Verpflichtende Führerschein-Checks für Ältere? Führerschein weg ab 75? Eine Studie analysierte die Daten von 230.000 Autounfällen. Ergebnis: "Junge Autofahrer verunglücken seltener, ältere zunehmend öfter". Was das heißt, die Zahlen, wie es in Österreich aussieht.

Vielleicht lässt sich das Verhalten am ehesten mit "unbeirrbar" beschreiben. Am 23.Oktober enterte eine 85-Jährige über die Auffahrt Ried die Innkreisautobahn A8 und wählte die Fahrrichtung Wels. Dort wollte sie aber genau nicht hin.
Das bemerkte sie nach ein paar Kilometern, man muss zugeben, dass es schon 21.15 Uhr war und einigermaßen finster. Statt auf die nächste Ausfahrt zu warten, drehte die Frau auf der Autobahn einfach um und löste damit in der Verkehrsstatistik einen Eintrag in der Rubrik Geisterfahrerin aus.
Das bemerkte eine Polizeistreife, die zufällig ebenfalls auf der A8 unterwegs war, wenn auch in der korrekten Richtung. Die Polizisten errichteten eine Straßensperre, aber weil die 85-Jährige im Flow war, ignorierte sie die Blockade nicht nur, sondern nutzte sie sogar für ihre Zwecke aus.
Sie fuhr mit ihrem PKW zwischen der Beton-Mittelleitwand und dem stehenden Dienst-Fahrzeug durch, berührte und beschädigte dabei den Streifenwagen, setzte daraufhin ihre Fahrt fort und konnte erst bei einer neuerlichen Straßensperre einige Kilometer weiter gestoppt werden.

Die Frau war nicht betrunken, der Führerschein wurde ihr zur ihrer Sicherheit und der aller anderen vorläufig abgenommen. Ob sie ihn zurückbekommt, wird die Staatsanwaltschaft Ried zu entscheiden haben.
Ein Einzelfall? Offenbar nicht. Eine neue Studie in Deutschland zeigt, dass ältere Verkehrsteilnehmer beiderlei Geschlechts häufiger in Unfälle verwickelt sind als angenommen. Auch sonst werden ein paar Mythen ausgetrieben. Das müssen Sie wissen:
Wer hat die Studie durchgeführt?
Die Björn Steiger Stiftung. Sie wurde 1969 aus einem tragischen Umstand heraus gegründet. Am 3. Mai 1969 kam der achtjährige Björn Steiger bei einem Verkehrsunfall in Winnenden (Baden-Württemberg) ums Leben.
Was passierte genau?
Der Bub wurde auf dem Rückweg vom Schwimmbad von einem Autofahrer erfasst. Es dauerte fast eine Stunde, bis ein Krankenwagen eintraf, es gab zu dieser Zeit noch keinen flächendeckenden Rettungsdienst. Björn starb an einem Schock. Er hätte überleben können.
Was löste das aus?
Die Eltern des Buben, Ute und Siegfried Steiger, gründen daraufhin mit sieben Freunden eine Stiftung, die Erstaunliches zuwege brachte. Die Gruppe ist unter anderem verantwortlich dafür, dass in Deutschland der flächendeckende Rettungsdienst eingeführt wurde, es eine Notrufnummer gibt, Notrufsäulen an den Autobahnen oder die Luftrettung.

Was hat das mit der Unfallforschung zu tun?
Die Stiftung engagiert sich auch in der Prävention. Mitte Oktober wurde ein Studie zu E-Scootern vorgestellt. Die zuständige Forschungsgruppe fordert wegen der Ergebnisse eine Führerscheinpflicht und größere Räder für die Geräte.
Was ist jetzt mit der neuen Studie?
Sie wurde am Dienstag in Berlin vorgestellt, hat aber auch für Österreich Relevanz. Siegfried Brockmann, einer der bekanntesten Unfallforscher Deutschlands, führte sie durch. Es wurden die Daten von 230.000 polizeilich aufgenommen Unfällen analysiert.
Was ist neu?
Die verursachten Unfälle mit Personenschaden konnten fahrleistungsbezogen für das Jahr 2024 neu berechnet werden. In die Beurteilung floss also ein, wie viele Kilometer welche Personengruppe zurücklegte. Es wurde berücksichtigt, dass Jüngere immer noch mehr mit dem Auto unterwegs sind als Ältere.
Warum ist das Thema so emotional?
Weil es praktisch jede Familie betrifft. Die Bevölkerung wird immer älter, es gibt demzufolge immer mehr Seniorinnen und Senioren im Straßenverkehr. Die Frage, wann Oma und Opa den Schlüssel abgeben sollten, hat schon für Familienstreitigkeiten in biblischem Ausmaß gesorgt.
Hat das Thema wachsende Relevanz?
Ja. Laut Verkehrsclub Österreich (VCÖ) wird der Anteil der über 65-Jährigen in Österreich in den kommenden zehn Jahren von heute 20 auf 25 Prozent steigen. Die Zahl der über 85-Jährigen wird sich in den kommenden 20 Jahren von heute 230.000 auf 465.000 verdoppeln. Es wird also immer mehr ältere Menschen im Verkehr geben.

Welche Ergebnisse erbrachte die deutsche Studie?
Zunächst: Die Zahl der im Verkehr verunglückten Menschen geht in Deutschland grundsätzlich zurück. 2024 gab es um mehr als ein Drittel weniger verletzte und getöteten Jüngere als 2011. Aber: Bei den Älteren stiegen die Zahlen stark an.
Was heißt das konkret?
Bei den 18- bis 24-Jährigen sank die Zahl der Verletzten und Getöteten im Vergleich zu 2011 um 39 Prozent. Bei der Gruppe 75 Jahre und älter stieg sie gleichzeitig um 25 Prozent.
Wer ist schuld an Unfällen?
Da halten sich Jung und Alt die Waage. Sind Über-75-Jährige in einen Unfall mit Verletzten und Getöteten verwickelt, haben sie ihn in rund 75 Prozent der Fälle selbst verursacht. Die 18- bis 24-Jährigen sind fast genauso oft Hauptverursacher – Autofahrer mittleren Alters sind es nur in rund der Hälfte der Fälle, berichtet der Spiegel.
Aber die Jüngeren fahren ja viel mehr?
Selbst wenn das so sein sollte, ändert das nichts. Denn die Forschungs-Gruppe rechnete die Daten auch auf eine Million gefahrene Kilometer im Jahr hoch. Das Ergebnis blieb gleich, die Jungen und die Alten sind am häufigsten an Unfällen schuld.
Was sind die Unfallursachen?
Die Antwort auf die Frage verläuft entlang klassischer Vorstellungen. Bei den Jungen heißt das: zu schell, zu viel Alkohol, zu viel Handy. Bei den Älteren: zu schlecht beinander.

Was heißt das in Zahlen?
Bei den 18- bis 24-Jährigen ist in 31 Prozent der Fälle "nicht angepasste Geschwindigkeit" die Ursache, mit großem Abstand der höchste Wert. Bei den Älteren dagegen sind es ein Mangel an Aufmerksamkeit und körperlich auftretende Beschwerden.
Warum überrascht das Ergebnis?
Bei den Älteren verursachen nicht so häufig körperliche Problem einen Unfall, wie man gemeinhin glaubt. Also, es wird nicht das Gas- mit dem Bremspedal verwechselt oder nach hinten gefahren, statt nach vorne. Kommt zwar schon vor – aber viel häufiger können Senioren komplexe Situationen nicht erfassen.

Was heißt das?
Der Straßenverkehr wird etwa durch immer vielfältigere Teilnehmergruppen zunehmend komplexer. Im Alter fehlt die Fähigkeit, das adäquat zu erfassen und zu verarbeiten. Sogenannte kognitive Probleme treten auf.
Widerspricht diese Erkenntnis nicht der Tabelle?
Nur auf den ersten Blick. In Deutschland gibt es in Unfallberichten die Rubrik "sonstige körperliche oder geistige Mängel". Deswegen liegt diese Kategorie weit oben. Forscher Siegfried Brockmann und sein Team haben sich aber jeden Akt im Detail angeschaut. Die Polizisten können nämlich Ergänzungen machen und die waren sehr aufschlussreich.
Warum?
Weil es sich zeigte, dass ein akutes "auffälliges medizinisches Problem" Unfallauslöser Nr. 1 ist. Darunter fällt, dass einem plötzlich schwarz vor Augen wird, ein Anfall oder Übelkeit auftritt, man ohnmächtig wird.
Wie ist das in Österreich?
Da bringen sich die Jungen stärker ins Unfallgeschehen ein. Im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre sind die über 80-Jährigen an rund 1.000 Unfällen mit Personenschaden pro Jahr beteiligt, die 17- bis 24-Jährigen allerdings an fast 6.000, sagt Klaus Robatsch vom Kuratorium für Verkehrssicherheit.

Wie viele Verkehrstote gibt es in Österreich?
Die Zahlen sind stabil hoch. Vom 1. Jänner bis 26. Oktober 2025 gab es im österreichischen Straßennetz 338 Verkehrstote. Im Vergleichszeitraum 2024 waren es 302 und ein Jahr davor 342.
Wie viele Autos sind unterwegs?
Für Österreichs Straßen sind rund rund 7,4 Millionen Fahrzeuge zugelassen, davon sind 5,2 Millionen Pkw.
Wie verteilt sich die Schuld?
In absoluten Zahlen gibt es auch hier einen Überhang der Jungen. In Prozent ausgedrückt: 80 Prozent der Autofahrer über 80 Jahre sind für Unfälle selbst verantwortlich und 73 Prozent der 17- bis 24-Jährigen.
Vielleicht fahren die Jungen einfach mehr?
Das stimmt so nicht mehr. Es gibt in Österreich immer mehr ältere Autofahrer, vor allem aber Autofahrerinnen. Frauen aus geburtenstarken Jahrgängen und mit Führerschein treten vermehrt ins Pensionsleben ein.
Heißt also was?
Berücksichtigt man die gefahrenen Kilometer, so zeigt sich: Die Gruppe der 35- bis 64-Jährigen hat auch in Österreich die geringste Unfallrate. Bei den über 80-Jährigen ist sie um das 4,5-fache erhöht, bei den Jungen allerdings gleich um das 5,8-fache.

Was bringen Untersuchungen für Ältere?
Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, ältere Lenkerinnen und Lenker einem verpflichtenden Gesundheitstest zu unterziehen. Dieses Unterfangen wurde in der vergangenen Woche vom EU-Parlament endgültig abgeblasen. Jedes Mitgliedsland kann das vorschreiben, muss es aber nicht.
Wie ist das aktuell?
Der erweitere Kreis aus EU-Ländern plus Schweiz und Norwegen ist gespalten. Die Hälfte der Länder hat ein Art Screening-Verfahren für Ältere eingeführt, in den anderen Ländern gibt es nix.
Zeigen sich Unterschiede?
Nein, die Unfalldaten weisen nicht aus, dass Senioren in "Screening-Ländern" weniger Unfälle bauen.
Wie kann das sein?
Das Wesen von akuten medizinischen Notfällen ist es, dass sie akut auftreten. Eine einmalige Untersuchung bei einem Arzt alle paar Jahre bringt da wenig.

Was könnte helfen?
Unfallforscher Brockmann setzt auf Hausärzte, die Patienten über einen längeren Zeitraum beobachten. Wie Klaus Robatsch vom Kuratorium für Verkehrssicherheit, findet auch Brockmann freiwillige Testfahrten empfehlenswert. Senioren kann dann ein angepasstes Verhalten ans Herz gelegt werden. Also keine langen Strecken mehr fahren, eher am Tag oder in der Nacht fahren etwa.
Was ist die große Hoffnung?
"Wearables", die in Echtzeit Körperdaten wie den Blutdruck messen und Alarm schlagen können. Ein tatsächlicher Gamechanger könnte KI sein. Also Sensoren, die im Fahrzeug Augenbewegungen und per Lenkradsensor abgenommene Parameter zu einem Gesamtbild verknüpfen und ein Fahrzeug im Anlassfall auch stoppen können.
Soll man Älteren also den Schein zupfen?
"Gaga", nennt Brockmann die Idee. Das Alter allein sei wenig aussagekräftig. Aber man sollte sich bewusst sein: mit zunehmendem Alter steige das Risiko für einen Unfall.