Der tragische Vergiftungstod einer deutsch-türkischen Familie mit zwei kleinen Kindern in Istanbul ist noch nicht restlos aufgeklärt. Nun starb ein weiterer Deutscher – im selben Viertel, unter ähnlich rätselhaften Umständen. Was über den neuen Fall bekannt ist.

Noch ist nicht geklärt, woran jene deutsche Familie mit türkischen Wurzeln gestorben ist, die vergangene Woche mit schweren Vergiftungserscheinungen in ein Istanbuler Krankenhaus eingeliefert worden war, da erschüttert ein weiterer Fall die Metropole.
Ein junger Deutscher, ebenfalls mit türkischen Wurzeln, kam am Dienstag, dem 18. November, für eine Messe nach Istanbul. In der Nacht fühlte er sich auf einmal unwohl, verständigte den Notruf und wurde in eines der modernsten Krankenhäuser der Stadt gebracht.
Dort starb er noch in der gleichen Nacht. Auch er hatte, wie die junge Familie, in einem kleinen Hotel im selben Stadtviertel übernachtet.
Was über die mysteriösen Todesfälle in Istanbul bekannt ist, wie die fünf Menschen möglicherweise vergiftet wurden, wie viele Opfer es noch gibt – das weiß man bis jetzt über das Vergiftungs-Drama von Istanbul:
Worum geht es?
Um mittlerweile bereits fünf mysteriöse Todesfälle, die alle in den vergangenen zehn Tagen in Istanbul geschehen sind und bei denen deutsche Touristen ihr Leben verloren haben.
Was ist beim jüngsten Fall geschehen?
Der Deutsch-Türke Gürhan T., der für ein deutsches Logistik-Uunternehmen arbeitet, sei am 18. November in Istanbul angekommen, berichten türkische Medien übereinstimmend. Er sollte da beim Aufbau eines Messestandes bei einer Fachmesse helfen. Er habe den Rest des Tages im Stadtteil Fatih verbracht, diverse Speisen gegessen und sei dann in sein Hotel in der Samsa-Straße gegangen.

Was ist dann geschehen?
In der Nacht habe der junge Mann plötzlich an Atemnot und Schweißausbrüchen gelitten. Er verständigte zuerst telefonisch Freunde und rief dann schließlich selbst den Notruf. Er wurde mit der Ambulanz in das Istanbuler Ausbildungs- und Forschungskrankenhaus gebracht. Es handelt sich dabei um eines der modernsten Spitäler in der Millionenstadt.
Konnte ihm dort geholfen werden?
Nein, offenbar nicht. Obwohl man sich laut Medien sofort um Gürhan T. kümmerte, sei er noch in der gleichen Nacht verstorben.
Hatte er irgendwelche Verletzungen?
Laut einem Polizeiteam, das im Krankenhaus einen Totenbeschau durchführte, seien keine Anzeichen von Gewalt oder Verletzungen der Leiche von Gürhan T. festgestellt worden. Seine Angehörigen gaben zudem an, dass er keine Krankheiten hatte, sein allgemeiner Gesundheitszustand gut war und er auch keinen Alkohol konsumierte.
Gibt es Erkenntnisse, was zu seinem Tod geführt haben könnte?
Wie die Polizei ermittelte, gab der Besitzer des Hotels, in dem Gürhan T. wohnte, an, dass dort vor etwa einem Jahr eine Schädlingsbekämpfung stattgefunden habe. Mit welchen Chemikalien, ist derzeit noch unklar.
Wie geht es jetzt weiter?
Der Leichnam des Mannes wurde in die Gerichtsmedizin gebracht und soll dort obduziert und auch toxikologisch untersucht werden.

Worum geht es?
Um den tragischen Tod von Çiğdem B., 27, und ihrer zwei Kinder (3 und 6 Jahre alt) vergangene Woche sowie den letztlich vergeblichen Überlebenskampf des Vaters, Servet B. Der Mann starb am Montag, dem 17. November. Die junge Familie war vergangene Woche gemeinsam auf Urlaub in Istanbul und wurde dort augenscheinlich Opfer einer Vergiftung.
Woher stammt die Familie?
Sie hatte türkische Wurzeln, lebte aber seit vielen Jahren in Hamburg. Besonders tragisch: Der Vater der toten Frau lebt nach wie vor in Westanatolien und berichtete, dass die Familien plante, demnächst in die alte Heimat zurück zu siedeln.
Aber jetzt war sie auf Urlaub in Istanbul?
Richtig, die vier reisten am Sonntag, dem 9. November, in die Stadt am Bosporus.
Was passierte dann?
Die Familie checkte im Dreistern-Hotel "Harbour Suites Old City" im Stadtteil Fatih auf der europäischen Seite von Istanbul ein. Es handelt sich um eine typische Touristengegend in der Nähe des Meeres, kleine Hotels reihen sich hier aneinander, unzählige Restaurants und Streetfood-Stände buhlen um die Gunst der Besucher.
Wie nahm das Unglück seinen Lauf?
Montag und Dienstag absolvierte die Familie ein typisches Istanbul-Besuchsprogramm, war in der Stadt unterwegs. In der Nacht auf Mittwoch, den 12. November, stellte sich bei allen Familienmitgliedern erstmals Übelkeit ein, wie die (mittlerweile verstorbene) Frau den Ärzten vor ihrem Tod zu Protokoll gab. Am Morgen des Mittwoch ging die ganze Familie ins Krankenhaus und ließ sich behandeln.
Was wurde diagnostiziert?
Durchfall und Gastroenteritis (Magen-Darm-Grippe) bei den Eltern, Erbrechen und Übelkeit bei den Kindern. Die Familie wurde behandelt (wie genau wurde bislang nicht kommuniziert), fühlte sich im Lauf des Nachmittags besser und kehrte in ihr Hotel zurück.
Was geschah weiter?
Noch in der Nacht verschlechterte sich der Zustand vor allem der Frau und der beiden Kinder dramatisch und der Vater rief die Rettung. Laut türkischen Medienberichten kamen alle vier um 3 Uhr früh ins Taksim-Krankenhaus.

Wie spitzte sich die Lage zu?
Angeblich waren die Frau und die beiden Kinder bei der Einlieferung ins Spital nicht mehr bei Bewusstsein. Alle drei starben im Laufe des Donnerstag. Der Vater soll mehrere Herzinfarkte erlitten haben und rang in der Klinik tagelang um sein Leben. Montagabend gaben die Gesundheitsbehörden der Stadt schließlich bekannt, dass auch der Familienvater seinen Kampf verloren hat.
Woran starb die Familie?
An den drei Verstorbenen von letzter Woche wurde zwar bereits eine Obduktion durchgeführt, doch diese war offenbar zunächst ergebnislos. Es gab demnach keine genaueren Erkenntnisse über die Todesursache der Mutter und ihrer beiden Kinder. Eine allfällige Obduktion des Familienvaters stand zuletzt noch aus.
Worauf tippen die Ärzte?
Zunächst ging man von einer Lebensmittelvergiftung aus. Bei ihrem ersten Spitalsaufenthalt hatte die junge Mutter den Ärzten sehr genau geschildert, wo sie und ihre Familie in den vergangenen beiden Tagen was gegessen hatten. Auf Basis dieser Angaben gingen Ermittler noch am Freitag nach dem Tod der drei Menschen auf Spurensuche.
Was hat die Familie gegessen?
Man verköstigte sich vornehmlich bei fliegenden Händlern und in kleinen Streetfood-Lokalen. Die Staatsanwaltschaft von Istanbul veröffentlichte am Wochenende die komplette Liste. Demnach ernährte sich die Familie von Pide (türkische Pizza) mit Faschiertem und Sucuk (türkische Peperoniwurst) sowie Käsepizza. Außerdem gab es Poğaça (türkisches Gebäck) und Simit (Bagels), Muscheln (von einem Straßenverkäufer neben der Ortaköy-Moschee), Suppe, Kokoreç (gegrillter Kalbsdarm), gegrilltes Huhn und türkische Süßspeisen.
Was ergaben die Ermittlungen?
Noch am Freitag wurden vier Straßenhändler vorläufig festgenommen, ihnen wird fahrlässige Tötung vorgeworfen. Laut den Behörden seien alle vier vorbestraft, allerdings wegen anderer Delikte. Am Montag wurde zudem noch ein Bäcker festgenommen.
Wurden auch Lebensmittelproben genommen?
Ja, bei den festgenommenen Händlern, allerdings auch Reste der Süßspeisen sowie von Erbrochenem im Hotelzimmer der Familie. Laut der Zeitung Cumhüriyet hätten die ersten Resultate der Laboruntersuchungen allerdings keine Hinweise auf verdorbenes Essen ergeben.

Gibt es bereits Resultate der Proben, die bei den Autopsien entnommen worden sind?
Bis Montagabend gab es dazu noch keine Ergebnisse. Allerdings bezweifeln Fachleute in mehreren Medien, dass tatsächlich die Muscheln oder das Hühnchen (die "Hauptverdächtigen" auf der Speiseliste) Schuld an der Erkrankung bzw. dem tragischen Tod der Familie sind.
Weshalb?
Weil es ihrer Meinung nach viel zu lange gedauert hätte, ehe die Organismen eine Reaktion auf die schlechten Speisen gezeigt hätten. Eine Vergiftung mit Muscheln macht sich erfahrungsgemäß binnen weniger Minuten bemerkbar und der Körper versucht dann radikal, das Essen wieder loszuwerden. Die längste Dauer, ehe sich eine Muschelvergiftung bemerkbar macht, soll bei sechs Stunden liegen.
Und in diesem Fall?
Seien insgesamt fast 22 Stunden vergangen, ehe die ersten heftigen Symptome auftraten.
Was wird stattdessen angenommen?
Im Lichte dieser Erkenntnisse beauftragte die Staatsanwaltschaft erfahrene Mordermittler mit den weiteren Untersuchungen. Und man verlagerte die Ursachenforschung am Wochenende auf das Hotel, in dem die Familie wohnte.
Und?
Offenbar wurde man dort fündig. Noch am Sonntag berichteten türkische Medien, dass zumindest in einem Raum des Hotels Pestizide verwendet worden wären, um Bettwanzen zu bekämpfen. Am Montag kristallisierte sich heraus, dass dabei möglicherweise illegal beschaffte und nicht für den Einsatz in Wohnbereichen zugelassene Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt worden sein könnten.
Wovon ist die Rede?
Die türkische Zeitung Sabah berichtete am Montag, dass möglicherweise das Pestizid Aluminiumphosphid eingesetzt worden sein könnte, und zwar ausgerechnet in einem Zimmer, das exakt unter jenem der betroffenen Familie lag.

Was ist Aluminiumphosphid?
Eine hochgiftige Chemikalie, die nur von geschultem Personal in Schutzanzügen und unter Atemschutz eingesetzt werden darf. Sie wird zur Bekämpfung von Ungeziefer in Containern, Schiffsladeräumen und Getreidesilos verwendet und ist schwer toxisch. Vergiftungen mit Aluminiumphosphid sind immer Notfälle mit einer sehr hohen Todesrate.
Welche Symptome treten bei einer Vergiftung auf?
Kopfschmerzen, Erbrechen, Atemnot oder Herzrhytmusstörungen.
Aber wie könnte das Gift ins Zimmer der Familie gekommen sein?
Aluminiumphosphid wird so eingesetzt, dass es mit der Luftfeuchtigkeit reagiert und das tödliche Gas Phosphin freisetzt, dass eben diverse Schädlinge tötet. Allerdings muss der Raum, in dem es zum Einsatz kommt, hermetisch abgeriegelt werden und nach dem Einsatz lange gelüftet werden. Wird das Mittel ohne diese Sicherheitsmaßnahmen verwendet, könnte es sich auch in andere Räume verteilen, etwa über Lüftungskanäle. Und je nach Konzentration zu schweren Schäden oder sogar zum Tod führen.
Hätte es dann nicht noch weitere Opfer im Hotel gegen müssen?
Die hat es möglicherweise auch. Am Wochenende wurden zwei weitere Gäste des Hotels, ein Italiener und ein Marokkaner, ebenfalls mit diversen Beschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Sie sind allerdings nicht in Lebensgefahr. Außerdem wurde mittlerweile bekannt, dass bereits im vergangenen November eine 23-jährige deutsche Studentin unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Bei ihr wurde letztlich eine Vergiftung mit Pestiziden diagnostiziert, berichten türkische Medien.
Wie reagierten die Behörden?
Das Hotel "Harbour Suites Old City" wurde noch am Wochenende gesperrt, verbliebene Gäste wurden in andere Häuser einquartiert. Außerdem wurden am Sonntag und am Montag insgesamt sechs Personen festgenommen, zwei Mitarbeiter sowie der Besitzer des Hotels und drei Vertreter des Schädlingsbekämpfungsbetriebes, darunter der Junior-Chef.
Was weiß man über die Festgenommenen?
Laut der türkischen Wochenzeitung Oksijen seien sowohl der festgenommene Hotelbesitzer, als auch der Juniorchef der Schädlingsbekämpfungsfirma mehrfach vorbestraft. Der Hotelchef wegen Körperverletzung, der Kammerjäger u. a. wegen fahrlässiger Körperverletzung und Betrugs.

Ist eine Phosphin-Vergiftung damit erwiesen?
Nein, es handelt sich – noch – um eine Vermutung, allerdings eine recht plausible. Aber es gibt bislang aber weder Beweise, noch ein Geständnis. Und last but noch least fehlen auch die endgültigen toxikologischen Befunde von den Verstorbenen. Laut der Zeitung Sabah werden das Blut und die Organe der Toten (auch) darauf hin untersucht.
Aber gibt es bereits stichhaltige Hinweise?
Ja, am Dienstag dieser Woche wurde bekannt, dass die Behörden nicht mehr von einer Lebensmittelvergiftung als Todesursache bei der Hamburger Familie ausgehen. Vielmehr sei man sicher, dass die Eltern und die beiden Kinder in ihrem Hotel "mit einer chemischen Substanz" vergiftet worden wären. Um welche Substanz genau es sich dabei handeln soll, war aber bis zuletzt noch unklar.
Gibt es auch Kritik an der Klinik, die die Familie zunächst behandelt hat?
Ja, am Montag meldete sich, laut Bild-Zeitung, Gesundheitsminister Kemal Memişoğlu zu Wort. er kritisierte, dass im Krankenhaus zunächst lediglich Durchfall und Bauchschmerzen diagnostiziert worden seien. Memişoğlu: "Anschließend wurden sie behandelt und ins Hotel zurückgeschickt. Wir haben eine Untersuchung eingeleitet. Krankenhäuser wie Çapa und Bezmialem (hier wurde die Familie zunächst aufgenommen, Anm.) sind ausreichend ausgestattet. Etwaige Mängel werden nach Abschluss der Untersuchung aufgedeckt."

Was weiß man über das Hotel?
Es ist ein Dreistern-Haus mit 13 Zimmern, die Nacht ist dort angeblich bereits ab 29 Euro erhältlich. Laut diversen Internet-Bewertungen soll es dort heruntergekommen und unhygienisch wirken. Es wird kein Essen serviert, nicht einmal Frühstück. Laut dem Besitzer gibt es dort für die Gäste nur abgefülltes Wasser in Flaschen oder verschweißten Bechern.
Könnte man nötigenfalls noch weitere Gewebeproben aus den Leichnamen entnehmen?
Nein, alle drei vergangene Woche Verstorbenen, also Mutter Çiğdem B., sowie ihre beiden Kinder, wurden noch am Wochenende in der Heimat ihres Vaters beerdigt. Und auch Vater Servet B. wurde mittlerweile bei seiner Familie bestattet. Würden tatsächlich noch weitere Proben nötig sein, müsste man die Leichen daher exhumieren.
Wie reagiert die türkische Gesellschaft auf die Todesfälle?
Sie ist geschockt und die Todesfälle sind seit Tagen ein großes Thema in den Medien. Für viele Türken offenbaren sich in dem Schicksal der jungen Familie die strukturellen Missstände des Landes: Zu wenige und zu laxe Kontrollen, sei es im Bereich Lebensmittelsicherheit oder – wie hier – Schädlingsbekämpfung. Tenor der Kritik In der Türkei sei alles zu teuer – nur Menschenleben seien noch billig.