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Amoklauf in Graz: Wie können wir Schulen sicher machen, Herr Direktor?

Christian Klar ist Direktor einer Brennpunkt-Mittelschule in Wien. Er hat regelmäßig mit gewalttätigen Schülern zu tun. Was er von Sicherheitsschleusen hält, welche Rollen Eltern und soziale Medien spielen, welche Lehren wir aus dem Grazer Amoklauf ziehen sollten.

Christian Klar ist Direktor an einer Wiener
Christian Klar ist Direktor an einer Wiener "Brennpunktschule". Im Newsflix-Interview spricht er über die Lehren aus dem Amoklauf von GrazHelmut Graf
Martin Kubesch
Akt. 12.06.2025 15:01 Uhr

"Letztlich gibt es immer ein Restrisiko im Leben …"

Christian Klar ist ein Freund deutlicher Worte, auch wenn sie auf den ersten Blick verstörend erscheinen mögen. Doch der Direktor einer Brennpunkt-Mittelschule in Wien-Floridsdorf weiß, worauf er hinaus will – und ihn kann nichts so rasch erschüttern. Dafür hat er schon zu viel erlebt in 37 Jahren im Schuldienst. Seine Erfahrungen hat er mittlerweile auch aufgeschrieben: Sein Buch "Was ist los in unseren Schulen" erschien vergangenen Sommer.

"Nur eine Frage der Zeit" Auch der Amoklauf von Graz, bei dem ein 21-Jähriger neun ehemalige Schulkameraden und eine Lehrerin tötete, ist für ihn – bei allem Schrecken – nur eine Frage der Zeit gewesen: "Letztlich erreichen alle derartigen Entwicklungen auch Österreich", vergleicht der Direktor das Geschehene mit der langen, traurigen Historie derartiger Tragödien in den USA.

Wie sich derartige Taten künftig dennoch verhindern – oder zumindest erschweren – ließen, wie häufig er es mit gewalttätigen Schülern zu tun bekommt, was bei der Kindererziehung und der Lehrerausbildung in Österreich schief läuft und warum an unseren Schulen ohne Social Media manches einfacher wäre – Schuldirektor und Buchautor Christian Klar in Interview:

Improvisierte Gedenkstätte am BORG Dreierschützengasse in Graz. Christian Klar: "Ich dachte zunächst: Das ist ein islamistischer Anschlag"
Improvisierte Gedenkstätte am BORG Dreierschützengasse in Graz. Christian Klar: "Ich dachte zunächst: Das ist ein islamistischer Anschlag"
GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von dem Amoklauf in Graz gehört haben?
Das ist ein islamistischer Anschlag – das war mein erster Gedanke, muss ich ehrlich zugeben.

Inzwischen sind einige Fakten über den mutmaßlichen Täter bekannt, bei dem es sich um einen 21-jährigen Österreicher gehandelt hat. Überrascht Sie das?
So wie die meisten, bekomme ich jetzt irgendwelche Informationen und Gerüchte zu hören, wer er war oder was Schülerinnen angeblich über ihn gedacht haben. Aber das alles kann man nicht verifizieren, und von den öffentlichen Stellen kommt dazu bisher sehr wenig. Daher möchte ich mich zurückhalten. Denn am Ende ist es ganz egal, wer das war. Grundsätzlich ist es erschütternd, dass diese Art von Verbrechen in Österreich angekommen ist.

Wie ließe sich solch ein Amoklauf an einer Schule verhindern?
Lässt es sich verhindern? Ich glaube, man kann Vorkehrungen treffen und pädagogisch arbeiten. Aber letztlich kann man mit allen denkbaren Sicherheitsmaßnahmen einen Autounfall nicht verhindern. Man kann das Risiko minimieren, etwa durch vorsichtiges Fahren, aber man kann es nicht verhindern. Und das gilt auch für Ereignisse wie einen Amoklauf oder einen Terroranschlag. Letztlich gibt es immer ein Restrisiko im Leben, dass man es verliert.

Welche Maßnahmen würden die Gefahr an den Schulen zumindest einschränken? Sicherheitsschleusen wie am Flughafen? Security-Mitarbeiter?
Natürlich wäre das schön, wenn es das gäbe, es würde das Sicherheitsgefühl erhöhen. Aber amerikanische Schulen haben diese Sicherheitseinrichtungen zum Teil bereits und trotzdem gibt es immer wieder Amokläufe. Und ich halte es gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten finanziell und personell für eher unrealistisch. Aber ich denke, dass es noch andere Schrauben gäbe, an denen sich drehen ließe.

In vielen US-Schulen bereits Standard: Security-Checks wie am Flughafen. "Trotzdem kommt es immer wieder zu Amokläufen"
In vielen US-Schulen bereits Standard: Security-Checks wie am Flughafen. "Trotzdem kommt es immer wieder zu Amokläufen"
Getty Images

Welche wären das?
Verschließbare Türen mit Gegensprechanlage etwa, dass nicht jeder automatisch reinkommt. Andererseits, wenn ein ehemaliger Schüler kommt und sagt: "Hallo, ich möchte meinen Lehrer besuchen", dann wird man dem wahrscheinlich die Tür aufmachen und dann hilft weder Security noch Sicherheitsschleuse. In diesem Fall hätte das beides wohl nicht geholfen. Aber natürlich wäre es ein Signal. Oder wenn man Taschen kontrollieren und die Spinde von Schülern nach Waffen durchsuchen dürfte. Das wären Maßnahmen, die das Sicherheitsgefühl erhöhen und die Wahrscheinlichkeit eines Amoklaufs verringern würden. Aber ganz verhindern wird nicht gehen.

Haben Sie erwartet, dass diese Form der Gewalt nach Österreich kommt?
Es war nur eine Frage der Zeit. Man sagt ja oft, alles, was in Amerika passiert, kommt 20 Jahre später auch zu uns. Letztlich erreichen solche Entwicklungen auch Österreich.

Wie häufig machen Sie als Schulleiter Erfahrungen mit aggressiven oder gewalttätigen Schülern?
Täglich, ob es jetzt das Verherrlichen von Waffen oder Terror ist oder von Egoshootern, Gewaltvideos oder was auch immer, das ist unser tägliches Brot. Das ist der Einfluss, den die Kinder und Jugendlichen aus den sozialen Medien haben. Das kann man nicht mit den Winnetou-Filmen aus meiner Jugend vergleichen. Jetzt wird in Filmen quasi sekündlich brutal getötet.

Wie geht man damit als Lehrkraft um?
Wir versuchen auf die Themen einzugehen, lebens- und charakterbildend zu arbeiten. Nicht immer, aber oft erfolgreich. Aber ich würde mir wünschen, dass das mehr in den Mittelpunkt gestellt wird und man diese Kompetenz den Schulen übergibt.

Was ist damit gemeint? Sind nicht alle Eltern damit einverstanden?
Es kommen oft Eltern und sagen zu uns, bringt den Kindern Mathematik, Deutsch und Englisch bei, erziehen tue ich mein Kind selbst. Aber letztlich geht es da um Grundwerte, um Unterrichtsprinzipien wie Friedenserziehung, die sollten einen hohen Stellenwert haben. Das muss uns bewusst sein, weil viele Kinder im Elternhaus oder in ihrer Umgebung eher andere Dinge lernen. Die wurden schlicht falsch erzogen, im Sinne von "Gewalt ist gut" und dergleichen.

"Viele Kinder lernen im Elternhaus oder in ihrer Umgebung eher andere Dinge, im Sinne von 'Gewalt ist gut' und dergleichen"
"Viele Kinder lernen im Elternhaus oder in ihrer Umgebung eher andere Dinge, im Sinne von 'Gewalt ist gut' und dergleichen"
Getty Images

Erkennt man das Aggressionspotenzial von Schülern, auch wenn sie dieses nicht nach außen tragen?
Nicht immer, aber meistens schon. Man erkennt schon, wenn der Schüler oder die Schülerin angespannt ist, etwa sich beherrschen muss, um nicht zu schimpfen. Wobei, dann haben wir eigentlich schon einen großen Schritt gemacht. Denn diese Frustrationstoleranz, diese Selbstkontrolle ist etwas, was viele unserer Kinder eben nicht haben.

Wie geht man damit um?
Grundsätzlich sollte der Umgang mit den Schülern und Schülerinnen immer wertschätzend, aber auch konsequent sein. Alles Weitere ist situationsabhängig. Ich habe manchmal Kinder da, die sich gegenseitig verprügelt haben und die so auf 180 sind, dass ich sie zunächst einmal ein paar Minuten sitzen und runterkommen lasse, ehe ich mit ihnen spreche. Das muss man im Gefühl haben – wie reagiert man jetzt so, dass die Botschaft, die man senden will, ankommt?

Gibt es diesbezüglich Schulungen für Lehrer?
Meines Wissens nicht. Man lernt, wie man den Stoff unterrichtet, wie man verschiedene Settings macht, Gruppenarbeit, Sesselkreis oder sonst irgendwas. Aber wie man mit disziplinären Problemen umgeht, wie man sich in der Klasse durchsetzt, wie man reagiert, wenn ein Schüler aggressiv wird gegen Mitschüler oder die Lehrperson, lernt man nicht. Also mir wäre jedenfalls nicht bekannt, dass das Teil der Lehrerausbildung ist. Dabei wäre das ein wichtiger Punkt.

Welches ist die wichtigste Grundvoraussetzung für den Lehrer-Job?
Wenn jemand nicht mit Kindern umgehen kann, dann hilft auch die beste Lehrerausbildung nicht. Das hat viel mit Empathie, mit Gefühl, mit der Fähigkeit, Menschen zu führen, zu tun, die Lehrer mitbringen müssen. Ein guter Mathematiker zu sein hilft in einer Volks - oder Mittelschule wenig. Man muss ein guter Pädagoge sein, der halt auch Mathe gut erklären kann.

Ist Mobbing unter Schülern in den letzten Jahren schlimmer geworden?
Ganz schwer zu sagen. Der Begriff Mobbing taucht heute nahezu täglich auf, es ist ein Modewort geworden. Als ich in die Schule gegangen bin, wurde immer irgendwer gehänselt, manchmal haben alle mich gehänselt, aber das Wort Mobbing haben wir nicht gekannt. Heute ist praktisch alles Mobbing.

"Natürlich wäre eine eigene Schul-Security schön. Es würde das Sicherheitsgefühl erhöhen"
"Natürlich wäre eine eigene Schul-Security schön. Es würde das Sicherheitsgefühl erhöhen"
JOE RAEDLE / AFP Getty / picturedesk.com

Wie stellt sich das in der Praxis dar?
Unlängst kommt eine Mutter mit ihrem Kind und sagt: "Mein Sohn wurde gestern so wahnsinnig gemobbt, von dem und dem und dem und dem.“ Letztlich stellt sich heraus, dass er allen anderen Kindern die Bleistifte zerbrochen hat und die haben darauf reagiert. Das hat nichts mit Mobbing zu tun. Aber es gibt natürlich jene Form von Mobbing, die man ernst nehmen und wo man genau hinschauen muss.

Werden die Lehrer auf dieses Problem vorbereitet? Gibt es Schulungen?
Es gibt Schulungen für alles, ganz tolle Fortbildungen. Aber mit vielen Fortbildungen sind gerade erfahrene Lehrer nicht so glücklich, weil sie sehr theoretisch sind. Vor allem gleicht eine Situation nie der anderen. Das theoretische Rüstzeug ist schon gut, aber letztlich muss man ein Gefühl dafür haben, wie man wo reingeht und ein Problem löst.

Wo sehen Sie die Politik nach Graz jetzt ganz besonders gefordert?
Ganz egal, was letztlich der Hintergrund dieses Amoklaufs gewesen ist, er hat gezeigt, wie schnell jemand gewaltbereit werden kann. Die Politik ist deshalb gefordert, weil das Geschehene die Notwendigkeit von Gewaltprävention, von Haltungsarbeit und Lebensschule, aber auch von klaren Maßnahmen gegen solche Gewalttäter in den Fokus rückt. Und ich würde das keinesfalls abgekoppelt sehen von den vielen Messerangriffen, Messervorfällen, Pistolen, die in die Schulen mitgebracht werden, von den Faustkämpfen oder Schlägereien. Es hängt alles zusammen.

Wie häufig finden Sie Waffen bei Ihren Schülern?
Es kommt immer wieder vor. Da gibt es dann Antworten wie "Ich wollte es eh nicht in der Schule verwenden, aber ich brauch's dann nachher" oder ähnliches. Eines Tages kommt eine Lehrerin zu mir aus einer Klasse, wo viele unbegleitete minderjährige Afghanen sind, und sagt: "Die Burschen haben jetzt gerade zu mir gesagt, wir respektieren die Regeln vom Direktor, weil wir mögen ihn. Wir bringen jetzt keine Messer mehr mit in die Schule. Aber wir müssen sie holen, bevor wir in den Park gehen, sonst sind wir wehrlos."

Muss sich Österreich nach diesem Amoklauf drauf gefasst machen, dass bei uns jetzt Zustände wie in Amerika kommen?
Ich hoffe nicht. Und die Angst davor ist, glaube ich, ein schlechter Begleiter. Wir sollten reagieren und wir sollten nachdenken. Der Amoklauf sollte für uns ein Anlass zum Nachdenken sein, auch wenn das den jetzigen Opfern nicht mehr hilft. Aber wir sollten versuchen, künftige Anschläge zu verhindern.

Haben wir an unseren Schulen jetzt bald Zustände wie in Amerika? – "Ich hoffe nicht. Und die Angst davor ist ein schlechter Begleiter"
Haben wir an unseren Schulen jetzt bald Zustände wie in Amerika? – "Ich hoffe nicht. Und die Angst davor ist ein schlechter Begleiter"
PIXSELL / EXPA / picturedesk.com

Der Amokläufer von Graz war, soweit man bis jetzt weiß, ein sehr stiller, verschlossener und schmächtiger junger Mann. Sind die Stillen die eigentlich Gefährlichen und die lauten Krakeeler bloß Maulhelden?
Der Möchtegern-Attentäter vom Westbahnhof, übrigens auch ein kleiner, schmächtiger Bursche, hat seine Videos in der ganzen Klasse gezeigt und ganz laut gesagt, er will Ungläubige umbringen. Es wurde dann in letzter Minute verhindert. Andere unterhalten sich nur mit ihren Freunden und sind in der Öffentlichkeit ganz still. Ich glaube, dass es kein einheitliches Täterprofil gibt, von dem man auf die Gefährlichkeit schließen kann.

Beim Täter von Graz wird angenommen, dass möglicherweise Kränkungen das Motiv für seine Wahnsinnstat gewesen sein könnten. Muss man das Thema von Kränkungen bei Halbwüchsigen besonders ernst nehmen?
Nein. Jeder Zweite, mit dem man über seine Schulzeit spricht, erzählt von einer Gruppe oder von einem Lehrer, von denen er schlecht behandelt worden ist. Aber niemand geht deshalb her, kauft eine Waffe und erschießt Kinder, die damit gar nichts zu tun haben. Da muss schon was anderes schief laufen, damit eine Kränkung dazu führt, dass man ein Amokläufer oder Attentäter wird. Ich glaube nicht, dass wir jetzt daran arbeiten können, dass niemand mehr im Leben gekränkt wird. Wir kränken dauernd Menschen und wir werden dauernd gekränkt. Woran wir arbeiten müssen ist, wie man Kränkungen verarbeiten kann.

Wie sehr ist Social Media für die aktuellen Probleme in den Schulen verantwortlich?
Ich glaube nicht, dass wir die Probleme nicht hätten, aber es wäre alles viel leichter, wenn es Social Media nicht gäbe. Ein beträchtlicher Teil der Konflikte, die ich lösen muss, hat mit Social Media zu tun. Ob jetzt in einer Klassen-WhatsApp-Gruppe jemand den anderen vor allen beleidigt hat, wer was auf TikTok hochlädt oder was auch immer. Erst heute kam ein Mädchen zu mir und meinte, sie kriege Dick Pics von einem Mitschüler, der bestreitet das natürlich. Mit all dem müsste ich mich nicht beschäftigen, wenn es WhatsApp, TikTok, Insta usw. nicht gäbe. Aber schlimmer ist: Auf allen Plattformen ist es viel leichter, auf jemanden loszugehen, als es ihm ins Gesicht zu sagen.

Gibt es auch Schüler, die sich von Social Media fern halten?
Jene, wo die Eltern das Handy abgenommen haben oder die Social Media-Aktivitäten ihrer Kinder kontrollieren. Aber von denen, die die Möglichkeit haben, sind die, die das nicht nützen, absolute Einzelfälle.

Martin Kubesch
Akt. 12.06.2025 15:01 Uhr