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Grazer Schule

Krisenhilfe nach Amoklauf: "Man muss auch Stille aushalten können"

Sie erlebten die Tränen, die Fassungslosigkeit, die Leere als Erste. Kriseninterventionsteams versuchen, Menschen Halt zu geben. Monika Stickler, Leiterin der Kräfte beim Roten Kreuz, erklärt, wie man die richtigen Worte findet. Und wann man besser schweigt.

Monika Stickler arbeitet seit 35 Jahren fürs Rote Kreuz, sie leitet und koordiniert das Kriseninterventionteam
Monika Stickler arbeitet seit 35 Jahren fürs Rote Kreuz, sie leitet und koordiniert das KriseninterventionteamPicturedesk
Martin Kubesch
Akt. 10.06.2025 23:38 Uhr

Jeder hat schon von ihnen gehört, aber was sie konkret tun, bleibt den meisten von uns zum Glück zeitlebens verborgen: Mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kriseninterventionsteams des Roten Kreuzes bekommt man es nur dann zu tun, wenn einem Schreckliches widerfährt. Dann weiß man aber umso mehr zu schätzen, dass es sie gibt.

Beim Amoklauf von Graz standen sie fast von Beginn an an vorderster Front. Hunderte Schüler, Lehrer und Eltern wurden von Kriseninterventions-Kräften durch die schrecklichen Stunden nach dem Unsagbaren begleitet.

Ein Mitglied der Einsatzkräfte beim Gedenkgottesdienst im Grazer Dom am Dienstagabend
Ein Mitglied der Einsatzkräfte beim Gedenkgottesdienst im Grazer Dom am Dienstagabend
Heinz-Peter Bader / AP / picturedesk.com

Die stillen Helfer Monika Stickler leitet und koordiniert das Kriseninterventionteam der Hilfsorganisation. Sie arbeitet selbst seit 35 Jahren fürs Rote Kreuz, zunächst als ehrenamtliche Sanitäterin, seit 15 Jahren hauptberuflich. Zusätzlich ist sie nach wie vor selbst in der Krisenintervention in Niederösterreich tätig.

Welches die wichtigsten Aufgaben für Kriseninterventionsteams sind, wie man selbst mit dem Erlebten fertig wird und warum der Amoklauf von Graz ohne Vergleich ist – Monika Stickler über das Leben als Kriseninterventions-Expertin:

Welche Ausbildung braucht man in einem Kriseninterventionsteam?
Eine Ausbildung im Bereich Krisenintervention oder einen psychosozialen Grundberuf, also Psychologin, Psychotherapeutin, Sozialpädagogin oder ähnliches. Und ich habe Pflegewissenschaft studiert, dazu gehört ein großer Teil Psychologie und Medizin.

Wie lange dauert die Ausbildung?
Die reine Ausbildung dauert etwa zehn Tage, dann müssen die Neulinge mit erfahrenen Kriseninterventionsmitarbeitern mitgehen, um die ersten Einsätze zu machen. Alles in allem dauert die Ausbildung zwischen sechs und neun Monaten. Und es gibt eine Fortbildungsverpflichtung mit acht Stunden pro Jahr.

Leitet die Kriseninterventions-Experten des Roten Kreuzes: Monika Stickler, Abteilungsleiterin Rettungsdienst , Psychosoziale Betreuung im Bereich Einsatz und Gesundheit
Leitet die Kriseninterventions-Experten des Roten Kreuzes: Monika Stickler, Abteilungsleiterin Rettungsdienst , Psychosoziale Betreuung im Bereich Einsatz und Gesundheit
Österreichisches Rotes Kreuz (ÖRK) / Markus Hechenberger

Welche Aufgabenbereiche hat man in der Krisenintervention?
Menschen zu unterstützen, die gerade einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben, etwa einen nahen Angehörigen verloren haben.

Wie viele Kriseninterventionsmitarbeiter hat das Österreichische Rote Kreuz?
Insgesamt etwa 1.800, aufgeteilt auf die neun Landesverbände. Allerdings wird Krisenintervention vom Roten Kreuz nur in acht Bundesländern angeboten. In Wien übernimmt das die Stadt selbst.

Wie funktioniert die Alarmierung der Teams in einem Fall wie jetzt in Graz?
Die Krisenintervention kann nur durch eine Einsatzorganisation alarmiert werden, also Rettungsdienst oder Polizei zum Beispiel. Und je nach Größe des Einsatzes, werden auch die Kriseninterventionsmitarbeiter von mehreren umliegenden Dienststellen aktiviert.

Wie hat sich die Situation in Graz dargestellt?
Sehr komplex, weil es nicht nur die unmittelbar Betroffenen gegeben hat, also die Schüler und Lehrer, die direkt dabei gewesen sind. Sondern auch die Eltern und Verwandten der Kinder, das erweiterte Lehrerkollegium, alle, die mit den Schülern in Kontakt stehen, ihre Freunde und Kollegen. Und dann natürlich die Angehörigen der Kinder, die getötet oder verletzt worden sind – die werden in der Regel im Krankenhaus oder zu Hause betreut. Dadurch haben sich sehr unterschiedliche Bedürfnisse und viele verschiedene Einsatzorte ergeben.

"Eine sehr komplexe Situation": Rotkreuz-Expertin Monika Stickler über die Lage unmittelbar nach dem Amoklauf am BORG Dreierschützengasse in Graz
"Eine sehr komplexe Situation": Rotkreuz-Expertin Monika Stickler über die Lage unmittelbar nach dem Amoklauf am BORG Dreierschützengasse in Graz
Heinz-Peter Bader / AP / picturedesk.com

Was macht man in so einem Fall als Erstes?
Im Grunde dasselbe wie im medizinischen Bereich, man ermittelt die wichtigsten Bedürfnisse durch eine Triage: Welche Gruppe oder welche Einzelpersonen brauchen am dringendsten eine Betreuung? Das sind zunächst die, die unmittelbar dabei waren. Dann werden die Kreise etwas weiter gezogen – braucht die Nebenklasse was? Brauchen die Lehrer was? Der Direktor? Sind schon Angehörige vor Ort?

Wie geht man dabei konkret vor?
Man geht zu den Lehrern, weil die kennen ihre Schüler, die wissen, wer in welcher Form involviert war, wer was gesehen hat. Die sind die ersten Ansprechpartner für die Kriseninterventionsmitarbeiter. Und dann schaut man, ob man vielleicht eine Gruppe aus der großen Masse herausnehmen und irgendwo anders betreuen muss. Gerade in dieser Anfangsphase ist viel Organisatorisches nötig und man muss vor allem versuchen, die akuten Bedürfnisse zu erkennen. Manchmal braucht es nur etwas zu trinken oder eine Decke.

Worum geht es bei der Krisenintervention primär?
In der Akutphase redet man noch nicht vom ver- oder gar bearbeiten des Erlebten. Da geht es in erster Linie darum, Sicherheit herzustellen und den Betroffenen zu helfen, wieder in die Handlungsfähigkeit zu kommen. In der Krisenintervention geht es primär darum, die Menschen so weit wieder zu erden und handlungsfähig zu machen, dass sie selbst Entscheidungen treffen können. Diese Selbstwirksamkeit ist extrem wichtig, um in der Folge gut mit dem Erlebten umgehen zu können.

Was gehört noch zu den Aufgaben der Kriseninterventionsteams?
Vor allem Informationsbeschaffung. Oft ist die Informationslage bei derartigen Ereignissen recht chaotisch, dazu kommt, dass sich die Betroffenen in einer Ausnahmesituation befinden. In solchen Fällen versuchen wir, den Menschen gesicherte Informationen weiterzugeben. Wir haben dafür zwei Betroffenen-Informationszentren aufgebaut, um nur gesicherte Informationen weiterzugeben, damit die Menschen nicht auf irgendwelche Social-Media-Quellen angewiesen sind. Wir sind dafür auch mit der Polizei in Kontakt.

Die Kriseninterventionsteams arbeiten auch eng mit der Exekutive zusammen, um den Angehörigen von Opfern korrekte Informationen liefern zu können
Die Kriseninterventionsteams arbeiten auch eng mit der Exekutive zusammen, um den Angehörigen von Opfern korrekte Informationen liefern zu können
PIXSELL / EXPA / picturedesk.com

Ab wann kann man mit der Aufarbeitung des Erlebten beginnen?
Das ist individuell ganz verschieden und kommt auf viele Dinge an: In welchem sozialen Umfeld bewegt sich jemand? Welche Unterstützung hat er? Wie schaut sein familiäres Umfeld aus? Gibt es jemanden, zu dem er Vertrauen hat? Wie schaut sein Freundeskreis aus? Gerade bei Jugendlichen ist der Freundeskreis, die sogenannte Peer Group, extrem wichtig: Wie gut ist der Jugendliche da verankert, können sich die Mitglieder dieser Gruppe gegenseitig unterstützen? Das kann man nicht pauschalieren, genauso wie man nicht pauschal sagen kann, wie lang jemand trauert.

Wie lange die Arbeit der Kriseninterventionsteams dauert?
Krisenintervention geschieht immer nur in der Akutphase. Bei Großereignissen wie jetzt in Graz dauert sie einen, maximal zwei Tage darüber hinaus. Wir schauen aber, wer über die akute Begleitung hinaus Nachbetreuung benötigt. Und unsere Aufgabe ist auch, den Kontakt zu Nachbetreuungseinrichtungen herzustellen, die längerfristige Betreuung anbieten.

Wer übernimmt diese Nachbetreuung?
Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. In der Steiermark ist es das "KIT Land Steiermark", das landeseigene Kriseninterventionsteam. Das Rote Kreuz hat in einigen Bundesländern ebenfalls Nachbetreuungseinrichtungen, etwa in Tirol oder in Oberösterreich, dort gemeinsam mit der Organisation Pro Mente.

Wie lassen sich die Aufgaben der Krisenintervention in wenigen Worten beschreiben?
Krisenintervention macht die ersten Schritte mit Menschen, die gerade eine Krise durchleben. Und dann schaut man, ob diese Schritte ausreichen und ob die Menschen fähig sind, den weiteren Weg allein zu meistern, oder ob sie Unterstützung benötigen. Und wenn das der Fall ist, wird versucht, eine individuell passende Nachsorge zu vermitteln.

Gibt es dabei No Go’s?
Man muss mehr zuhören als reden und auch einmal Stille aushalten können – wer das nicht kann, wird sich schwer tun. Und man gibt keine Ratschläge. Wir versuchen, die Leute zu unterstützen und handlungsfähig zu machen. Die persönliche Meinung über jemanden ist dabei völlig fehl am Platz.

Zuhören zu können ist eines der wesentlichen Anforderungsprofile von Kriseninterventionskräften
Zuhören zu können ist eines der wesentlichen Anforderungsprofile von Kriseninterventionskräften
Schwaz_Mader

Wo bekommen Kriseninterventionskräfte selbst Unterstützung?
Für unsere Mitarbeiter gibt es Supervision, wenn sie das brauchen. Und wir haben Psychologen und Psychotherapeuten, die uns unterstützen.

Gibt es nach besonders fordernden Einsätzen Rituale, um sich selbst wieder zu erden?
Jede Kollegin und jeder Kollege hat da seine eigenen Rituale. Bei mir ist es so, dass wir uns gleich bei der Heimfahrt nach einem Einsatz besprechen. Und wenn ich nach Hause komme, gehe ich gleich in die Dusche. Sicher auch, um alles wegzuspülen. Manche Einsätze vergisst man dennoch nie, das ist wie im Rettungsdienst. Ich kann mich an Einsätze erinnern, die 30 Jahre her sind. Aber sie belasten mich nicht. Das gehört einfach zur Biografie.

Weshalb entscheidet man sich, diesen Weg zu gehen?
Bei mir war es einfach. Ich habe sehr viel Rettungsdienst gemacht und mich irgendwann gefragt, wie es für die Betroffenen weitergeht, sobald die Rettung weg ist. So bin ich zur Krisenintervention gekommen, ich fand es interessant und es hat mein Weltbild abgerundet.

Dringt man zu jedem Betroffenen gleichermaßen gut durch?
Es gibt Unterschiede. Üblicherweise fragen unsere Einsatzkräfte, ob sie die Krisenintervention alarmieren sollen. Aber auch da sagen manche Menschen "ja", und wenn wir dann vor Ort sind, sagen sie: "Ich brauche nichts." Und es gibt natürlich unterschiedliche Typen von Menschen. Deswegen sind wir auch immer zu zweit: Wenn einer keinen Zugang findet, dann versucht es der zweite. Letztlich gelingt es fast immer, man muss nur Geduld haben.

Stilles Gedenken an die Opfer des Amoklaufs: "Wann die Aufarbeitung des Erlebten beginnen kann, ist individuell völlig unterschiedlich", so Rotkreuz-Expertin Monika Stickler
Stilles Gedenken an die Opfer des Amoklaufs: "Wann die Aufarbeitung des Erlebten beginnen kann, ist individuell völlig unterschiedlich", so Rotkreuz-Expertin Monika Stickler
PIXSELL / EXPA / picturedesk.com

Wird der Kontakt zu Betreuten in Ausnahmefällen aufrechterhalten?
Nein, und das sollte auch nicht passieren. Wenn wir das Gefühl haben, dass jemand jetzt gut alleine zurechtkommt, dann verabschieden wir uns und das war es dann für uns. Wir lassen keine Telefonnummern zurück, sondern maximal eine von einer Nachsorgeeinrichtung.

Hat es einen Fall wie nun in Graz schon einmal gegeben?
Nein, in diesem Ausmaß habe ich nichts in Erinnerung.

Mit wie vielen Kräften war das Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes vor Ort?
Das weiß ich noch nicht abschließend, weil die Kolleginnen und Kollegen auch abgelöst werden. So eine emotionale Situation hält man auch als Kriseninterventionsmitarbeiter nur eine bestimmte Zeit lang aus, dann ist man durch.

Martin Kubesch
Akt. 10.06.2025 23:38 Uhr