NIKI GLATTAUER

Warum Suspendierungen in der Schule Nonsens sind

Zahnlos, gar nicht als Bestrafung gedacht: Bildungs-Experte Niki Glattauer über Suspendierungen und warum immer mehr Lehrerinnen mehr wollen. Sind Erziehungscamps die Lösung?

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"An der Front" brodelt es. Zuerst hatten die Rekordzahlen an Suspendierungen für Schlagzeilen gesorgt ("Die verf*ckten Lehrer sollen sterben gehen"); dann dachte Wiens pinker Bildungsstadtrat laut über Verwaltungsstrafen "von bis zu 1000 Euro" für Eltern nach, die bei der Re-Integration ihrer Kinder mit Ignoranz auffallen; wenig später dann die nächste Schlagzeile: Ein 13-jähriger Schüler eines Wiener Realgymnasiums, der in seiner Klasse schwer gemobbt, genötigt und verprügelt worden sein will (sagt er wenigstens), soll eine "Todesliste" mit den Namen von Mitschülern und Lehrerinnen für einen Amok-Lauf geführt haben (behaupten die Eltern von Mitschülern). Die Schule schweigt. Der Bub wurde suspendiert. Der Klasse psychologische Betreuung und ein Gewaltpräventionsworkshop verordnet. Schulalltag in der Stadt.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Suspendieren ist aus der Mottenkiste Regelmäßig bekomme ich Mails, in der verärgerte Kolleginnen ihre Wut ablassen. Auffällig: Immer mehr von ihnen stellen das "Suspendieren" per se in Frage. Im Kampf gegen "Klassensprenger" – gewaltbereite Schüler, die auf Grund ihres Verhaltens kaum noch beschulbar sind -, seien sie "das falsche Mittel". Kollegin Renate F. aus Niederösterreich schreibt mir: "Kinder dürfen uns terrorisieren, aber anstatt dass es ernste Konsequenzen gibt, kriegen sie zwei Wochen schulfrei."

Roswitha Sch., Lehrerin in der Steiermark, schreibt: "Als würde man gar nicht wollen, dass wir die Asozialen in den Klassen sanktionieren. Suspendieren nutzt nichts. Das ist aus der pädagogischen Mottenkiste." Oder Anita K. aus Wien: "(…) und dann noch die Bürokratie. Überall Fristen und Formulare. An einem Freitag darf zum Beispiel nichts passieren." Wie? Was? Als Antwort wartet sie mit einem Beispiel auf:

Ausweglose Situation? Die Schule stellt alle Beteiligten vor immer größere und neue Probleme
Ausweglose Situation? Die Schule stellt alle Beteiligten vor immer größere und neue Probleme
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"Warum helfen Sie der Schlampe?" Februar. Mittelschule im Südwesten Wiens: Sanela*, die trotz ihrer 14 Jahre noch immer in der 2. Klasse sitzt, dreht in einer Pause wieder einmal durch, schlägt zum zweiten Mal in diesem Schuljahr eine Mitschülerin. Die fällt zu Boden, Sanela beginnt nachzutreten. Die Lehrerin als Gangaufsicht greift ein, zerrt das Mädchen weg und wird prompt von ihr verbal attackiert: "Warum helfen Sie der Schlampe? Passen Sie nur auf, sonst fallen Sie auch einmal hin."

Leider war schon Feitag Die Lehrerin schafft es mit der Hilfe einer anderen Schülerin, die Situation zu entschärfen, doch sie fühlt sich bedroht: "… sonst fallen Sie auch einmal hin." Für sie ist das Fass übergelaufen, sie will Sanelas Suspendierung. Es ist Freitag, 13 Uhr. Zwei Unterrichtsstunden hat die Lehrerin noch. Als sie gegen 15 Uhr fertig ist, protokolliert sie den Vorfall. Dafür sitzt sie eine Stunde am Computer im Konferenzzimmer, denn sie muss nicht nur den Sachverhalt schildern, sondern diesem auch eine Begründung anhängen, warum von einer "akuten Weitergefährdung auszugehen" sei.

Montag war zu spät Als sie fertig ist, geht sie in die Direktion. Doch der Schulleiter ist an diesem Tag nicht (mehr?) da. Sekretärin gibt es keine. Also verschiebt die Lehrerin ihren Antrag auf nach dem Wochenende. Und blitzt am Montag um 07.45 bei ihrem Direktor glatt ab: "Jetzt bist du schon so lange dabei und kennst dich immer noch nicht aus", ätzt er (so sagt sie jedenfalls) und liefert die Erklärung gleich nach: Suspendierungen müssten am Tag des Vorfalls gestellt werden, sonst werden sie abgelehnt.

So empfinden sich viele im Schulsystem: Fremdbestimmt.
So empfinden sich viele im Schulsystem: Fremdbestimmt.
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Strafen verboten Eine von vielen bürokratischen Hürden, die freilich auch damit zusammenhängen, dass Suspendierungen – entgegen der landläufigen Meinung – gar nicht als Strafmaßnahme gedacht sind, sondern "nur" als "Brandlöscher" bei Gefahr im Verzug. So heißt es in einem Rundbrief der Bildungsdirektion Salzburg unter "Mitwirkung der Schule an der Erziehung §§ 47, 49 SchUG, § 8 Schulordnung Erziehungsmittel, Ordnungsmaßnahmen, Ausschluss, Suspendierung" expressis verbis: "Die Beantragung einer Suspendierung als Bestrafungs- oder Erziehungsmittel ist unzulässig."

Nur bei "Gefahr im Verzug" Tatsächlich wird die "Gefahr im Verzug" in den Erläuterungen zum § 49 Schulunterrichtsgesetz (SchUG), Abs. 3 klar herausgestrichen: "Bei einer Suspendierung geht es darum, bei Gefahr im Verzug sicherzustellen, dass eine weitere Gefährdung der Mitschüler oder anderer an der Schule tätiger Personen in ihrer körperlichen Sicherheit, Sittlichkeit oder ihres Eigentums hintangehalten wird." Der Antrag habe am selben Tag gestellt und mittels Formulars an die jeweilige Bildungsdirektion gemailt zu werden, wo Juristinnen binnen zweier Tage über Ablehnung oder Entsprechung zu befinden hätten.

Bitte warten Eine mir gut bekannte Lehrerin hat genau damit ein Problem: "Natürlich muss es primär um die Sicherheit der Mitschüler und Lehrer gehen. Aber wir wollen ja helfen, bevor es brennt, nicht erst, wenn es brennt. Da kann man nicht immer auf 'Gefahr im Verzug' warten. Sie erinnert sich an einen Kollegen, den zwei Halbwüchsige in einer 3. Klasse MS offen schikanierten, sich in ihrer Muttersprache (Serbisch) über ihn lustig machten, ihn vor der Klasse verspotteten, seine Unterlagen vom Lehrertisch nahmen und in den Papierkorb warfen, das Fahrrad verstecken, ihm in eindeutigen Gesten drohten, wenn er sie zurechtwies, und ihn in der Pause wie unabsichtlich anrempelten, "immer lächelnd, nie so, dass es gewalttätig wirkte".

Kinder, die auffällig im Verhalten sind: Ist ein "Erziehungscamp" für sie eine (Er)lösung?
Kinder, die auffällig im Verhalten sind: Ist ein "Erziehungscamp" für sie eine (Er)lösung?
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Fall provoziert Bis der Kollege in einer Turnstunde, in der es wieder einmal zu einem Konflikt gekommen war, eine Gefahr-im-Verzug-Situation absichtlich herbeigeführt habe, indem er sich nach einer eigentlich harmlosen Berührung vor den Augen der übrigen Klasse und eines zweiten Lehrers spektakulär habe fallen lassen – nur um die Rechtfertigung für eine Suspendierung zu haben … "Alle haben wir ihm auf die Schulter geklopft, aber es war ein Schuss ins Knie."

Die Suspendierten wurden zu "Helden" Denn nachdem die beiden Suspendierten vormittags SMS mit Selfies in die Klassen schickten, in denen sie demonstrierten, wie gut es ihnen beim schulfreien Herumstreunen in der Stadt erging, erlangten sie, kaum zurück, bei nicht wenigen ihrer Mitschüler "Heldenstatus" und begannen den Lehrer, der ihnen die Suspendierungen eingebrockt hatte, unter viel Beifall wieder zur Zielscheibe zu machen. Die Lehrerin, die mir den Fall schilderte: "Am Schluss war es der Lehrer, der am Jahresende ging, obwohl es dann schon eine 4. Klasse war. Aber noch ein Jahr hätte er nicht durchgehalten."

Hotspot Wien Voriges Jahr wurden so viele Schüler suspendiert wie noch nie, seit es in Österreich Schulen gibt. 1900 mal war das der Fall, allein in Wien wurden 664 Schüler 814 mal suspendiert. 92 Prozent der Fälle betrafen den Pflichtschulbereich, davon knapp 20 Prozent Wiens Volksschulen, also Sechs- bis Zehnjährige, immerhin 13 Prozent Wiens Sonderschulen. Was die Zahl 814 auch zeigt: Es gibt Wiederholungstäter. "Rekordhalter" 2023 waren drei Schüler, die je fünfmal, und vier Schüler, die je viermal suspendiert werden mussten.

Dauergast beim Direx Wie so etwas in der Praxis aussieht, kann man googeln, wenn man den Namen Markus Ratz eingibt. Der Direktor der Sportmittelschule Wien-Favoriten, der größten in Wien, schilderte dem "Standard" den Fall eines 14-Jährigen, Capo einer Schul-Gang und nach Supermarktdiebstählen schon Dauergast in der "Timeout"-Gruppe des Direktors, der eines Tages aus vermeintlich heiterem Himmel sein Knie in den Oberschenkel eines Mitschülers rammte – Suspendierung.

Du Hurensohn! "Eine Woche später kam der Bub wieder zurück in den Unterricht. Als ihn ein Lehrer auf dem Gang aufforderte, in die Klasse zu gehen, baute er sich vor diesem auf: 'Was willst du, Hurensohn?' Der Lehrer fühlte sich bedroht. Zweite Suspendierung.

Die Schule stellt Kinder und Jugendliche, ihre Eltern und die Lehrerschaft vor immer größere und immer neue Probleme
Die Schule stellt Kinder und Jugendliche, ihre Eltern und die Lehrerschaft vor immer größere und immer neue Probleme
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Vom bösen Wolf zum braven Lämmchen Was dieser Fall zeigt: Die von manchen als "Super-Lösung" gehypte "Timeout"-Klasse ist eine stumpfe Waffe. Eine MS-Direktorin aus Wien, die mir immer wieder schreibt, mit viel Sarkasmus: "Da sitzen dann vier, fünf solche Systemsprenger unter Aufsicht einer Lehrkraft, die ich nicht habe, in einem eigenen Raum, den es nicht gibt, und werden durch die salbungsvollen Worte einer Sozialarbeiterin, die alle 14 Tage für eineinhalb Stunden kommt, auf wundersame Weise zu braven Lämmchen? Dass ich nicht lache."

Ab ins Internat Für ähnlich praxisfremd halten viele die Forderung nach mehr Support durch "multiprofessionelle Teams". Eine Leserin postet: "Es ist ein grundlegender Irrtum, dass man gewalttätigen Schülern mit multiprofessionellen Teams groß helfen kann. Wie soll das gehen? Mit gut zureden? Und außerhalb der Schule bleiben sie dann in der privaten, toxischen Umgebung? Meiner Meinung nach müsste man sie auch privat in ein anderes Umfeld bringen, z.B. in ein Internat."

Oder auf den Bauernhof Meint, nur in anderen Worten, auch der oben zitierte Schuldirektor aus Favoriten: Die Schüler müssten, sagt er, "raus aus ihrer toxischen Peer Group. Kommen sie nicht aus diesem Rad heraus, ist die Alternative zwangsläufig die Josefstadt" (gemeint ist Haft, Anm.). Die Frage, was in seinen Augen helfen würde, beantwortete er lapidar: "Ein paar Monate auf dem Bauernhof."

Oder ins Erhziehungscamp? Doch alles, was nach "Erziehungscamp" riecht, wird in Österreich traditionell abgelehnt.

Ich wage zu behaupten, noch.

In Wien setzt man seit kurzem auf elterliche "Erziehungsverpflichtung". Eltern suspendierter Kinder, gleich welchen Alters, müssen sich einem verpflichtenden Gespräch mit der Schule (Sozialarbeiter / Psychologen) stellen. Schlagen sie dieses Gespräch aus oder fruchtet es nicht, kann die Schule bei der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) eine Gefährdungsmeldung einbringen.

Dann ist das Jugendamt zuständig, "und nicht mehr die Schule", sagt Wiens (Noch-)Bildungsdirektor Heinrich Himmer vor der bevorstehenden Staffelübergabe. Natürlich weiß er aber auch, dass im Jugendamt Personalmangel herrscht und man mit heftigeren Fällen als "schlimmen Schülern" ohnedies schon überlastet ist. Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass der Wiener Bildungsstadtrat laut über Verwaltungsstrafen für "undisziplinierte" Eltern nachdenkt.

In die Ecke getrieben: Gekümmert wird sich viel um die Täter, die Opfer bleiben über
In die Ecke getrieben: Gekümmert wird sich viel um die Täter, die Opfer bleiben über
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Geht’s um die Täter oder die Opfer? Wobei sich eine Grundsatzfrage stellt: Geht es bei allen angedachten Maßnahmen gegen "Klassensprenger" nicht wieder viel zu viel um die Täter? Und zu wenig um die Opfer? Das Mail einer Lehrerin aus Linz zur einer meiner Kolumnen ist symptomatisch: "Es ist die Frage, ob man die Probleme von Problemkindern lösen soll oder lieber die Probleme, die die normalen Schüler mit den Problemkindern haben." Und: "Als langgediente Lehrerin würde ich Zweiteres sagen, also raus aus der Schule mit ihnen. Dann können die Lehrerinnen ihre kostbare Energie wieder für die aufwenden, die lernen wollen, und nicht für die, die es nicht wollen."

Frau Kollegin, ich sehe das wie Sie Und gehe noch einen Gedanken weiter: Kinder, die ihre Klassen "sprengen", sollten ihren Eltern (oder Erziehern) "umgehängt" werden und nicht ihren Lehrerinnen. Die Abmeldung zum "häuslichen Unterricht" darf nicht länger nur eine Option für Eltern sein, es muss auch eine für die Schulen werden. Wie sagten Sie? "Damit die Lehrerinnen ihre kostbare Energie wieder für die aufwenden können, die lernen wollen, und nicht für die, die es nicht wollen."

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010

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