetfood-Stand in Fatih: Insgesamt elf Menschen wurden wegen des Todes der Familie bisher festgenommen
APA-Images / dpa / Ahmed Deeb

Wie spitzte sich die Lage zu?
Angeblich waren die Frau und die beiden Kinder bei der Einlieferung ins Spital nicht mehr bei Bewusstsein. Alle drei starben im Laufe des Donnerstag. Der Vater soll mehrere Herzinfarkte erlitten haben und rang in der Klinik tagelang um sein Leben. Montagabend gaben die Gesundheitsbehörden der Stadt schließlich bekannt, dass auch der Familienvater seinen Kampf verloren hat.

Woran starb die Familie?
An den drei Verstorbenen von letzter Woche wurde zwar bereits eine Obduktion durchgeführt, doch diese war offenbar zunächst ergebnislos. Es gab demnach keine genaueren Erkenntnisse über die Todesursache der Mutter und ihrer beiden Kinder. Eine allfällige Obduktion des Familienvaters stand zuletzt noch aus.

Worauf tippen die Ärzte?
Zunächst ging man von einer Lebensmittelvergiftung aus. Bei ihrem ersten Spitalsaufenthalt hatte die junge Mutter den Ärzten sehr genau geschildert, wo sie und ihre Familie in den vergangenen beiden Tagen was gegessen hatten. Auf Basis dieser Angaben gingen Ermittler noch am Freitag nach dem Tod der drei Menschen auf Spurensuche.

Was hat die Familie gegessen?
Man verköstigte sich vornehmlich bei fliegenden Händlern und in kleinen Streetfood-Lokalen. Die Staatsanwaltschaft von Istanbul veröffentlichte am Wochenende die komplette Liste. Demnach ernährte sich die Familie von Pide (türkische Pizza) mit Faschiertem und Sucuk (türkische Peperoniwurst) sowie Käsepizza. Außerdem gab es Poğaça (türkisches Gebäck) und Simit (Bagels), Muscheln (von einem Straßenverkäufer neben der Ortaköy-Moschee), Suppe, Kokoreç (gegrillter Kalbsdarm), gegrilltes Huhn und türkische Süßspeisen.

Was ergaben die Ermittlungen?
Noch am Freitag wurden vier Straßenhändler vorläufig festgenommen, ihnen wird fahrlässige Tötung vorgeworfen. Laut den Behörden seien alle vier vorbestraft, allerdings wegen anderer Delikte. Am Montag wurde zudem noch ein Bäcker festgenommen.

Wurden auch Lebensmittelproben genommen?
Ja, bei den festgenommenen Händlern, allerdings auch Reste der Süßspeisen sowie von Erbrochenem im Hotelzimmer der Familie. Laut der Zeitung Cumhüriyet hätten die ersten Resultate der Laboruntersuchungen allerdings keine Hinweise auf verdorbenes Essen ergeben.

Das Taksim Krankenhaus in Istanbul: Hier wurde die deutsch-türkische Familie vor ihrem Tod behandelt
Das Taksim Krankenhaus in Istanbul: Hier wurde die deutsch-türkische Familie vor ihrem Tod behandelt
APA-Images / dpa / Mirjam Schmit

Gibt es bereits Resultate der Proben, die bei den Autopsien entnommen worden sind?
Bis Montagabend gab es dazu noch keine Ergebnisse. Allerdings bezweifeln Fachleute in mehreren Medien, dass tatsächlich die Muscheln oder das Hühnchen (die "Hauptverdächtigen" auf der Speiseliste) Schuld an der Erkrankung bzw. dem tragischen Tod der Familie sind.

Weshalb?
Weil es ihrer Meinung nach viel zu lange gedauert hätte, ehe die Organismen eine Reaktion auf die schlechten Speisen gezeigt hätten. Eine Vergiftung mit Muscheln macht sich erfahrungsgemäß binnen weniger Minuten bemerkbar und der Körper versucht dann radikal, das Essen wieder loszuwerden. Die längste Dauer, ehe sich eine Muschelvergiftung bemerkbar macht, soll bei sechs Stunden liegen.

Und in diesem Fall?
Seien insgesamt fast 22 Stunden vergangen, ehe die ersten heftigen Symptome auftraten.

Was wird stattdessen angenommen?
Im Lichte dieser Erkenntnisse beauftragte die Staatsanwaltschaft erfahrene Mordermittler mit den weiteren Untersuchungen. Und man verlagerte die Ursachenforschung am Wochenende auf das Hotel, in dem die Familie wohnte.

Und?
Offenbar wurde man dort fündig. Noch am Sonntag berichteten türkische Medien, dass zumindest in einem Raum des Hotels Pestizide verwendet worden wären, um Bettwanzen zu bekämpfen. Am Montag kristallisierte sich heraus, dass dabei möglicherweise illegal beschaffte und nicht für den Einsatz in Wohnbereichen zugelassene Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt worden sein könnten.

Wovon ist die Rede?
Die türkische Zeitung Sabah berichtete am Montag, dass möglicherweise das Pestizid Aluminiumphosphid eingesetzt worden sein könnte, und zwar ausgerechnet in einem Zimmer, das exakt unter jenem der betroffenen Familie lag.

Ein Streetfood-Laden, der von den türkischen Behörden als Konsequenz der Ermittlungen nach dem Tod der vier Menschen geschlossen wurde
Ein Streetfood-Laden, der von den türkischen Behörden als Konsequenz der Ermittlungen nach dem Tod der vier Menschen geschlossen wurde
APA-Images / dpa / Ahmed Deeb

Was ist Aluminiumphosphid?
Eine hochgiftige Chemikalie, die nur von geschultem Personal in Schutzanzügen und unter Atemschutz eingesetzt werden darf. Sie wird zur Bekämpfung von Ungeziefer in Containern, Schiffsladeräumen und Getreidesilos verwendet und ist schwer toxisch. Vergiftungen mit Aluminiumphosphid sind immer Notfälle mit einer sehr hohen Todesrate.

Welche Symptome treten bei einer Vergiftung auf?
Kopfschmerzen, Erbrechen, Atemnot oder Herzrhytmusstörungen.

Aber wie könnte das Gift ins Zimmer der Familie gekommen sein?
Aluminiumphosphid wird so eingesetzt, dass es mit der Luftfeuchtigkeit reagiert und das tödliche Gas Phosphin freisetzt, dass eben diverse Schädlinge tötet. Allerdings muss der Raum, in dem es zum Einsatz kommt, hermetisch abgeriegelt werden und nach dem Einsatz lange gelüftet werden. Wird das Mittel ohne diese Sicherheitsmaßnahmen verwendet, könnte es sich auch in andere Räume verteilen, etwa über Lüftungskanäle. Und je nach Konzentration zu schweren Schäden oder sogar zum Tod führen.

Hätte es dann nicht noch weitere Opfer im Hotel gegen müssen?
Die hat es möglicherweise auch. Am Wochenende wurden zwei weitere Gäste des Hotels, ein Italiener und ein Marokkaner, ebenfalls mit diversen Beschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Sie sind allerdings nicht in Lebensgefahr.

Wie reagierten die Behörden?
Das Hotel "Harbour Suites Old City" wurde noch am Wochenende gesperrt, verbliebene Gäste wurden in andere Häuser einquartiert. Außerdem wurden am Sonntag und am Montag insgesamt sechs Personen festgenommen, zwei Mitarbeiter sowie der Besitzer des Hotels und drei Vertreter des Schädlingsbekämpfungsbetriebes, darunter der Junior-Chef.

Was weiß man über die Festgenommenen?
Laut der türkischen Wochenzeitung Oksijen seien sowohl der festgenommene Hotelbesitzer, als auch der Juniorchef der Schädlingsbekämpfungsfirma mehrfach vorbestraft. Der Hotelchef wegen Körperverletzung, der Kammerjäger u. a. wegen fahrlässiger Körperverletzung und Betrugs.

Am Wochenende wurde auch das Hotel "Harbour Suites Old City" von den Behörden evakuiert und gesperrt
Am Wochenende wurde auch das Hotel "Harbour Suites Old City" von den Behörden evakuiert und gesperrt
APA-Images / dpa / Ahmed Deeb

Ist eine Phosphin-Vergiftung damit erwiesen?
Nein, es handelt sich – noch – um eine Vermutung, allerdings eine recht plausible. Aber es gibt bislang aber weder Beweise, noch ein Geständnis. Und last but noch least fehlen auch die toxikologischen Befunde von den Verstorbenen. Laut der Zeitung Sabah werden das Blut und die Organe der Toten (auch) darauf hin untersucht.

Konzentrieren sich die Behörden jetzt nur mehr auf diese Spur?
Nein, es wird auch weiterhin wegen einer möglichen Lebensmittelvergiftung geforscht. Und es wurden auch Leitungswasserproben aus dem Hotel entnommen. Aber auch dazu gibt es bislang keine näheren Erkenntnisse.

Gibt es auch Kritik an der Klinik, die die Familie zunächst behandelt hat?
Ja, am Montag meldete sich, laut Bild-Zeitung, Gesundheitsminister Kemal Memişoğlu zu Wort. er kritisierte, dass im Krankenhaus zunächst lediglich Durchfall und Bauchschmerzen diagnostiziert worden seien. Memişoğlu: "Anschließend wurden sie behandelt und ins Hotel zurückgeschickt. Wir haben eine Untersuchung eingeleitet. Krankenhäuser wie Çapa und Bezmialem (hier wurde die Familie zunächst aufgenommen, Anm.) sind ausreichend ausgestattet. Etwaige Mängel werden nach Abschluss der Untersuchung aufgedeckt."

Das Pestizid Phosphin darf nie in Wohnbereichen eingesetzt werden. Ob es zum Tod der vier Menschen geführt hat, wird derzeit ermittelt
Das Pestizid Phosphin darf nie in Wohnbereichen eingesetzt werden. Ob es zum Tod der vier Menschen geführt hat, wird derzeit ermittelt
APA-Images / AFP / GUILLAUME SOU

Was weiß man über das Hotel?
Es ist ein Dreistern-Haus mit 13 Zimmern, die Nacht ist dort angeblich bereits ab 29 Euro erhältlich. Laut diversen Internet-Bewertungen soll es dort heruntergekommen und unhygienisch wirken. Es wird kein Essen serviert, nicht einmal Frühstück. Laut dem Besitzer gibt es dort für die Gäste nur abgefülltes Wasser in Flaschen oder verschweißten Bechern.

Könnte man nötigenfalls noch weitere Gewebeproben aus den Leichnamen entnehmen?
Nein, alle drei vergangene Woche Verstorbenen, also Mutter Çiğdem B., sowie ihre beiden Kinder, wurden noch am Wochenende in der Heimat ihres Vaters beerdigt. Würden tatsächlich noch weitere Proben nötig sein, müsste man die Leichen exhumieren.

Wie reagiert die türkische Gesellschaft auf die Todesfälle?
Sie ist geschockt und die Todesfälle sind seit Tagen ein großes Thema in den Medien. Für viele Türken offenbaren sich in dem Schicksal der jungen Familie die strukturellen Missstände des Landes: Zu wenige und zu laxe Kontrollen, sei es im Bereich Lebensmittelsicherheit oder – wie hier – Schädlingsbekämpfung. Tenor der Kritik In der Türkei sei alles zu teuer – nur Menschenleben seien noch billig.

Martin Kubesch
Akt. 18.11.2025 00:25 Uhr