"Operation puschkin"

Wie die Nationalbibliothek ins Visier der "Bücher-Mafia" geriet

Eine Kunstbande stahl sich in ganz Europa 170 Bücher der russischen Schriftsteller-Ikone Alexander Puschkin zusammen. Auch die Nationalbibliothek in Wien erhielt eine Warnung.

Fälschung der gestohlenen Erstausgabe von "Gefangen im Kaukasus" von Alexander Puschkin (auf der linken Seite ein Originalporträt des Autors) aus dem Jahr 1822 in der  Universitätsbibliothek in Warschau. Insgesamt wurden aus der Bibliothek in der polnischen Hauptstadt 78 Bücher mit einem Gesamtwert von mehr als einer Million Euro gestohlen
Fälschung der gestohlenen Erstausgabe von "Gefangen im Kaukasus" von Alexander Puschkin (auf der linken Seite ein Originalporträt des Autors) aus dem Jahr 1822 in der Universitätsbibliothek in Warschau. Insgesamt wurden aus der Bibliothek in der polnischen Hauptstadt 78 Bücher mit einem Gesamtwert von mehr als einer Million Euro gestohlen
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Newsflix Redaktion
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Die Warnung des Landeskriminalamtes Wien (LKA) an die Österreichische Nationalbibliothek im Jänner war eindringlich: In zahlreichen Ländern Europas würden derzeit wertvolle russische Bücher aus öffentlichen Bibliotheken gestohlen, der Schaden ginge mittlerweile in die Millionen. Die Gefahr, dass auch die größte Bibliothek des Landes mit ihrer einzigartigen Sammlung ins Visier der Diebe geraten könnte – oder vielleicht bereits geraten war –, war sehr konkret, umgehendes Handeln das Gebot der Stunde.

Strenge Sicherheitsmaßnahmen Unmittelbar darauf wurden von der Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit dem LKA strenge Sicherheitsbestimmungen umgesetzt, um die wertvollen Bestände bestmöglich zu schützen. Gleichzeitig wurde überprüft, ob man eventuell bereits Opfer der Diebesbande geworden ist und es einfach nur noch nicht gemerkt hat (was offenbar nicht der Fall ist).

Neun Verdächtige festgenommen Vor wenigen Tagen nun eine erste, vorsichtige Entwarnung: Ein europäisches Ermittlerteam habe insgesamt neun Menschen festgenommen und mehr als 150 Bücher sichergestellt, ließ die europäische Polizeibehörde Europol verlauten. Ob die entdeckten Bücher alle aus den Diebestouren durch Europas Bibliotheken stammen und ob mit den Festnahmen der Spuk nun wirklich ein Ende hat, ist aber noch nicht geklärt, die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang. Doch die entscheidende Frage lautet: Wer lässt klassische russische Literatur in Form von historischen Büchern stehlen? Und weshalb?

Internationaler Kunstkrimi Wer genauer hinschaut, kommt einem Kunstkrimi auf die Spur, wie es ihn in dieser Form wohl noch nicht gegeben hat. Einer offenbar geplanten Aktion, die seit mittlerweile mehr als zwei Jahren läuft, deren Ursprung wahrscheinlich in Russland liegt und die einer der zahlreichen Nebenaspekte von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine zu sein scheint. Newsflix hat nachgeforscht.

Im Visier der dreisten Bücherdiebe: Die Österreichische Nationalbibliothek
Im Visier der dreisten Bücherdiebe: Die Österreichische Nationalbibliothek
Österreichische Nationalbibliothek

Die wichtigsten Fragen und Antworten zur "Operation Puschkin":

Worum geht es eigentlich?
Um eine Serie von Diebstählen historischer russischer Bücher, vornehmlich von Alexander Puschkin, aber auch von anderen klassischen russischen Autoren wie Nikolai Gogol oder Michail Lermontow. Die Diebstahlsserie begann im Frühjahr 2022, kurz nach Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine. Zunächst wurden Bibliotheken im Baltikum und in Polen Opfer der Diebe, später Bibliotheken in Paris, Lyon, Genf, Berlin und München. Insgesamt wurden zwischen Frühjahr 2022 und heute laut Europol etwa 170 Bücher mit einem Gesamtwert von rund 2,5 Millionen Euro gestohlen.

Wurden in Wien auch Bücher gestohlen?
Laut eigenen Angaben beherbergt die Österreichische Nationalbibliothek etwa 11.000 Bände, die theoretisch ins Beuteschema der Diebe fallen würden. Nach der Warnung durch das Landeskriminalamt im Jänner 2024 fanden Stichkontrollen in der gesamten betreffenden Sammlung statt, bei denen festgestellt wurde, dass es in Wien bislang offensichtlich zu keinen Diebstählen gekommen ist.

Wie sind die Diebe vorgegangen?
Sie haben sich meistens als Forscher ausgegeben, die zu diversen Aspekten in den Werken Puschkins arbeiteten und dafür in Bücher aus Puschkins Zeit Einblick nehmen müssten. Diese Bücher haben sie dann während ihrer "Studien" ausführlich fotografiert, vorgeblich, um die Arbeit daheim fortsetzen zu können. Doch in Wahrheit wurden anhand der Fotos täuschend echte Kopien der Bücher angefertigt, die teilweise sogar die Stockflecken auf den Seiten oder am Buchschnitt imitierten. Bei einem weiteren Termin wurden dann die Originalbücher aus ihren Einbänden herausgetrennt und die Kopien eingeklebt.

War das die einzige Diebstahlsmasche?
Nein, in manchen Fällen wurden Bücher auch einfach aus der Bibliothek herausgeschmuggelt, etwa in falschen Gipsverbänden. Und einige Male wurde offenbar nachts in die Bibliothek eingebrochen, wenn die Diebe sicher waren, dass die von ihnen gewünschten Bücher nicht im Archiv verwahrt, sondern zur Ansicht herausgelegt wurden.

Weshalb wurden vor allem Bücher von Alexander Puschkin gestohlen?
Er gilt als russischer Nationaldichter, vergleichbar etwa mit dem Stellenwert von Shakespeare in England oder Goethe in Deutschland. Puschkins singuläre Leistung war es, dass er die russische Sprache in der Literatur fix verankert hat. Zuvor wurde russische Literatur meist auf Französisch verfasst, da das die Sprache der russischen Oberschicht gewesen ist. Erst mit Napoleons Eroberungsfeldzug entwickelte sich ein neues russisches Selbstverständnis, das sich auch in der Literatur durchsetzte und für das Puschkin die Grundlagen schuf. Er etablierte einen erzählerischen Stil, der Drama, Romantik und Satire mischte und seither untrennbar mit der russischen Literatur verbunden ist. Sämtliche Herrscher, von den Zaren über die Sowjetführer bis zu Wladimir Putin, verehrten Puschkin. Zahlreiche seiner Werke, etwa "Eugen Onegin", "Pique Dame" oder "Boris Godunov" wurden auch in Form von Opern vertont.

Kopie eines Buches aus dem Jahr 1813, das aus der Warschauer Universitätsbibliothek gestohlen wurde. SOgar die Stockflecken auf den Seiten wurden von den Dieben kopiert
Kopie eines Buches aus dem Jahr 1813, das aus der Warschauer Universitätsbibliothek gestohlen wurde. SOgar die Stockflecken auf den Seiten wurden von den Dieben kopiert
WOJTEK RADWANSKI / AFP / picturedesk.com

Warum sind seine Bücher so wertvoll?
Puschkin starb relativ jung, und zwar 1837 im Alter von 37 Jahren an den Folgen einer Verletzung, die er bei einem Duell erlitten hatte. Und da Bücher seinerzeit nur in recht kleinen Auflagen gedruckt wurden, sind nur mehr verhältnismäßig wenige Bücher aus jenen Jahren erhalten, in denen Puschkin lebte. Dazu kommt: Er war auch Herausgeber eines literarischen Journals in Buchform und viele Bände dieses Journals, die noch nicht verkauft waren, wurden nach seinem plötzlichen Tod aus seinem Haus getragen. Das heißt: Puschkin selbst hat diese Bücher vermutlich einmal in der Hand gehabt. Für Verehrer erhöht das den Wert der Bücher nochmals.

Wie viel sind solche Puschkin-Originale heute wert?
Ein Buch, das noch zu Lebzeiten des Dichters verlegt worden ist, bringt auf jeden Fall mehrere zehntausend Euro. Acht besonders seltene Ausgaben, die aus der französischen Nationalbibliothek in Paris entwendet worden sind, werden auf einen Gesamtwert von 450.000 bis 650.000 Euro geschätzt. Und eine Erstausgabe von "Eugen Onegin" wurde 2019 bei "Christie's" in London für umgerechnet etwa 550.000 Euro versteigert.

Weshalb finden sich so viele seiner Bücher in westlichem Besitz?
Viele Bibliotheken in Westeuropa betreiben seit Jahrhunderten eine Sammeltätigkeit, das gehört zu ihren Aufgaben. Auch war der Kulturaustausch vor allem zwischen Frankreich und Russland über Jahrhunderte sehr groß. Dazu kommt, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele Kunst- und Kulturgegenstände aus der Sowjetunion gegen Waren und Devisen den Besitzer wechselten. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts begannen dann viele zu Geld gekommene Russen, "ihre" Kultur zurückzuholen und setzten dafür teils erhebliche Summen ein. 2018 wurde etwa eine der größten Privatsammlungen russischer Bücher im Westen vom Auktionshaus "Christie's" um insgesamt mehr als 2,2 Millionen Dollar versteigert.

Historische Darstellung des Duells zwischen Alexander Puschkin und seinem Schwager Georges d'Anthès im Jahr 1837. Der Dichter erlitt dabei einen Bauchschuss und starb zwei Tage später
Historische Darstellung des Duells zwischen Alexander Puschkin und seinem Schwager Georges d'Anthès im Jahr 1837. Der Dichter erlitt dabei einen Bauchschuss und starb zwei Tage später
Roger Viollet / picturedesk.com

Gibt es in Russland so viele Bücherfreunde?
Es gibt vor allem einen stetig erstarkenden Nationalismus, und Gegenstände wie etwa Puschkin-Erstausgaben werden in gewissen Kreisen als Trophäen gesehen, die es "heimzuholen" gilt. Aber natürlich sind die Bücher auch wertvolle Objekte, für die sich teils atemberaubende Summen erzielen lassen und die mit verhältnismäßig geringem Aufwand und ohne Gefahr gestohlen werden konnten.

Weshalb wurden nur Bibliotheken bestohlen?
Weil diese kaum gesichert und so gut wie nicht bewacht werden, anders etwa als Museen. Wie man gesehen hat, sind viele der Diebstähle nach Wochen oder, wie etwa im Fall der Universitätsbibliothek in Warschau, nach Monaten überhaupt erst entdeckt worden. In Warschau blieben die Diebstähle zehn Monate lang unentdeckt, ehe man feststellen musste, dass insgesamt 78 Bücher mit einem geschätzten Gesamtwert von etwa einer Million Euro verschwunden waren.

Was hat der Krieg gegen die Ukraine mit dem Beginn der Diebstahlsserie zu tun?
Es könnte sich natürlich auch um einen reinen Zufall handeln, dass die Diebstähle just wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine losgegangen sind. Genaue Erkenntnisse dazu gibt es bisher nicht. Es wäre aber auch gut denkbar, dass es sich dabei um ein – mehr oder weniger – subtiles Signal Moskaus handelt. Denn Puschkin wird in Russland wie auch in der Ukraine als Symbol für den brutalen russischen Imperialismus gesehen. Nicht ohne Grund errichteten etwa russische Truppen in der besetzten ukrainischen Stadt Cherson große Plakate, auf denen ein Porträt Puschkins abgebildet war sowie der Slogan "Cherson – Eine Stadt mit russischer Geschichte". Entsprechend verhasst ist der Autor auch in der Ukraine sowie in vielen anderen Ländern Osteuropas.

Bibliotheque Nationale de France in Paris: Alleine hier wurden insgesamt acht bedeutsame Puschkin-Ausgaben mit einem Gesamtwert von 450.000 bis 650.000 Euro gestohlen
Bibliotheque Nationale de France in Paris: Alleine hier wurden insgesamt acht bedeutsame Puschkin-Ausgaben mit einem Gesamtwert von 450.000 bis 650.000 Euro gestohlen
STEFANO RELLANDINI / AFP / picturedesk.com

Könnte Putin persönlich die Diebstähle beauftragt haben?
Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Aber dass hier offensichtlich Symbole russischer Macht und Kultur dem verhassten Westen entrissen werden, kann dem neuen Zaren im Kreml nur gefallen.

Sind die gestohlenen Bücher alle nach Russland gebracht worden?
Das kann man noch nicht mit Sicherheit sagen. Von Europol wurden etwa 150 Bücher beschlagnahmt, ob es sich dabei (auch) um Bücher handelt, die bei der "Operation Puschkin" gestohlen worden sind (insgesamt etwa 170), muss erst überprüft werden. Sicher scheint jedenfalls, dass einige Bücher bereits in Moskau und St. Petersburg über Auktionshäuser versteigert worden sind, eines laut dem polnischen Russland-Experten Hieronim Grala von der Universität Warschau vom Auktionshaus "Litfond" um 119.000 Euro. Grala in der deutschen "Bild": "Es erscheint unwahrscheinlich, dass die gestohlenen Bücher während der Sanktionen gegen Russland ohne die Unterstützung offizieller Strukturen so schnell nach Moskau gebracht und auf dem lokalen Markt angeboten werden konnten."

Besteht eine Chance für die Bibliotheken, die Bücher, die bereits in Russland sind, zurück zu bekommen?
Nein, das gilt als ausgeschlossen. Selbst wenn Bücher nicht bereits versteigert worden sind, werden diese allenfalls vom russischen Staat einbehalten, da Russland diesbezügliche internationale Abkommen nicht respektiert. Experte Hieronim Grala: "Die Russische Förderation gibt in der Regel kein auf ihrem Territorium gefundenes Raubgut zurück."

Wer sind die jetzt festgenommenen Täter?
Es wurden bei mehreren Ermittlungserfolgen in verschiedenen Ländern insgesamt neun Männer festgenommen, alle waren laut Europol Georgier. Zuvor war in Estland bereits ein weiterer Georgier wegen Bücherdiebstahls festgenommen und mittlerweile auch bereits verurteilt worden. Er erhielt zwei Jahre Haft und wird danach aus Estland ausgewiesen.

Kriegstreiber und Puschkin-Bewunderer: Russlands Präsident Wladimir Putin bei eine Selfie auf dem Roten Platz in Moskau
Kriegstreiber und Puschkin-Bewunderer: Russlands Präsident Wladimir Putin bei eine Selfie auf dem Roten Platz in Moskau
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Wird man die Auftraggeber der Diebstähle jemals finden?
Man weiß noch nicht einmal mit Sicherheit, ob es Auftraggeber hinter den eigentlichen Tätern gab. Und ob das jemals herauskommen wird, ist mehr als fraglich. Zumal die nun Festgenommenen keine langjährigen Haftstrafen zu erwarten haben, sie haben bei ihren Diebeszügen keine Gewalt angewendet, es wurde niemand verletzt, der entstandene Schaden ist verhältnismäßig gering (im Vergleich mit vielen anderen Verbrechen, die auf europäischer Ebene tagtäglich geschehen). Der symbolische Wert der Diebstähle für Russland ist hingegen nicht zu unterschätzen.

Ist der Spuk jetzt vorbei?
Auch das kann man nicht mit Sicherheit sagen. Es ist unklar, ob alle Täter erwischt worden sind, man weiß noch nicht einmal, ob bereits alle Diebstähle entdeckt wurden. Für Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen heißt das wohl, dass diese in Zukunft noch besser auf ihre Kunstwerke aufpassen müssen, als sie es bisher getan haben.

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