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Wieso Frauen im Wald Bären weniger fürchten als Männer

Dieser TikTok-Hype klingt witzig, ist es aber nicht. Autorin Valerie Fritsch erklärt, wie sie Männergewalt konkret erlebt hat, und was sich ändern müsste.

Valerie Fritsch ist eine preisgekrönte österreichische Autorin, zuletzt erschien von ihr der Roman "Zitronen"
Valerie Fritsch ist eine preisgekrönte österreichische Autorin, zuletzt erschien von ihr der Roman "Zitronen"
Suhrkamp
Newsflix Redaktion
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Wer Social Media beobachtet, stellt schnell fest: Es gibt derzeit vor allem zwei Themen, die Menschen bewegen. Einmal der fröhliche "Barbaras Rhabarberbar"-Rap. Und die ganz und gar nicht heitere "Bär oder Mann"-Umfrage, die vor allem auf TikTok seit einigen Wochen massiv trendet und die Gemüter hochgehen lässt. Denn Männer kommen dabei erschreckend schlecht weg – selbst beim eigenen Geschlecht. Für unsere Gesellschaft sollte das Ergebnis dieser Befragung ein Alarmzeichen sein. Das müssen Sie dazu wissen:

Worum es in der Umfrage geht
"Wenn du alleine im Wald unterwegs bist, wem würdest du lieber begegnen, einem dir unbekannten Mann oder einem Bären?" Diese simple Frage tauchte seit Wochen in Social Media in allerlei Formen auf, vor allem in TikTok. Es gibt Umfragen, Video-Statements, Kommentare und Diskussionen und das aus gutem Grund. Denn die überwältigende Mehrheit der Frauen ist der Meinung, dass ihnen von einem Bären weniger Gefahr droht als von einem Mann. Viele der Begründungen, die Frauen für ihre Entscheidung anführen, lassen einen frösteln.

Mit welchen Begründungen sich Frauen lieber für eine Bären-Begegnung entscheiden

  • "Ein Bär greift dich im Normalfall nur an, wenn er sich durch dich bedroht fühlt"
  • "Einen Bären kannst du auch verjagen, einen Mann sicher nicht"
  • "Ein Bär sieht mich als Bedrohung, ein Mann als Gelegenheit"
  • Wenn mich ein Bär angreifen würde, würde man mir hinterher glauben"
  • "Niemand würde sagen, dass ich den Bären-Angriff genossen hätte"
  • "Keiner würde mich fragen, welche Kleidung ich bei der Bären-Attacke getragen habe"
  • "Ein Bär würde seine Attacke nicht filmen und das Video hinterher verschicken"
  • "Ein Bär würde nach einer Attacke gejagt und erschossen werden, ein Mann bekommt ein paar Sozialstunden verordnet"
  • "Das Schlimmste bei einem Bärenangriff wäre, dass mich der Bär tötet, bei einem Mann können viel schlimmere Dinge geschehen"

Warum Gewalt für Frauen allgegenwärtig ist
Diese exemplarischen Antworten zeigen bereits, worum es bei dieser Umfrage eigentlich geht: Für eine überwältigende Mehrheit der Frauen in unserer Gesellschaft ist Gewalt eine sehr reale und oft alltägliche Erfahrung. Das beginnt bei unangemessenem und übergriffigem Verhalten, in der direkten Begegnung oder online, geht über verbale, sexuelle oder körperliche Gewalt bis hin zu tätlichen Angriffen auf Leib und Leben.

Am häufigsten erleben Frauen Gewalt in ihrer Familie. Polizeilichen Schätzungen zufolge werden rund 90 Prozent aller Gewalttaten in der Familie und im "sozialen Nahraum" (also zum Beispiel durch Verwandte, Freunde oder Bekannte) verübt. In den allermeisten Fällen, in denen Frauen zu Opfern werden, sind die Täter Männer.

42 Frauen wurden im Jahr 2023 in Österreich ermordet
Aus der Statistik des Bundeskriminalamtes

Über 60 Prozent der ermordeten Frauen kannten den Täter
Im vergangenen Jahr wurden in Österreich 85.374 Gewalttaten zur Anzeige gebracht, das sind um 8,3 Prozent mehr als im Jahr davor. Das geht aus den Zahlen Bundeskriminalamt hervor. Eingeschlossen ist dabei auch Internet-Gewalt (etwa gefährliche Drohung, Belästigung, Kindesmissbrauch oder Erpressung im digitalen Raum), Delikte, die besonders stark im Steigen begriffen sind.

2023 gab es in Österreich insgesamt 72 Morde, davon waren 42 der Opfer Frauen. Bei 27 dieser 42 Frauenmorde gab es einen "Bezug zu Gewalt in der Privatsphäre". Heißt: Die Frauen haben ihre Mörder gekannt, zumeist gab es bereits vorher gewalttätige Übergriffe.

Was das für Frauen bedeutet
Die Schlussfolgerung für viele Frauen daraus zu ziehen ist recht einfach: Einem Mann zu begegnen heißt, Gewalt befürchten zu müssen, in welcher Form auch immer. Und: Die Gesellschaft findet weder Mittel noch Wege, dem etwas entgegenzusetzen, vielleicht fehlt es auch am Willen.

Männer (wollen) missverstehen
Nichts verdeutlicht das besser, als die Reaktionen von Männern auf TikTok, die mit der "Bär oder Mann?"-Frage konfrontiert werden. Während den befragten Frauen und queeren bzw. Trans-Menschen schnell klar ist, worum es geht und auch die Antworten sehr einhellig ausfallen, kommen Männer bei der Antwort oft gehörig ins Straucheln. Von "meinen die Frauen das ernst?" über "wie nett ist der Bär?" bis zum ganz offenen "mich verwirren all diese Antworten von den Frauen" reicht das Spektrum männlicher Reaktionen.

Was wäre dir lieber, wen sollte unsere Tochter im Wald treffen?
Immer öfter stellen Frauen diese Frage auf TikTok den Vätern ihrer Babys

Sind Väter die besseren Männer?
Scheint so. Denn bei ihnen fällt der Groschen schneller. Einige werden von ihren Partnerinnen direkt mit der "Bärenfrage" konfrontiert und dabei gefilmt: "Was wäre dir lieber, wen unsere Tochter im Wald treffen sollte?" Die Antwort kommt manchmal erst nach etwas längerem Überlegen, lautet aber immer: "den Bären".

Intensive Auseinandersetzung mit Gewalt: Die Autorin Valerie Fritsch bei der Präsentation ihres jüngsten Buchs, "Zitronen", im März 2023
Intensive Auseinandersetzung mit Gewalt: Die Autorin Valerie Fritsch bei der Präsentation ihres jüngsten Buchs, "Zitronen", im März 2023
GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

"Die allermeisten Frauen machen unangenehme Erfahrungen mit Männern"

Autorin kann das gut nachvollziehen
Jemand, der sich mit dem Thema Gewalt generell und dem individuellen Gewalt-Potenzial von Männern (auch) auf künstlerische Art auseinandersetzt, ist die österreichische Schriftstellerin Valerie Fritsch. Die Autorin von Romanen wie "Winters Garten" und "Herzklappen von Johnson & Johnson" hat für ihr jüngstes Buch "Zitronen" verschiedene Formen von Gewalt erforscht und analysiert, dafür auch zahlreiche Interviews mit Gewalttätern und Opfern von gewalttätigen Übergriffen geführt.

"Es passiert ganz viel"
Die TikTok-Umfrage hält Valerie Fritsch zwar für nicht wahnsinnig geglückt, da auf diese Weise keine seriöse Debatte geführt werden könne, gleichzeitig sei diese aber Ausdruck eines extrem breiten Unbehagens in weiten Teilen der weiblichen Bevölkerung – und das zu Recht, denn: "Es passiert ganz viel." Und Valerie Fritsch weiter: "Es ist tatsächlich so, dass die allermeisten Frauen unangenehme Erfahrungen mit Männern machen. Das kann ich nicht nur aus meiner jahrelangen Gewalt-Recherche heraus sagen, sondern auch aus meiner persönlichen Erfahrung."

"Ein Fremder leckte plötzlich an meinen Zehen"
Dann erschreckt die Autorin mit zwei Vorfällen, die sie selbst betroffen haben: "Ich bin in einem öffentlichen Autobus gefahren und habe plötzlich etwas an meinem Fuß gespürt. Ein Mann hat begonnen, meine Zehen, die in Sandalen steckten, abzulecken." Nach einer Schrecksekunde habe die Autorin dem Fremden ihr Buch auf den Kopf geschlagen, worauf er schließlich von ihr abgelassen habe.

Ein Mann hat mitten im Autobus begonnen, meine Zehen abzulecken
Bestsellerautorin Valerie Fritsch schildert in besonders ekeliges Erlebnis

Nächtlicher Angriff
Eine zweite, noch gefährlichere Situation habe es gegeben, als sie auf dem nächtlichen Nachhauseweg von einem Fremden angegriffen worden sei: "Er versuchte, mich in einen Hauseingang zu zerren, ich habe mich gewehrt und bin weggelaufen", so Fritsch. "So etwas und noch wesentlich Schlimmeres passiert ganz vielen Frauen, oft gibt es unklare, bedrohliche Situationen, die nicht gut zu benennen sind, aber auch ganz konkrete Übergriffe, das ist sehr weit verbreitet."

Fritsch lässt sich durch die Erlebnisse nicht kleinkriegen
In ihrer Selbständigkeit hat sich die Autorin nicht einschränken lassen: "Ich bin auch weiterhin alleine nachts durch Parks oder in den Wald gegangen und ich habe auch alleine die Welt bereist." Dabei waren Vorsicht und Vernunft ihre wichtigsten Reisebegleiter: "Ein intuitives Bauchgefühl ist in diffusen Unsicherheitssituationen immer ein guter Ratgeber. Und lieber einmal zu schnell und zu oft weggehen, als es geschieht etwas Furchtbares."

Bruder Bär: Frauen haben mehr Vertrauen in Bären als in Männer. Das sollte der gesamten Gesellschaft zu denken geben
Bruder Bär: Frauen haben mehr Vertrauen in Bären als in Männer. Das sollte der gesamten Gesellschaft zu denken geben
Getty Images/iStockphoto

"Es braucht Männer, die dagegen aufstehen" 
Eine Lösung des beklemmenden Problems kann nur von den Männern selbst ausgehen, ist Valerie Fritsch überzeugt: "Ich glaube: Männer müssen andere Männer für deren gewalttätiges und abwertendes Verhalten aktiv ächten und beschämen."

Ob es Männergewalt schon immer gab
"Es ist seit jeher eine Frage von gewachsenen Machtstrukturen, der körperlichen Überlegenheit und der Wertigkeiten von männlich und weiblich" sagt Fritsch. "Historisch gesehen, ist die rechtliche Gleichstellung von Frauen noch recht neu und in vielen Köpfen noch nicht vollständig angekommen."

Was Männer tun müssten
Vertrauensstiftend wären klare Statements von Männern, dass sie herabwürdigendes oder gar gewalttätiges Verhalten gegenüber Frauen nicht tolerieren, sagt Fritsch. "Aktive Solidarität, das generelle Einhalten von Grenzen und ein Verständnis dafür, dass es hier rundum ein ernsthaftes Problem gibt, halte ich für essenziell." Sonst werden auch die nächsten hundert TikTok-Umfragen Ergebnisse liefern, für die sich jeder Mann in Grund und Boden schämen müsste.

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