Demos, Kopf-Ab-geste
Blanker Israel-Hass: Wie antisemitisch wird der Song Contest?
Heute gibt es das erste ESC-Halbfinale, aber schon vorab ist klar: Israels Vertreter sind auch heuer das erklärte Feindbild bei Teilen des Publikums. Ihnen wird die Teilnahme am Wettbewerb so schlimm wie möglich gemacht. Droht eine Eskalation wie 2024?

Am Sonntag feierte Basel den Beginn der Eurovision Song Contest-Woche mit der Präsentation aller Teilnehmer – und gleich dieser erste öffentliche Auftritt der israelischen Sängerin Yuval Raphael wurde für sie zum Spießrutenlauf. Hunderte Demonstranten verwandelten den historischen Basler Marktplatz in eine Hetz-Arena. Es wurde gepfiffen und gebuht, Palästina-Flaggen wurden geschwenkt, Hass-Parolen skandiert, eine Demonstrant machte eine Kopf-ab-Geste in Richtung der Sängerin – die sich bemühte, den Hass zu ignorieren.
Das lässt schlimme Erinnerungen aufkommen. Bereits vor einem Jahr, beim Song Contest 2024 im schwedischen Malmö, kam es zu Protesten gegen Israels Vertreter, die von Tag zu Tag heftiger wurden. Und bei der Final-Show am Samstag schließlich völlig eskalierten. Vor der Veranstaltungshalle kam es zu Ausschreitungen von Anti-Israel-Demonstranten, drinnen wurden die israelischen Vertreter bei ihrem Auftritt ausgebuht und sogar von den ESC-Teilnehmern anderer Nationen teils massiv gemobbt, wie später bekannt wurde.

Doch was sich 2024 an negativer Energie erst im Laufe der ESC-Woche langsam zusammenbraute, scheint heuer von Anfang an da zu sein: Israel ist der Feind der Demonstranten. Und seine Vertreter beim Song Contest trifft der ganze Hass, den das Land durch seine Politik bei manchen auf sich zieht. Was das für die bevorstehenden Song Contest-Shows bedeutet, ob die Situation auch heuer so eskalieren könnte wie letztes Jahr, was Israel seinen Staatsbürgern deshalb empfiehlt – eine Lageanalyse zur ESC-Woche 2025:
Wie sieht das Programm bei Eurovision Song Contest aus?
Am Dienstag (13. Mai) und Donnerstag (15. Mai) finden – wie bereits in den vergangenen Jahren – die beiden Halbfinali statt, bei denen 15 (Dienstag) bzw. 16 (Donnerstag) Länder gegeneinander antreten und um den Einzug ins Finale singen.
Wer steigt auf?
Die jeweils 10 bestplatzierten Länder der Halbfinali. Sie singen dann mit den "Big Five" (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien), also den Vertretern der größten Geldgeber beim Eurovision Song Contest, sowie Vorjahres-Gewinner Gastgeber Schweiz am Samstag, dem 17. Mai, um den Sieg.

Wann tritt Israel das erste Mal auf?
Am Donnerstag, dem 15. Mai. Israels Kandidatin Yuval Raphael wird als drittletzter Act ins zweite Halbfinale gehen.
Und hat sie Chancen auf das Finale?
Sehr große sogar. Bei den Buchmachern liegt Israel mit der Nummer "New Day Will Rise" derzeit auf Platz 4. Nur Frankreich, Schweden und dem österreichischen Kandidaten JJ mit "Wasted Love" werden von den professionellen Wettern bessere Sieg-Chancen eingeräumt.
Was ist am letzten Sonntag geschehen?
In der Altstadt fand die Eröffnungszeremonie für den Song Contest statt. Alle 37 Teilnehmer-Teams wurden auf dem Marktplatz präsentiert und danach in Oldtimer-Straßenbahnen zum Messeplatz auf der anderen Rhein-Seite gebracht. Sowohl bei der Präsentation der Sängerinnen und Sänger, als auch bei der Straßenbahn-Fahrt kam es zu Protestkundgebungen von Anti-Israel-Demonstranten. Ein Demonstrant zeigte sogar eine Kopf-ab-Geste in Richtung der israelischen Sängerin.
Ist die Lage eskaliert?
Nein, glücklicherweise nicht. Die Zahl der Demonstranten war mit etwa 150 bis 200 mengenmäßig nicht so bedeutend. Dazu kam, dass die Polizei mit einem Großaufgebot vor Ort präsent war und jede Form der Störung des offiziellen Ablaufs sofort unterband.
Aber dann ist ja alles fein, oder?
Davon kann derzeit nicht ausgegangen werden. Es wird vielmehr befürchtet, dass die Demo am Sonntag erst der Auftakt zu wesentlich größeren Kundgebungen gewesen sein könnte. Vor allem am Donnerstag, wenn Israel um zweiten Halbfinale auftritt, und am Samstag beim Finale – sollte Yuval Raphael dieses erreichen – sind bereits Demonstrationen angekündigt, zu denen viel mehr Teilnehmer erwartet werden. In Malmö kamen letztes Jahr am Final-Tag mehrere Tausend Demonstranten zusammen, um zu protestieren (siehe Video unten).
Weshalb sollte das so sein?
Weil die Stimmung im Umfeld des Song Contest heuer noch vehementer gegen Israel zu sein scheint als letztes Jahr. Mehrere Organisationen haben bereits auch nicht angemeldete Demonstrationen angekündigt, die Organisation "ESCalate" drohte damit, eine Teilnahme Israels am Song Contest auf jeden Fall zu verhindern. Dazu kam es im Vorfeld des ESC auch von verschiedenen anderen Seiten zu Boykottaufrufen bzw. Ausschluss-Forderungen gegen die israelischen Teilnehmer.
Heißt konkret?
Vorjahressieger Nemo sprach sich in einem Interview mit der Huffpost UK dafür aus, Israel heuer vom Song Contest auszuschließen. Vor dem Hauptquartier des öffentlich-rechtlichen irischen TV-Senders RTÉ fand eine Protestkundgebung statt, an der auch der irische Schauspieler Stephen Rea (u.a. "V wie Vendetta") teilnahm, bei der ein Boykott des ESC durch Irland gefordert wurde. Und in einem offenen Brief meldeten sich gleich 72 ehemalige Song Contest-Teilnehmer zu Wort, die den Ausschluss Israels fordern.

72 ehemalige Teilnehmer? Wer war da aller dabei?
Die Zahl klingt beeindruckender, als die Liste der Unterzeichner letztlich ist. Der Brief wurde von der Organisation "Artists for Palestine" veröffentlicht. Von den Unterzeichnern stammen gleich 30 aus Island und weitere 10 aus Finnland. Die einzigen bekannten Namen auf der Liste sind jene den Portugiesen Salvador Sobral, der den ESC 2017 gewonnen hatte, sowie Charlie McGettigan, der 1994 für Irland den Song Contest gewann.
Hat auch jemand aus Österreich den Brief unterschrieben?
Nein, auch aus Deutschland niemand.

Und was wird konkret gefordert?
Der Ausschluss des öffentlich-rechtlichen israelischen Rundfunks KAN vom Eurovision Song Contest. Und zwar, weil man dem Sender eine Mitschuld einräumt am "israelischen Völkermord in den Palästinensern im Gazastreifen und am jahrzehntelangen Apartheid- und Militärregime gegen das gesamte palästinensische Volk". Der gesamte Brief-Text findet sich hier.
Was hat der Fernsehsender damit zu tun?
Um das zu verstehen, muss man die Struktur des ESC kennen. Der Song Contest wird von der European Broadcasting Union EBU veranstaltet, das ist der Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Sender in Europa, dem auch Anstalten in Nordafrika (Ägypten, Tunesien, Marokko, Algerien) und Vorderasien (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Jordanien, dem Libanon oder eben Israel) angehören.
Und weiter?
Nur Sender, die sich nicht an die von der EBU vorgegebenen "Werte öffentlich-rechtlicher Medien" halten, können sanktioniert werden.

Weshalb wurden dann 2022 Russland und Weißrussland auf unbestimmte Zeit vom ESC ausgeschlossen?
Weil die regierungstreuen Sender dieser Länder, nach Auffassung der EBU, seit dem Überfall auf die Ukraine keine "vertrauenswürdigen und unabhängigen Nachrichten und Informationen" verbreiten würden. Und zudem noch andere Werte der EBU missachten würden, etwa indem sie Menschen aufgrund der sexuellen Orientierung diskriminieren. Beim israelischen Sender KAN sei all das nicht der Fall.
Mit dieser Erklärung geben sich die Kritiker aber nicht zufrieden?
Nein, sie monieren vielmehr, dass von der EBU mit zweierlei Maß gemessen werde und Israel, ebenso wie Russland, ein Aggressor sei, der Gaza überfallen hätte. Abgesehen von der unangemessenen Wortwahl in dem offenen Brief ("Völkermord"), wird der Anlass für den Gaza-Krieg Israels, der Überfall durch die Hamas auf das Land am 7. Oktober 2023, bei dem mehr als 1.200 Israelis ermordet und hunderte weitere verschleppt wurden, mit keinem Wort erwähnt.
Wie reagiert man in Israel auf die anti-israelische Haltung beim ESC?
Primär hat man bereits mit der Künstlerin, die heuer für den ESC ausgesucht wurde, ein Statement gesetzt. Denn Yuval Raphael ist eine unmittelbare Überlebende des Massakers vom 7. Oktober 2023. Die damals 22-Jährige war auf jenem Musikfestival, das gleich in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober von den Terroristen überfallen worden war. Ihre Geschichte erzählt sie seither im Rahmen von öffentlichen Vorträgen, auch der Schweizer NZZ berichtete sie darüber.

Was ist damals geschehen?
Etwa 4.000 meist junge Menschen waren beim sogenannten "Supernova"-Festival in der Nähe des Gaza-Streifens zusammengekommen, das am 6. Oktober gegen 22 Uhr begann und die ganze Nacht bis Mittag des 7. Oktober dauern sollte. Ganz in der Nähe des Festivalgeländes drangen Terroristen in Israel ein, wurden auf die Party aufmerksam und ermordeten 364 Teilnehmer. Insgesamt wurden 1.139 Menschen getötet, dazu 240 als Geiseln genommen und nach Gaza verschleppt.
Was geschah mit Yuval Raphael?
Sie flüchtete gemeinsam mit etwa 50 anderen Menschen in einen Schutzraum, der allerdings von Terroristen gestürmt wurde. Von den 50 Menschen überlebten 11, darunter Yuval. Sie stellte sich tot, wenn erneut Terroristen kamen und in die Menge schossen oder Granaten warfen. Erst nach mehr als 6 Stunden wurden die Überlebenden vom israelischen Militär gerettet. Sie ist eine von mehreren Überlebenden, die ihre Geschichte auch in dem erschütternden Dokumentarfilm "Saturday October 7" erzählen (siehe Video unten).
Und wie geht Yuval Raphael mit dem Hass um, der ihr entgegen schlägt?
Bis jetzt lächelt sie alles tapfer weg. Sie wurde aber offenbar auch gut auf ihre Rolle beim ESC vorbereitet. Bereits im Vorfeld erklärte sie, dass sie "zu 100 Prozent mit Buhrufen" rechne – diese Prophezeihung ist ja nun nach ihrem ersten Auftritt bereits eingetreten. Das Lied, mit dem Yuval Raphael in Basel vertreten ist, heißt übrigens "New Day Will Rise", was etwa "Ein neuer Tag wird anbrechen".
Wie schätzt man in der Schweiz die Bedrohungslage ein?
Wie bereits vor einem Jahr in Malmö, gelten auch in Basel für sämtliche Mitglieder der israelischen Delegation erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Nach dem Demo-Sonntag zog die Polizei eine vorsichtig optimistische Bilanz, da es zu keinen gröberen Vorfällen gekommen sei. Allerdings sei wegen der auf Video festgehaltenen Kopf-ab-Geste eines Demonstranten eine Beschwerde der israelischen Delegation eingegangen, vom TV-Sender KAN wurde Anzeige erstattet.

Und wie sieht man die Lage in Israel?
Weniger entspannt. Der nationale Sicherheitsrat hat für alle Israelis eine Reisewarnung für Basel während des Song Contest ausgesprochen. Angesichts der "zu erwartenden und möglicherweise in Gewalt ausartenden Proteste" sollten Israelis "vom Zeigen jüdischer oder israelischer Symbole" absehen, ihren Aufenthaltsort nicht in sozialen Medien veröffentlichen und nicht über den Krieg sprechen. Zudem wurde geraten, eine spezielle Info-App des Militärs herunterladen, um allfällige Warnungen zu erhalten.
Fürchtet man Anschläge auf Israelis?
Man sieht jedenfalls die Gefahr, dass die zu erwartenden Proteste rund um den ESC als Deckung für Anschläge auf Israelis genutzt werden könnten. Zu präsent sind den Verantwortlichen in Jerusalem und Tel Aviv noch die Bilder vom vergangenen November, als Fußballfans der israelischen Mannschaft Maccabi Tel Aviv nach dem Spiel gegen Ajax Amsterdam von einem palästinensischen Mob durch die Straßen der niederländischen Metropole gehetzt worden waren.

Wird es wenigstens beim Song Contest selbst heuer friedlicher zugehen als letztes Jahr?
Es steht zu befürchten, dass es eher noch schlimmer wird als 2024 in Schweden. Denn die EBU hat für heuer neue Regeln erlassen, was das Schwenken von Fahnen betrifft. Und diese besagen, dass die Teilnehmer auf der Bühne nur mehr ihre Länderfahnen mitnehmen dürfen. Aber vom Publikum darf jede Fahne gezeigt werden, solange sie keine politischen Botschaften oder Hasssymbole enthalten. Die palästinensische Flagge darf heuer also auch in der Halle gezeigt werden, auch wenn keine palästinensischen Künstler auftreten.
Weshalb wurde das so entschieden?
Eine gute Frage. Denn mit dieser neuen Regel hat die EBU einerseits die beim ESC sehr starke LGBTQ-Community verprellt, für die diverse Flaggen als Symbole ihrer jeweiligen Schwerpunkt-Thematiken sehr wichtig sind – nicht umsonst schwenkte Vorjahressieger Nemo bei seiner Siegesfeier die Nonbinary-Flagge als Botschaft an all jene, die sich nicht nur einem Geschlecht zugehörig fühlen.

Und andererseits?
Andererseits hat man damit natürlich noch lauteren Pro-Palästina-Protesten in der Halle Tür und Tor geöffnet. Weshalb die EBU angesichts der Erfahrungen aus dem letzten Jahr so entschieden hat, ist schwer nachvollziehbar. Man wird beim Auftritt von Yuval Raphael am kommenden Donnerstag sehen, wohin das führt.
Noch kurz zu einem erfreulicheren Thema: Wie geht es dem österreichischen Kandidaten JJ in Basel?
Gut, er ist voller Tatendrang und freut sich bereits auf seinen Auftritt. Er wird übrigens auch am Donnerstag im zweiten Halbfinale singen. Die Buchmacher führen den ausgebildeten Countertenor übrigens nach wie vor auf Platz 2 der Sieg-Anwärter, gleich hinter Schweden. Das Halbfinale sollte also eigentlich nur eine Fingerübung für das Grande Finale am Samstag.
Wann und wo wird das alles im TV übertragen?
Der ORF überträgt auch heuer alle ESC-Shows live (Di., Do. und Sa. jeweils ab 21 Uhr in ORF 1) und hat zusätzlich Einstimmungs-Shows ab 20.15 Uhr im Programm. Den Gesamtüberblick über das ORF-Programm zum ESC gibt es online unter mein.orf.at.