Wie ein biederer deutscher Molkereiverband sein Image aufpeppen wollte und dabei in eine gnadenlose Cancel Culture-Debatte geriet. Und welche Lehren Unternehmen, Marketingexperten und Politiker aus der völlig unverhältnismäßigen Diskussion ziehen könnten.
Die Deutsche Milchkontor GmbH (DMK) ist eines der größten Molkereiunternehmen in unserem Nachbarland, mit dem Hauptsitz in der 14.000-Einwohner-Gemeinde Zeven in Niedersachsen. Mit Produkten wie Frühlingsquark (Topfen), Körniger Frischkäse (Cottage Cheese) oder Schmand (Sauerrahm) wird vor allem unter dem Markennamen Milram ein Jahresumsatz von mehr als fünf Milliarden Euro erzielt.
Grundsolide – und so aufregend wie Graukäse. Aber auch meilenweit weg von angesagt oder gar sexy. Lässige Milchmixgetränke oder Frischkäsezubereitungen mit dem Zauberwort "Protein" im Namen – für jüngere Zielgruppen heutzutage essentiell – sucht man etwa vergebens. Das könnte einer der Gründe sein, weshalb der Umsatz des Unternehmens zuletzt um 400 Millionen Euro gesunken ist.
Aber Aufmerksamkeit bei der jüngeren Käufern könne man auch anders bekommen, befand die Milram-Marketingabteilung. Produktverpackungsinnovation statt Produktinnovation lautete das Motto. Und so schickte man drei junge deutsche Künstler los, um die Plastikschalen für insgesamt zehn Schnittkäse-Sorten bunter, moderner und vor allem diverser als bisher zu gestalten. Der Auftrag ging an Josephine Rais, Danii Pollehn und Moritz Adam Schmitt, die durch ihre farbenfrohen Entwürfe zu den Stars der Szene gehören.
Das Ergebnis der optischen "Verjüngungskur" ist seit kurzem im deutschen Handel erhältlich. Und rückte den Branchenprimus binnen weniger Tage ins Zentrum einer politisch aufgeheizten und teils schwer untergriffigen Social Media-Debatte, die schneller hochkochte als Milch auf einer heißen Herdplatte. Denn auf allen zehn neuen Designer-Verpackungen sind neben hellhäutigen auch Menschen mit dunklerer bis ganz dunkler Hautfarbe abgebildet. Und das kam in einigen Teilen der Bevölkerung gar nicht gut an.
Wie Industrie-Schnittkäse um weniger als zwei Euro zum Politikum und Spielball rechter wie linker Krawallmacher wurde, sich in der Folge ein Shitstorm über angeblich "woke" Kühlregale ergoss und die Erregungsmaschine Social Media einmal mehr zeigte, weshalb ihre Gesetzmäßigkeiten nur für Menschen mit gutem Magen zu verdauen sind. Was man über den deutschen "Käse-Streit" wissen muss:
Worum geht es hier?
Um die neuen Verpackungen für insgesamt zehn Industriekäse-Produkte des deutschen Herstellers Milram. Auf diesen sind – in einer sogenannten "Design-Edition" – Illustrationen von fröhlichen Käse-Konsumenten zu sehen.
So weit so gewöhnlich …
Grundsätzlich richtig. Aber alle zehn Illustrationen haben immer mindestens einen Menschen mit dunklerer oder dunkler Hautfarbe, als sie der typische Mitteleuropäer hat, mit im Bild. Und das sorgte binnen kürzester Zeit für einen gewaltigen Shittorm auf Social Media.
Worüber beschweren sich die Menschen?
Sie werfen dem Unternehmen vor, mit seinen Verpackungen seine Konsumenten politisch zu indoktrinieren und einer "woken Kultur" Vorschub zu leisten. Einer der am häufigsten geäußerten Vorwürfe ist jener der "politischen Propaganda" und der Bevormundung.
Seit wann gibt es die neuen Verpackungen eigentlich?
Die ersten wurden offenbar vergangene Woche ausgeliefert, denn über das Wochenende gab es die ersten Statements dazu auf X. So äußerte sich u. a. die AfD-Politikerin Vanessa Behrendt, die für die – laut deutschen Verfassungsschutz "rechtsextremistische" – Partei im Landtag von Niedersachsen sitzt, der Heimat des Milram-Mutterkonzerns DMK. Sie schrieb auf X, dass sie "gerne wieder" Milram-Käse kaufe, sobald das Unternehmen "wieder klar kommt".
Wie ging es weiter?
Auch Figuren wie der österreichische Rechtsextreme und Identitären-Vordenker Martin Sellner heizten die Debatte an und sahen in der Design-Edition "anti-weiße Propaganda". In diesem Fahrwasser wurde die "Käse-Causa" zu einem der am breitesten diskutierten Themen auf X und weiteren Plattformen in den vergangenen Tagen. Aufgeregte User witterten politisches Vordenkertum, einige "ent-wokten" ihren Käse, indem sie die bunten Illustrationen mit Filzstiften durchkritzelten und Fotos davon posteten oder gleich zum Boykott des Käses oder des ganzen Unternehmens aufriefen – "Go woke, go broke" lautet das Motto vieler Social Media-User.
Kritiker der Kampagne sagen, es widerspreche den Gepflogenheiten der letzten Jahre, dunkelhäutige Menschen auf Produkten abzubilden – und führen etwa "Uncle Ben's Reis" oder den Meinl-Mohren als Beispiele für die Abkehr von dieser Praxis an.
Das ist eine Schein-Behauptung, die leicht zu durchschauen ist. Optik und Namensgebung von Uncle Ben's waren explizit darauf ausgelegt, die Assoziation zu einem schwarzen Diener herzustellen. Deshalb wurde die Werbefigur auch 2021 ersatzlos gestrichen und die Marke in Ben's Original umgetauft.
Und Meinl?
Auch der Meinl-Mohr, der optisch stark an einen orientalischen Diener erinnerte, wurde 2021 aus dem Logo und dem öffentlichen Auftritt des Unternehmens entfernt, übrig blieb nur sein Fes. Die auf den Milram-Verpackungen abgebildeten dunkelhäutigen Menschen sind hingegen nicht als sozial untergeordnet dargestellt, sondern nehmen gleichberechtigt und selbstbewusst mit den gezeigten hellhäutigen Menschen am Leben teil.
Was ist mit "woke" eigentlich konkret gemeint?
Der Begriff kommt aus dem Englischen – "to wake" = aufwachen – und bedeutet ursprünglich, gesellschaftlich "wach" oder sensibel gegenüber Ungerechtigkeiten zu sein, besonders im Hinblick auf Rassismus, Diskriminierung und soziale Ungleichheit. Allerdings wird der Begriff heute sehr unterschiedlich verwendet. Positiv für Menschen, die auf soziale Probleme achten und für Gleichberechtigung eintreten. Und abwertend als Vorwurf, jemand sei überempfindlich oder übertreibe es mit politischer Korrektheit.
Und gibt es gar keine Gegenstimmen?
Doch, das Pendel ist auch in die andere Richtung geschwungen. Ebenso rasch formierten sich Fürsprecher, die die Aktion feierten und sich über die teils stark überschießenden Reaktionen aus dem konservativen Lager lustig machten.
Wie ging das Unternehmen mit den teils sehr emotional geführten Diskussionen?
Mit solch einer Reaktion hatte man in Niedersachsen offenbar nicht gerechnet, denn zunächst verfiel man bei Milram in eine Art Schockstarre. Am Montagnachmittag rang man sich schließlich zu einem Statement durch – und erklärte die ganze Debatte zu einem großen Irrtum. Denn eigentlich sei es Milram bei der unpolitisch motivierten Aktion um etwas ganz anderes gegangen.
Nämlich worum genau?
"Die Verpackungen zeigen illustrierte Menschen und stehen für das, was Milram ausmacht: Gemeinschaft und Genuss. Bunt illustriert, vielfältig, modern. Die Gestaltung ist bewusst unpolitisch und spiegelt visuell die Vielfalt unserer Gesellschaft wider – nicht mehr und nicht weniger", so das Unternehmen. Und Versuche, aus den Verpackungen eine politische Botschaft abzuleiten, würden konstruiert wirken und am eigentlichen Anliegen der Aktion vorbeigehen.
Aber was ist jetzt das Anliegen gewesen?
Offenbar zu zeigen, dass DMK, der Milram-Mutterkonzern, ein Unternehmen mit Mitarbeitenden aus über 50 Nationen sei und für Respekt, Vielfalt und ein wertschätzendes Miteinander stehe. Man würde "jede Form von Diskriminierung" verurteilen und sich ansonsten auf das konzentrieren, was wichtig sei: gute Produkte.
Das klingt ein wenig nach Kindsweglegung …
Dieser Eindruck ist vermutlich nicht so falsch. Die erste offizielle Reaktion auf den Shitstorm wirkt, als sei man bei etwas ertappt worden, von dem man selbst weiß, dass es eigentlich nicht zu einem passt.
Das würde aber auch bedeuten, dass man nicht auf so viel Resonanz spekuliert hatte, oder?
Davon ist nicht auszugehen. Derartige "Stunts" passen einfach nicht zu einem dermaßen stockbiederen Unternehmen, wie sich die Mega-Molkerei bislang präsentiert hat.
Weshalb ist eigentlich von einer "ersten Stellungnahme" die Rede?
Weil sich Milram mittlerweile offenbar dazu durchgerungen hat, die ganze Aktion noch radikaler als bisher als unpolitisch motiviert darzustellen. Am Dienstag wurde nämlich mitgeteilt, dass die "Design-Edition" ab September von einer "umfassenden Social Media-Offensive" begleitet würde. Dabei werde man mit "Macro-Influencern (…) und ausgewählten Micro-Influencern" die Designlinie "in Szene setzen". Milram feuerte also eine Salve "Marketing-Buzzwords" ab, die alle negativen Entwicklungen der letzten Tage zudecken sollen.
Ist das denn glaubwürdig?
Das wird sich erst zeigen, wenn die ersten vailden Verkaufszahlen kommen. Für den Kommunikationsberater Stefan Mannes ist der Schuss indes bereits nach hinten losgegangen, wie er in der Wirtschaftswoche erläuterte. Denn natürlich sei der gewählte Weg – nämlich dunkelhäutige Menschen ins Zentrum der Markenkommunikation zu stellen – politisch motiviert gewesen. Und das sei grundsätzlich auch nicht schlecht, wenn man sein Profil schärfen wolle, vor allem bei einer bestimmten, in dem Fall jüngeren Zielgruppe.
Aber?
"Aber dann zu sagen, sie hätten es nicht politisch gemeint, ist die schlechteste aller Reaktionen", so Stefan Mannes. "Sie machen ein politisches Statement – und entwerten es direkt wieder. Am Ende sind Menschen, die sich von der Verpackung angesprochen fühlen, enttäuscht. Ebenso wie diejenigen, die Kritik an der Verpackung geäußert haben. Bei so einer Kampagne muss man sich auf den Gegenwind einstellen. Und ihn aushalten." Das habe Milram offenbar verabsäumt.
Gibt es den Milram-Käse eigentlich auch in Österreich?
Nein, jedenfalls nicht im großem Stil. Molkereiprodukte sind generell nicht dafür gedacht, über weite Strecken transportiert zu werden – die notwendige Kühlkette und der geringe Ertrag machen den Export meist unrentabel. Die Käse-Sorten, die für die Design-Edition ausgewählt worden sind, kosten in deutschen Supermärkten etwa 1,80 Euro pro 150 Gramm, in diesem Preis-Segment wird für gewöhnlich nicht exportiert, sondern meist nur für den lokalen Markt produziert.
Bleiben die Käse-Packungen jetzt eigentlich dauerhaft so?
Nein, die Aktion war immer nur zeitlich befristet geplant und soll im kommenden Oktober auslaufen. Dann kehrt man wieder zum alten Verpackungsdesign zurück, auf dem nur Käse abgebildet ist.
Gibt es Lehren, die man aus dem Käse-Shitstorm ziehen kann?
Am augenfälligsten und für viele Beobachter überraschendsten ist wahrscheinlich die Tatsache, wie breit und heftig der Widerstand gegen die neuen Verpackungs-Designs ausgefallen ist. Denn bei allem Verständnis für überschießende Emotionen – es geht hier um Plastikverpackungen für Billig-Käse. Aber offenbar sind Teile der Bevölkerung bereits so sensibilisiert, dass sie beim geringsten Anlass verbal um sich schlagen – und Plattformen wie X bieten den idealen Nährboden für derartige Stimmungen, um sich hochzuschaukeln.