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"Geisterflug"

Pilot am Klo, Co-Pilot ohnmächtig: Was dann an Bord von LH1140 passierte

Kein Netflix-Thriller, sondern echt: In einer Maschine der Lufthansa fallen beide Piloten aus. 10 Minuten lang ist der Airbus mit 199 Passagieren im "Blindflug" unterwegs. Nun liegt der Untersuchungsbericht dazu vor. Und empfiehlt neue Flugregeln.

Das Cockpit eines Airbus A321, links unten ist der Türöffner zu sehen
Das Cockpit eines Airbus A321, links unten ist der Türöffner zu sehenReuters
Christian Nusser
Akt. 21.05.2025 23:33 Uhr

In den Tagen nach dem 17. Februar 2024 war es den meisten Medien nur eine Randnotiz wert. In einem Flugzeug der Lufthansa auf dem Weg von Frankfurt nach Sevilla habe sich der Co-Pilot "plötzlich unwohl" gefühlt, stand zu lesen. Die Crew habe sich entschieden, aus Sicherheitsgründen Madrid anzufliegen. Von dort seien die Passagiere nach fünf Stunden Wartezeit an ihr eigentliches Ziel gebracht worden. Fertig!

Nun enthüllt ein Bericht der spanischen Unfalluntersuchungsbehörde CIAIAC, wie dramatisch der Vorfall tatsächlich war. Denn der Co-Pilot fühlte sich nicht nur "unwohl", er war bewusstlos, und der Pilot zu diesem Zeitpunkt auf der Toilette. Heißt: Die Maschine war zehn Minuten lang allein dem Autopiloten überlassen. Was in der Luft passierte:

Von welchem Flug ist die Rede?
Am Samstag, dem 17. Februar 2024, startete ein Flugzeug der Lufthansa vom Typ Airbus A321  vom Flughafen Frankfurt in Deutschland mit dem Ziel Flughafen Sevilla in Spanien. Im Cockpit saßen der Pilot, er wird im Untersuchungsbericht mit PM abgekürzt, und der Copilot, PF genannt.

Ein Airbus A321 der Lufthansa beim Start in Frankfurt
Ein Airbus A321 der Lufthansa beim Start in Frankfurt
Reuters

Was waren die Flugzeiten?
Der Airbus A321-231 hob einigermaßen pünktlich um 8:57 Uhr ab. Die planmäßige Landung sollte um 11.35 Uhr erfolgen.

Was weiß man über Pilot und Copilot?
Für die Besatzung war dies der vierte Tag einer viertägigen Rotation. Das bedeutet: Die beiden waren schon die drei Tage davor gemeinsam auf mehreren Flugstrecken unterwegs – ohne Zwischenfall. Der Kapitän war 43 Jahre, der Erste Offizier 38 Jahre alt.

Gab es irgendwelche Anzeichen für medizinische Probleme?
Nein, der Copilot verfügte über ein gültiges und uneingeschränktes ärztliches Tauglichkeitszeugnis der Klasse 1. Er habe, so der Untersuchungsbericht, in den Tagen davor "stets eine sehr hohe Motivation gezeigt".

Was weiß man über das Flugzeug?
Der Airbus A321-231 ist im deutschen Luftfahrzeugregister eingetragen, Eigentümer ist die Lufthansa Leasing Austria GmbH. Die Maschine mit Baujahr 2008 hat ein maximales Startgewicht von 89.000 Kilo.

Wie viele Menschen waren an Bord?
199 Passagiere in der Kabine, 2 Piloten im Cockpit und 4 Flugbegleiter, gesamt also 205 Personen.

Die Passagiere bekamen von dem Zwischenfall zunächst nichts mit
Die Passagiere bekamen von dem Zwischenfall zunächst nichts mit
Reuters

Wie kam es zum Zwischenfall?
Der Airbus flog in den spanischen Flugraum ein. Kapitän und Co-Pilot unterhielten sich über Wetterlage und den Flugbetrieb, alles schien normal. Um 10.31 Uhr verließ der Kommandant das Cockpit, um die Toilette im vorderen Teil der Maschine aufzusuchen, "aus physiologischen Gründen", wie es im Bericht taktvoll heißt. Nach Angaben des Kommandanten war der Copilot zu diesem Zeitpunkt "fit und aufmerksam".

Wo befand sich der Airbus?
In einer Höhe von 35.000 Fuß, also rund 10.000 Metern, 88 nautische Meilen (rund 163 Kilometer) nordöstlich von Madrid. Der Airbus flog im Autopilot.

Wie spitzte sich die Lage zu?
Ziemlich rasch. Schon 32 Sekunden nachdem der Pilot seinen Sitz verlassen hatte, taten sich im Cockpit rätselhafte Dinge. Der Co-Pilot gab seltsame Kommandos, drückte vom rechten Sitz aus ohne Sinn und Notwendigkeit Schalter, trat in seine Ruderpedale und griff in die Flugsteuerung ein. Nichts davon sieht die Flugroutine vor.

Schaltete er auch den Autopiloten aus?
Nein, das war das große Glück. Der Autopilot und das Triebwerkssystem blieben eingeschaltet, sodass die Flugbahn beibehalten wurde und es zu keiner Schubumkehr kam. Die Besatzung bekam von dem Drama im Cockpit nichts mit. Der Co-Pilot konnte die Sprechanlage nicht mehr benutzen. LH1140 war zum "Geisterflug" geworden.

Die Triebwerke wurden zum Glück nicht ausgeschaltet
Die Triebwerke wurden zum Glück nicht ausgeschaltet
Reuters

Wie lange dauerte diese Phase?
Alles in allem 10 Minuten. Um 10.39 Uhr kehrte der Pilot nichtsahnend von der Toilette zurück und wollte ins Cockpit. Aber das funktionierte nicht.

Warum?
Um ins Cockpit zu gelangen, muss an der Tür ein Code eingegeben werden. Nach Eintippen der Zahlen ertönt in der Führerkabine ein Summton. Vom Cockpit aus lässt sich über eine Überwachungskamera sehen, wer vor der Tür steht. Dann kann die Tür über einen Kippschalter entriegelt werden (oder auch nicht).

Wie war es in diesem Fall?
Auf der Tür-Tastatur leuchtet bei Freigabe ein grünes Licht auf, das passierte nicht. Der Pilot dachte, er habe sich verdrückt und wiederholte den Vorgang. Erneut nichts. Der Pilot probierte es drei weitere Male, ohne Ergebnis. Auch Versuche des Bordpersonals, den Copiloten über die Sprechanlage zu erreichen, scheiterten.

Kann man die Tür nicht aufbrechen?
Nein, es handelt sich um eine massive Sicherheitstür. Sie ist quasi unkaputtbar, jedenfalls braucht man dafür schwereres Gerät.

Reste der Germanwings-Maschine nach dem Absturz 2015 in den französischen Alpen
Reste der Germanwings-Maschine nach dem Absturz 2015 in den französischen Alpen
SEBASTIEN NOGIER / EPA / picturedesk.com

Da wurden Erinnerungen wach, oder?
Ja, an den Germanwings Flug 9525. Am 24. März 2015 steuerte Co-Pilot Andreas Lubitz einen Airbus A320 absichtlich in Frankreich in ein Bergmassiv. 150 Menschen starben. Es ist bis heute das schwerste Unglück des Lufthansa-Konzerns. Lubitz hatte sich davor im Cockpit verbarrikadiert.

Wie war es diesmal?
Es handelte sich um einen medizinischen Notfall, aber das wusste die Crew zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Jedenfalls: Wenn sich die Tür nicht öffnen lässt, steht ein Notfall-Code zur Verfügung. Damit kann man die Türsperre quasi "overrulen". Im Cockpit ertönt ein lauter Warnton. Reagiert niemand, geht die Tür nach einem vordefinierten Zeitpunkt (höchstens 30 Sekunden) automatisch für einen Zeitraum von 5 Sekunden auf.

So war es diesmal auch?
Nein. Bevor der Timer des Notzugangscodes ablief, schaffte es der Co-Pilot, die Cockpit-Tür manuell von innen zu öffnen.

Was war in der Zwischenzeit passiert?
Die Maschine befand sich zu diesem Zeitpunkt rund 10 Minuten im "Blindflug", sie wurde also vom Autopiloten ohne Aufsicht gesteuert. Am Kurs änderte sich nichts. Um 10.42 Uhr, nach rund 10 Minuten also, übernahm der Pilot wieder die Kontrolle über das Flugzeug.

Co-Pilot Andreas Lubitz sperrte sich in der Kabine der Germanwings ein und flog 149 Menschen in den Tod
Co-Pilot Andreas Lubitz sperrte sich in der Kabine der Germanwings ein und flog 149 Menschen in den Tod
FOTO-TEAM-MUELLER / EPA / picturedesk.com

Gab es keinen Kontakt zum Boden?
Doch. Bevor der Kapitän das Cockpit verließ, teilte er den Fluglotsen in Madrid auf Anfrage mit, dass er nur "leichte Turbulenzen" wahrgenommen habe. Als sich der Co-Pilot allein im Cockpit befand, versuchte der Fluglotse dreimal, Kontakt zur Besatzung aufzunehmen, um die Kontrolle über das Flugzeug an den nächsten Streckenabschnitt zu übergeben. Da der Erste Offizier aber dienstunfähig war, gab es keine Antwort.

Gab es weitere Kontaktversuche?
Nein, erst der Pilot setzte sich wieder mit den Lotsen in Verbindung. Um 10.43 Uhr erklärte er, an Bord einen medizinischen Notfall zu haben und suchte um eine Sinkfluggenehmigung an.

Was war mit dem Co-Piloten?
Aus den Bordaufzeichnungen geht hervor, dass der "medizinische Notfall" um 10.32 Uhr eintrat. Es wurden "Geräusche aufgezeichnet, die auf einen plötzlichen und schweren Ausfall des Co-Piloten hindeuteten", heißt es wörtlich. Später stellte sich heraus: Der Erste Offizier hatte einen heftigen Krampfanfall erlitten.

Wie lange dauerte die Episode?
Das lässt sich nicht genau sagen, weil der Anfall in eine Ohnmacht überging. Aber die erste 42 Sekunden dürften die heftigsten gewesen sein. Der Bericht listet eine ganze Reihe von Tätigkeiten aus, die der Co-Pilot ausführte. Er hatte offensichtlich seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle.

Was war die Folge?
Der Bordcomputer versuchte mit den wirren Anordnungen zurecht zu kommen. Es gingen Warnlampen an. Im Bericht steht: "Die A321 ist mit drei SEC-Computern (Spoiler Elevator Computer) ausgestattet, die Teil der 7 Flugsteuerungscomputer der A321 sind. Sie sind für die Steuerung der Spoiler und die Standby-Steuerung des Höhenruders und des Stabilisators zuständig."

Mit diesem Hebel wird die Cockpit-Tür geöffnet oder verriegelt
Mit diesem Hebel wird die Cockpit-Tür geöffnet oder verriegelt
REUTERS

Ging der Alarm im Cockpit an?
Ja. Zunächst erfolgte die Warnmeldung "Stop Rudder Input". Sie wird ausgegeben, wenn bei hoher Reisegeschwindigkeit unangemessene Bewegungen der Seitenruderpedale festgestellt werden. Dies führt zur Aktivierung der Master Warning. Ab da wird es ernst.

Was bedeutet "Master Warning"?
Es handelt sich um ein Warnsignal, das die Besatzung auf schwerwiegendere Probleme hinweist, die sofortiges Handeln erfordern. Es löst in der Regel rote Ampeln und akustische Signale wie ein Klingeln aus, um die Aufmerksamkeit der Besatzung zu erregen.

Bekam das der Pilot vor der verschlossenen Tür mit?
Davon im Bericht nichts zu lesen, es ist nicht davon auszugehen.

Was passierte nach dem Master Warnung"?
Als der Pilot wieder ins Cockpit konnte, fand er den Co-Piloten. Laut Bericht war er "blass, schwitzte und bewegte sich seltsam". Der Pilot holte die Kabinenbesatzung zu Hilfe. Der Co-Pilot wurde von der Besatzung in der Bordküche auf den Boden gelegt. Ein als Passagier mitreisenden Arzt nahm die Erstversorgung vor, er "diagnostizierte eine mögliche Herzerkrankung".

Was passierte mit dem Flugzeug?
Das hatte der Kapitän schnell wieder im Griff. Er entschied, zum nächstgelegenen Flughafen auszuweichen, meldete einen medizinischen Notfall und forderte einen Krankenwagen an.

Die Lufthansa, hier CEO Carsten Spoh , will zu dem Vorfall nichts sagen und hat eine eigene Untersuchung eingeleitet
Die Lufthansa, hier CEO Carsten Spoh , will zu dem Vorfall nichts sagen und hat eine eigene Untersuchung eingeleitet
Roberto Monaldo / LaPresse / picturedesk.com

Kam es zu weiteren Komplikationen?
Nein, die Landung verlief ohne weitere Zwischenfälle. Die Maschine setzte etwa 20 Minuten später auf dem Flughafen Adolfo Suárez Madrid Barajas auf. Es gab keine Verletzten.

War der Pilot auf eine solche Aktion trainiert?
Ja, er hatte eine Schulung für den Fall der Dienstunfähigkeit des anderen Piloten absolviert, zuletzt im Januar 2024.

Woran litt der Co-Pilot?
Der Untersuchungsbericht spricht von einer "Krampfanfallstörung". Und sagt: "Die plötzliche schwere Arbeitsunfähigkeit war Symptom einer neurologischen Erkrankung, die weder vom Betroffenen selbst noch bei früheren flugmedizinischen Untersuchungen festgestellt worden war."

Was sagte der Co-Pilot später aus?
Er gab an, "das Bewusstsein verloren zu haben und sich nicht daran erinnern zu können, wann dies geschehen sei. Davor habe er sich daran erinnert, über Zaragoza geflogen zu sein, und als Nächstes sei er von den Besatzungsmitgliedern der Passagierkabine und einem Arzt, der als Passagier an Bord des Flugzeugs war, versorgt worden. Die Bewusstlosigkeit trat so plötzlich ein, dass er die anderen Besatzungsmitglieder nicht auf seine Handlungsunfähigkeit aufmerksam machen konnte."

Nach dem Vorfall wird wieder die 2-Personen-Regel debattiert (hier Airbus CEO Guillaume Faury)
Nach dem Vorfall wird wieder die 2-Personen-Regel debattiert (hier Airbus CEO Guillaume Faury)
Reuters

Was zieht der Bericht für Konsequenzen?
Wörtlich heißt es dazu: "Der Vorfall hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass sich eine weitere befugte Person im Cockpit befindet, wenn einer der beiden Piloten dieses aus physiologischen oder betrieblichen Gründen verlässt. Es wird für angebracht gehalten, diesbezüglich eine Empfehlung zur Flugsicherheit an die EASA zu richten."

Gab es diese 2-Personen-Regel nicht einmal?
Ja, sie wurde von der European Union Aviation Safety Agency (EASA) nach der Germanwings-Katastrophe eingeführt. Ab da mussten sich immer mindestens zwei Personen im Cockpit befinden. Verlässt der Pilot oder der Co-Pilot das Cockpit, nimmt während dieser Zeit ein Crewmitglied den Platz ein.

Gilt das heute noch?
Nein! Die Regelung wurde nach Beschwerden mehrerer Fluglinien am 21. Juli 2016 schnell wieder aufgehoben. Seither gilt eine "Empfehlung" an die Fluglinien, "das Risiko zu bewerten und zu entscheiden, ob sie eine Zwei-Personen-Regelung im Cockpit einführen müssen". Jede Airline entscheidet also wie sie mag. Bei US-Fluggesellschaften ist die Zwei-Personen-Regel bis heute Standard.

Christian Nusser
Akt. 21.05.2025 23:33 Uhr