Kopfnüsse
Augen zu und durch: Jetzt beginnen die Tage der Wahrheit
Der Kreuzerlweg und was danach passiert. Am Sonntag wählte Wien, ab Montag wird in der Bundesregierung ums Geld gefeilscht, zwei Wochen später soll das Sparbudget fertig sein. Österreich steht wieder einmal vor entscheidenden Zeiten. Ein paar Beobachtungen dazu.

Die lebenswerteste Stadt der Welt muss auch fürs Auge immer wieder neue Spektakel bieten. Anfang der Woche schlenderte ich die Tuchlauben entlang. Das Eck zur Brandstätte bietet Fußgängern gute Gelegenheiten, sich von allen möglichen Verkehrsteilnehmern überfahren oder überrollen zu lassen. Wer dafür ein Fiakergespann wählt, tut zusätzlich etwas zur Unterhaltung der Touristen.
Mit KI-Stimme: Augen zu und durch
Rechts an der Gabelung, wenn man diese Schnittmenge aus diversen Straßen so nennen mag, befindet sich eine Filiale der Bäckereikette Felber. Vor dem Geschäftseingang stehen am Gehsteig ein paar graue Flechtsessel.
Als ich an diesem späteren Vormittag bei sonnigem Wetter und mit sonnigem Gemüt an dem schlichten Trottoir-Gastgarten vorbeiging, sah ich eine etwa 35 Jahre alte Asiatin das Frühstück einnehmen. Sie trug einen blütenweißen Hotelbademantel.


Nun ist die Bäckerei Felber, soweit ich weiß, kein Hotel. Es gibt zwischen den aufgezuckerten Topfengolatschen und einem Brot, das sich selbst etwas überhöht als Kürbistraum bezeichnet, keinen versteckten Eingang in einen Wellnessbereich, zumindest keinen, der die Ausgabe von Badeutensilien rechtfertigen würde.
Die Frau im blütenweißen Hotelbademantel muss also eine Zeitlang im blütenweißen Hotelbademantel durch die Wiener Innenstadt spaziert sein. Ich schließe daraus, dass die Eroberung des öffentlichen Raums durch Flüchtlinge aus Thermenregionen in der lebenswertesten Stadt der Welt schon recht weit fortgeschritten ist.


Das erinnerte mich an einen Vorfall vor ein paar Wochen. Da querte ich, von der Wollzeile kommend, die Rotenturmstraße. Auf dem kleinen Platz gegenüber steht ein Bottich, in diesem Fall nicht, um der Urwaldisierung des Stadtbildes Vorschub zu leisten. Es handelt sich vielmehr um einen Brunnen, der um diese Jahreszeit noch kein Wasser führte, dem aber zeitnah eines zugeführt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt wurde eher noch versucht, im Becken Zigarettenstummel zum Erblühen zu bringen. Als ich an dem Brunnen ohne Wasser vorbeikam, bemerkte ich, dass der Bottich in der Sedisvakanz einer Zweitnutzung zugeführt wurde. Ein Mann, etwa so alt wie die Urlauberin im blütenweißen Hotelbademantel, erleichterte sich in den Topf.
Man kennt das aus dem Tierreich. Aber dass in der lebenswertesten Stadt der Welt auch Menschen ihre Reviere durch Abgabe von Urinspuren markieren, kannte ich in dieser Form nicht. Da es am helllichten Tag geschah, konnte sich auch die Allgemeinheit an der Darbietung erfreuen. Applaus ist mir keiner in Erinnerung geblieben, einen stehenden Applaus hätte ich mir in jedem Fall gemerkt.
Da der Wildpinkler durch die Verrichtung seines kleinen Geschäfts den Canaletto-Blick nicht verstellte, verlor die lebenswerteste Stadt der Welt nicht ihren Status als UNESCO-Weltkulturerbe. Es kam allerdings auch keine Auszeichnung für öffentliches Ludeln als immaterielles Weltkulturerbe dazu.

In Wien werden derzeit viele Reviere markiert. Nicht immer muss man dafür die Hosen runterlassen. Im Quadrat zwischen Tuchlauben, Brandstätte, Rotenturmstraße, dann über den Donaukanal rüber und wieder zurück, hat sich eine Roadrunner-Szene etabliert. Männer mit schneidigen Barber-Frisuren nutzen am Wochenende ihre Tagesfreizeit, um in der Nacht uferlos viele Runden zu drehen.
Die Autos, die dabei zur Anwendung gelangen, sehen nicht aus wie klassische Pendlerfahrzeuge aus dem oberen Waldviertel. Es handelt sich eher um Sportwagen, häufig der gehobenen Kategorie ab 100.000 Euro aufwärts. Dunkle Monster, aufgemotzt, matt lackiert, mit Reifen, die protzen wie Halbstarke mit dicken Goldketten. Gesteuert von recht jungen Menschen, die sich das Geld dafür jahrelang vom Barber-Bart abgespart haben müssen.
Die Inszenierungen gleichen sich. Erst wird ausführlich gehupt, dann losgerast. Motoren heulen auf, Auspuffe knallen. Danach beginnt alles von vorn. Wenn die Runde fertig ist, wird die Markierung des Reviers neu in Angriff genommen. Wer in dem Viertel unterwegs ist, bekommt einiges geboten für sein Geld, vorrangig Lärm.
Da die Polizei derzeit ihre Augen eher auf den Abbau von Überstunden gerichtet hat, bemerkt sie nichts von dem bunten Treiben. Es wäre in Österreich nicht das erste Mal, dass man eine Entwicklung verschläft. Es bieten sich auch außerhalb des Bildungsbereichs dafür offenkundig immer wieder Möglichkeiten.

Von der autofreien Innenstadt war im Wiener Wahlkampf kurz die Rede. Das werde jetzt mit großer Energie angegangen, hieß es, schließlich stellt die SPÖ nunmehr den Verkehrsminister. Das Thema kam, aber es ging ihm schnell die Energie aus, so wie vielen anderen auch. Sie flackerten kurz auf und verglühten.
Eine wirkliche Debatte, worüber auch immer, wurde in diesem Wahlkampf nicht geführt. Es gab kein Leitthema, alles war gleich wichtig und damit unbedeutend. Bei vielem, was geboten wurde, handelte es sich um Reprisen. Wie Karlich-Shows während der Sommermonate, weil man davon ausgeht, dass die Erstausstrahlungen beim Publikum bereits in Vergessenheit geraten waren.
Schon 2020 war im Wahlkampf die Migration ein Thema. Und die Sicherheit. Und die Gesundheit. Und die Bildung. Und der Lobautunnel natürlich. So oft wie die Lobau wurde in Österreich noch kein Landstrich nicht aufgegraben.
Diese Themen spielten im Nicht-Wahlkampf nun erneut eine Rolle, aber wiederum auch nicht. Alle fünf Jahre holt Wien dieselben verstaubten Akten aus dem Keller, blättert darin, sagt "aha" und verräumt sie wieder.


Diesmal wollte noch dazu niemand den anderen mit forsch vorgetragenen Gegenmeinungen wehtun. Die NEOS lechzen danach, ihr Bündnis mit Bürgermeister Michael Ludwig fortsetzen zu dürfen. Es lebt sich gut im blütenweißen Hotelbademantel an der Seite der Roten in der lebenswertesten Stadt der Welt, wenn man sich an die politischen Spielregeln hält. Also besser oft schweigt.
Die GRÜNEN wissen das, sie waren vor den NEOS dran und sie hätten gern die gute alte Zeit in der Stadtregierung zurück. Für Karl Mahrer wäre es ein später Lebenstraum, Vizebürgermeister zu werden. Jetzt, da die Volkspartei mit den Sozialdemokraten in der Bundesregierung sitzt, scheint die Eröffnung einer Wiener Landesfiliale greifbar.
Weil es also das vorrangige – wenn nicht einzige – Wahlziel der GRÜNEN und der NEOS und der ÖVP war, in Wien Beifahrer der Macht zu werden, war der Wahlkampf wie der Wahlkampf eben so war.




Das wäre anders gekommen, wenn sich SPÖ und die FPÖ einen Schaukampf geliefert hätten wie die Roadrunner in der Innenstadt. Aber das ließ Michael Ludwig nicht zu, wozu auch? Er attackierte Dominik Nepp nicht. Noch schlimmer, er erwähnte ihn kaum. Ludwig ließ Nepp links liegen. Oder besser rechts.
Das machte es für die Freiheitlichen kompliziert. Themen, die sonst durch Schlagabtäusche an Größe gewinnen, kamen über ein Bonsai-Wachstum nicht hinaus. Eine Schulhof-Rauferei wird schnell zum Schattenboxen, wenn eine der beiden Parteien nicht am Schulhof erscheint.
Weil die SPÖ nicht wollte und die FPÖ nicht konnte und die ÖVP nicht mochte und die GRÜNEN und die NEOS zwar Mut plakatierten, aber Mutlosigkeit lebten, erlebte Wien den sinnlosesten Wahlkampf der jüngeren Geschichte. Nett, aber sinnlos.

Dabei hätte es viel zu bereden gegeben. Wie Wien seine Schulden los werden will etwa. Oder, was konkret getan wird, um den 45 Prozent Volksschülern, die nicht Deutsch können, Deutsch beizubringen. Und was mit den 55 Prozent Volksschülern passiert, die Deutsch können, und daneben sitzen, während den Kindern, die nicht Deutsch können, Deutsch beigebracht wird.
Wie der Bevölkerung wieder ein Sicherheitsgefühl vermittelt werden kann. Den Gemeindebau-Mietern, dass ihr Gemeindebau nicht den Bach runtergeht.
Nicht zuletzt, was aus Wien eigentlich werden soll, um den Begriff Vision nicht in den Mund zu nehmen. Es wird auf Dauer nicht genügen, den Menschen, die in der lebenswertesten Stadt der Welt leben, zu sagen, dass sie in der lebenswertesten Stadt der Welt leben. Denn vielleicht ist Wien das bald einmal nicht mehr. Und dann?


Wer in London unterwegs ist, der staunt. Die Stadt ist leise geworden, denn Lärm und Gestank kosten. Wer in die City will, zahlt 15 Pfund Maut pro Tag und Auto. Nur fürs Hineinfahren.
Wer einen älteren Benziner oder Diesel fährt, blecht 12 Pfund 50 pro Tag zusätzlich, und zwar egal, in welchen Londoner Bezirken er unterwegs ist. Und wer einen besonders üblen Dieselstinker chauffiert, legt noch einmal bis zu 300 Pfund "Strafgebühr" drauf. Das lenkt Lenker.
Schon vor Jahren hat London damit begonnen, seine Taxiflotte auf E-Fahrzeuge umzustellen. Mit Stand Februar waren 61 Prozent der Black Cabs elektrifiziert. In Wien sind 220 von insgesamt 8.200 Taxis vollelektrisch unterwegs, ein Anteil von 2,7 Prozent.
Paris will grün werden. 500 weitere Straße werden zurückgebaut, bei 300 ist das schon passiert. Der Todesstoß für 10.000 Parkplätze, 10 Prozent der Abstellgelegenheiten fallen weg. Im März stimmten 66 Prozent der Bewohner für die "Gartenstraßen".*

Es ist nicht alles grün, was glänzt. In London kriselt das Taxigewerbe. In Paris sterben Geschäfte, weil Kunden und Lieferanten angeblich nicht mehr zufahren können. Viele europäische Großstädte kämpfen mit ähnlichen Problemen, aber sie stellen sich ihnen. Im Wiener Wahlkampf wäre zumindest eine Debatte darüber schön gewesen.
Das scheint mir ein grundsätzliches Problem zu sein, nicht allein eines in Wien. Es gibt keine Diskussionen mehr, die diesen Namen verdienen würden. Ich weiß nicht, wann diese Ära zu Ende gegangen ist. Vielleicht ist auch der Zeitgeist schuld daran, dass wir keine Zeit mehr für den Geist haben.
Wir haben es vielfach verlernt, uns über Inhalte auszutauschen, abzuwägen, uns längerfristig mit etwas zu beschäftigen, was uns beschäftigen sollte. Wir tauchen nicht mehr in Themen ein, wir swipen sie weg, sobald sich die erste Empörung gelegt hat. Auch die Medien machen da mit. Es gibt eine spürbare Ermattung.
Die Politik unterstützt den Trend, vielleicht hat sie ihn sogar erfunden. Der Bevölkerung werden immer öfter Themen hingeworfen wie den Humboldtpinguinen im Tiergarten Schönbrunn die Fischstücke bei der täglichen Fütterung um 11 Uhr.

Es ist ein sich ewig wiederholender Zyklus. Jeweils in der Mitte der Woche erleichtert sich die Regierung. Sie erzählt den Medien, was sie für diese Woche geplant hat, damit die Medien der Bevölkerung erzählen, was die Regierung für diese Woche geplant hat.
Hin und wieder erfolgt das in Form einer Klausur. Da vermittelt die Regierung, dass ihr bestimmte Themen wichtig sind, und die Medien sagen das weiter.
Was das in der Praxis bedeutet, ließ sich am Thema Messenger-Dienste gut studieren. ÖVP und nun auch die SPÖ wollen WhatsApp, Telegram oder Signal überwachen lassen, die NEOS sind da eher skeptisch. Natürlich wird allerorten betont, dass nur die übelsten Rabauken von Lauschangriffen betroffen sein sollen, aber trotzdem handelt es sich um einen gravierenden Eingriff in den Privatbereich.
Darüber hätte die Regierung in eine tiefgreifende Debatte mit der Bevölkerung eintreten müssen. Der Großteil der Menschen scheint bereit dazu, es besteht ein Informationsbedürfnis. Früher stand in Regierungsprogrammen sogar noch so etwas wie direkte Demokratie. Aber inzwischen wurde entschieden, es beim Blick in die Schweiz bewenden zu lassen.


Über die Überwachung der Messenger-Dienste diskutiert nun die Regierung intern. Natürlich gibt es einen parlamentarischen Prozess dazu und es können Stellungnahmen zum geplanten Gesetz abgegeben werden. Aber die Bevölkerung, die das betrifft, wird in diesen Vorgang nicht näher einbezogen.
Sie muss sich damit begnügen, was Innenminister Gerhard Karner bei der Regierungsklausur verlautbart hat. Das war eher mager und daran dürfte nicht die Fastenzeit schuld gewesen sein.
Ich wünsche einen gut wählbaren Wahlsonntag! Er soll zumindest so schön werden wie der vergangene Ostersonntag. Da lud uns der Kanzler via Instagram zu sich nach Hause ein. Sein Ostertisch war gut gedeckt, neben Schinken gab es auch Paradeiser und Paprika und Radieschen als Deko. Der Kanzler hatte ein großes Bier vor sich stehen, es wirkte noch reichlich unbenutzt.
Dann war aus dem Hintergrund eine Männerstimme zu hören: "Geht schon!" Worauf Stocker mit seinem Osterei in der Hand eine kurze Bewegung vollführte und es, weil er ja noch keinen Herrenspitz hatte, zielgerichtet auf das Osterei seiner Tochter donnern ließ. "Oje", rief er, warum auch immer, denn er hatte das Eierpecken gewonnen.
Immerhin hatte er keinen blütenweißen Hotelbademantel an.
Bis in einer kleinen Weile!
* Auf Hinweis sei der guten Ordnung halber ergänzt: an der Abstimmung beteiligten sich nur 3,9 Prozent der Bevölkerung. Korrekt müsste es also heißen, 66 Prozent der Menschen, die an der Befragung teilnahmen, stimmten für die "Gartenstraßen".