Samstag, 1. November, ein Hochgeschwindigkeitszug rast von York nach London. Plötzlich beginnt ein Mann wie verrückt auf Passagiere einzustechen. Es gibt mehrere Verletzte, einige davon lebensgefährlich, viele Spekulation, noch mehr Angst. Was man weiß, was nicht.

"Ich fühle mich so verletzlich. Ich werde nie wieder in einem Zug sitzen können."
Amira O. studiert an der Universität Nottingham. Am vergangenen Samstagabend saß sie gemeinsam mit einer Freundin in einem Waggon Richtung London. Dann begann ein Mann aus heiterem Himmel, mit einem Messer auf andere Fahrgäste einzustechen. Sie musste mitansehen, wie eine Person wenige Reihen vor ihr in ihrem Sitz niedergestochen wurde und beinahe verblutete.
In einem Interview mit der BBC beschrieb die Studentin am Tag danach ihre Gefühle nach der Schreckensfahrt: "Ich hätte die nächste sein können", so Amira O.. "Überall war Blut, die Leute schrieen. Ich werde nie wieder in einem Zug sitzen können."
Knapp 15 Minuten dauerte der Horror für die Passagiere an Bord des Hochgeschwindigkeitszuges, ehe die Polizei den mutmaßlichen Angreifer außer Gefecht setzen konnte. Elf Personen wurden von dem 32-Jährigen Briten teils lebensgefährlich verletzt.
Mittlerweile konnte die britische Polizei ziemlich genau ermitteln, wie es zu der TAt gekommen ist. Der mutmaßliche Täter wurde noch am Montag einem Haftrichter vorgeführt. Möglicherweise ist er noch für mehrere weitere Angriffe auf Personen verantwortlich, die in den Tagen und Stunden vor dem Zug-Attentat geschehen sind, die Ermittlungen laufen.
Doch auf zwei entscheidende Frage hat bislang weder die Polizei, noch die Politik oder irgendwer anders eine Antwort liefern können:
Wie lassen sich künftig derartige Attentate verhindern? Und wie kann man Zugpassagiere wirkungsvoll vor Angriffen schützen?
Was an Bord des Hochgeschwindigkeitszuges 1Y90 geschah. Wie das beherzte Eingreifen von Personal und Passagieren Menschenleben rettete. Weshalb der mutmaßliche Täter überhaupt mit einer Waffe an Bord des Zuges gelangen konnte. Und warum das Verhalten der Rettungskräfte vorbildlich war – eine Rekonstruktion:

Worum geht es?
Um einen Messerangriff auf die Passagiere eines Zuges, der am Samstag, dem 1. November, von York im Nordosten Englands Richtung London unterwegs war. Elf Passagiere wurden teils lebensgefährlich verletzt.
Welche Art von Zug ist das?
Es handelt sich um eine Hochgeschwindigkeitsverbindung in den bzw. vom Norden Englands und weiter bis Inverness im Norden Schottlands. Sie verbindet die wichtigsten Städte im Osten bzw. Norden Englands und Schottlands miteinander (u.a. Aberdeen, Edinburgh und Newcastle). Auf der Strecke verkehren täglich im Schnitt mehrere Dutzend Züge auf unterschiedlichen Abschnitten.
Wie schnell fahren die Züge hier?
Die momentan erlaubte Höchstgeschwindigkeit beträgt 200 km/h, im Schnitt fahren die Züge mit 160 bis 180 km/h.
Handelt es sich um eine privat betriebene Strecke?
Nein, die London North Eastern Railway (LNER), die diese Strecke befährt, ist eine staatliche Eisenbahngesellschaft. Sie ist seit 2018 hier tätig, nachdem der Vertrag mit der privaten Virgin Trains East Coast (gehört zu Richard Bransons Virgin-Gruppe) aufgelöst worden war.
Wann geschah das Attentat?
Der Zug, Triebwagennummer 800111, startete seine Reise Richtung London, Bahnhof King's Cross, fahrplanmäßig. Er verließ den Bahnhof von York um 18.02 Uhr. Nach Aufenthalten in Doncaster, Retford, Newark North Gate und Grantham fuhr er um 19.30 Uhr aus dem Bahnhof von Peterborough. Nur Minuten danach kam es an Bord zu den dramatischen Szenen.
Was ist genau geschehen?
Unmittelbar nach Abfahrt des Zuges aus Peterborough begann ein Mann im vierten Waggon von vorne, dem Wagon J (der Zug bestand aus insgesamt neun Waggons, inklusive Triebwagen), mit einem großen Messer auf andere Passagiere einzustechen. Es kam zu Panik, Dutzende Passagiere versuchten, vor dem Attentäter wegzulaufen, einige stellten sich dem Mann in den Weg. Es sollen auch Passagiere niedergetrampelt worden sein.

Was spielt sich an Bord des Zuges ab?
Zeugenaussagen zufolge, versuchten die meisten Fahrgäste über den Speisewagen in den hinteren Bereich des Zuges zu flüchten. Der Speisewagen befand sich in der Mitte der Garnitur, als sechster Waggon. Mehrere Passagiere verbarrikadierten schließlich die Türen zum Speisewagen um zu verhindern, dass der mutmaßliche Täter eindringen konnte.
Wie reagierte die Polizei?
Um 19.39 Uhr gingen die ersten Notrufe bei den Behörden ein. Um 19.42 Uhr wurde die Transportpolizei (British Transport Police, BTB) alarmiert, die für Verbrechen in Zügen verantwortlich ist. Gleichzeitig zogen offenbar Fahrgäste an Bord von Zug 1Y90 die Notbremse.
Hätte der Zug dann nicht gleich auf offener Strecke anhalten müssen?
Nicht zwingend. Sobald die Notbremse gezogen wird, hat der Lokführer einige Sekunden Zeit zu entscheiden, was der Notfall ist und wie er reagiert – sofort anhalten oder den nächstmöglichen Bahnhof anfahren. Nur wenn der Lokführer überhaupt nicht reagiert, wird automatisch ein Not-Stopp eingeleitet. In diesem Fall wusste der Lokführer, Andrew Johnson, offenbar bereits, was an Bord seines Zuges geschah und hatte die Leitstelle verständigt.
Wie ging es weiter?
Lokführer Johnson drosselte das Tempo seines Zuges und bat darum, von einem Hochgeschwindigkeitsgleis auf ein Gleis für niedrigere Geschwindigkeiten umgeleitet zu werden. Nur so war es möglich, den Zug im nächstmöglichen Bahnhof geordnet anzuhalten.
Wann geschah das?
Um 19.44 Uhr, also nur fünf Minuten, nachdem die Polizei die ersten Notrufe erhalten hatte, hielt der Zug im Bahnhof von Huntingdon, der etwa 32 Kilometer südlich von Peterborough liegt. Der Lokführer öffnete sofort alle Türen und Dutzende Menschen sprangen auf den Bahnsteig und rannten um ihr Leben.
Weshalb hielt der Lokführer nicht sofort an?
Weil es ihm zu gefährlich und zudem nicht sinnvoll erschien. "Wäre der Zug auf offener Strecke stehen geblieben, hätten die Türen aus Sicherheitsgründen nicht sofort geöffnet werden können, und die Passagiere wären weiterhin dem Angriff ausgesetzt gewesen", erläuterte Dean McFarlane, ein Stationsleiter, der unmittelbar nach den tragischen Ereignissen mit Lokführer Andrew Johnson sprach.

Was weiß man über den Lokführer?
Er stand 17 Jahre lang als Obermaat im Dienst der Royal Navy und war 2003 auch im Irak im Einsatz. Andew Johnson wird in Großbritannien für sein besonnenes Vorgehen mittlerweile als Held gefeiert, gibt sich aber bescheiden: "Ich habe nur meine Arbeit gemacht. Mein Kollege, der im Krankenhaus liegt, war derjenige, der mutig war."
Wen meint er damit?
Den Zugführer von Zugnummer 1Y90. Der Mann, dessen Name von den Behörden bislang nicht veröffentlicht worden ist, hat sich nach übereinstimmenden Zeugenaussagen dem Messerangreifer in den Weg gestellt um zu verhindern, dass dieser weiter auf Passagiere einsticht.
Weiß man Genaueres?
Der stellvertretende Polizeichef Stuart Cundy von der Transportpolizei würdigte den Zugführer in einem Interview: "Nachdem ich die Aufnahmen der Überwachungskamera aus dem Zug gesichtet habe, kann ich sagen, dass sein Handeln nichts weniger als heldenhaft war und zweifellos Menschenleben gerettet hat."
Wie geht es dem Zugführer?
Er wurde durch Stiche und Schnitte im Gesicht und am Kopf schwer verletzt und befand sich am Montag nach wie vor in Lebensgefahr. Sein Zustand wurde als "ernst, aber stabil" beschrieben.
Wie viele Menschen wurden bei dem Anschlag insgesamt verletzt?
Es kamen elf Personen ins Krankenhaus. Zunächst heiß es, dass neun von ihnen lebensbedrohliche Verletzungen erlitten hätten, doch am Sonntag verringerte sich die Zahl. Bis Montag konnten sechs Personen das Krankenhaus bereits verlassen, sie erlitten "nur" schwere Schnittwunden, vor allem an den Händen und Armen. Es handelt sich dabei um Abwehrverletzungen. Fünf Personen waren am Montag noch in Spitalsbehandlung, ein Mann – der heldenhafte Zugführer – war demnach noch in Lebensgefahr.
Wie ging es nach dem Not-Stopp des Zuges am Bahnhof von Huntingdon weiter?
Polizeikräfte und Rettungswägen rasten zur Station, doch dem mutmaßlichen Täter gelang zunächst die Flucht aus dem Zug. "Wir sahen, wie er über einen Zaun sprang", so Zeugen der Ereignisse am Bahnhof. Doch die eintreffenden Polizeikräfte identifizierten den mutmaßlichen Täter rasch und setzten diesen mit einem Taser außer Gefecht. Zuvor soll er den Polizisten noch mehrfach zugerufen haben: "Tötet mich! Tötet mich!"

Was weiß man über den mutmaßlichen Täter?
Es handelt sich um einen 32-jährigen, angeblich unterstandslosen Mann dunkler Hautfarbe aus Peterborough. Er ist in Großbritannien geboren und hat auch die britische Staatsbürgerschaft. Er wurde am Montag dem Haftrichter vorgeführt, der die Untersuchungshaft aussprach. Der Tatverdacht lautet elffacher Mordversuch.
Wurde nicht noch eine zweite Person von der Polizei mitgenommen?
Ja, unmittelbar nach dem Anschlag wurde auch ein zweiter Mann festgenommen. Dabei handelte es sich um einen 35-jährigen Londoner mit karibischen Wurzeln. Er wurde allerdings noch am Sonntag freigelassen. Die Polizei sah es als erwiesen an, dass er mit dem Messerangriff nichts zu tun hatte.
Was weiß man über das Motiv des Tatverdächtigen?
Bislang überhaupt nichts. Er war den Behörden bis Samstag noch nicht aufgefallen. Weder den Sicherheitsdiensten, noch der Antiterror-Polizei war er bekannt. Auch im sogenannten Prevent-Programm, in dem potenzielle Gefährder überwacht werden, kannte man ihn. Mangels entsprechender Hinweise oder Verbindungen, gehen die Behörden deshalb nicht von einem terroristischen Hintergrund aus.
Es war also die erste Straftat des mutmaßlichen Attentäters?
Möglicherweise doch nicht. Im Zuge der Ermittlungen wurde am Montag bekannt, dass der Tatverdächtige offenbar am Tag vor dem Anschlag auf den Zug bereits mehrere Straftaten verübt haben könnte.
Um welche Straftaten geht es da?
Er wird mit einem Messerangriff auf eine Person in den Londoner Docklands in den frühen Morgenstunden des Attentats-Samstags in Verbindung gebracht.
Hat sie da etwas aufgeschaukelt?
Könnte sein. Der Verdächtige soll bereits am Freitag davor einen 14-jährigen Burschen in seiner Heimatstadt Peterborough mit einem Messer verletzt haben und kurz danach zwei Mal in einem Barbershop in Peterborough mit einem Messer mehrere Personen bedroht haben. Vom ersten Barbershop gibt es ein Video (siehe unten), in dem auch zu sehen ist, dass der Mann vor dem Überfall etwas trinkt, mutmaßlich Alkohol.
Stand der Verdächtige beim Attentat auf den Zug unter Alkohol- oder Drogeneinfluss?
Darüber ist bislang nichts bekannt geworden.
Wie geht es nun weiter?
Laut britischen Zeitungen, muss sich der Mann ab dem 1. Dezember bei der Vorverhandlung in Cambridge der Anklage stellen, bis dahin bleibt er in Untersuchungshaft.
Gab es offizielle Reaktionen?
Die Tat sorgt in Großbritannien seit dem Wochenende für Entsetzen. König Charles und Premierminister Keir Starmer meldeten sich noch am Samstag zu Wort und bekundeten den Opfern ihr Mitgefühl.
Und die politische Verantwortung?
Am Montag kam es im britischen Unterhaus zu einer Debatte, nachdem die Regierung über den aktuellen Ermittlungsstand zum Attentat informierte. Dabei wurde einerseits die große Zahl an Messerdelikten in Großbritannien von der Opposition kritisiert. Und andererseits die Frage gestellt, wie derartige Vorfälle wie jetzt in Peterborough künftig verhindert werden könnten.
Stimmt der Vorwurf bezüglich der Kriminalität mit Messer-Beteiligung?
Ja, das ist schon richtig. Die Labour-Regierung hat seit Amtsantritt ein Programm laufen, mit dem die Messerkriminalität binnen zehn Jahren halbiert werden soll. Im Zuge dessen wurden nach Angaben des Innenministeriums in England und Wales fast 60.000 Messer beschlagnahmt oder abgegeben. Das Tragen eines Messers in der Öffentlichkeit kann inzwischen mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft werden. Die Zahl der tödlichen Messerangriffe ging seither um 18 Prozent zurück.

Und wie lassen sich Züge besser schützen?
Dazu gibt es zahlreiche Stellungnahmen aus allen politischen Richtungen ebenso wie aus der Exekutive. Gemeinsamer Tenor der meisten Wortmeldungen: Echte Sicherheit ließe sich nur erreichen, wenn auf allen Bahnhöfen ähnliche Sicherheitsvorkehrungen eingeführt würden, wie sie auf Flughäfen längst gang und gäbe sind. Und das wird als undurchführbar angesehen. Und zwar sowohl vom Aufwand her, der dafür nötig wäre, als auch von der Zumutbarkeit für die Fahrgäste.
Weshalb das?
Man müsste an jeder Zugstation Sicherheitsschleusen und Personal haben und das Gepäck sowie die persönlichen Gegenstände jedes Reisenden kontrollieren, ehe dieser in einen Zug steigt. Wohl schlicht undurchführbar.