Niki Glattauer ist tot. "Am Donnerstagvormittag ist er daheim friedlich, entspannt, ohne Ängste und ohne Schmerzen vor unseren Augen eingeschlafen" schreibt sein Bruder Daniel. Persönliche Erinnerungen an drei Monate zwischen Hoffen, Bangen, Tränen und Wut.
Die Beschäftigung mit dem Thema Suizid kann belastend sein. Bitte lesen Sie den Beitrag nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Am Ende des Artikels finden Sie Notrufnummern, unter denen Betroffenen von Suizid-Gedanken geholfen werden kann.
Es ist Dienstag, der 8. Juli, als mein iPhone um 10.32 Uhr "bling" macht. Niki hat mir eine WhatsApp geschrieben. Typisch er.
"Nach kurzer schwerer Krankheit … werde ich am Hausnummer 16. August 2025 um 11.15 sterben." Kein schlechter erster Satz für einen Roman, finde ich. :-)))) Der beste erste Satz eines Romans war ja für mich immer von Alice Sebold: "Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde."
An diesem Tag erfuhr ich, dass Niki sterben wird. Er werde "assistierten Suizid bekommen", schrieb er mir, "das geht auch in Österreich. Hab ich bis jetzt gar nicht gewusst". Er bat mich um ein Treffen und er wünschte sich, dass ich über seine Sichtweise und das Thema begleiteter Suizid schreibe. Ich begehe hier keinen Vertrauensbruch. Alles was ich öffentlich mache, wollte Niki publiziert wissen.
Er nahm bis zuletzt daran Anteil. Niki hat die Geschichten gelesen, die über seinen Tod verfasst wurden. Sie haben ihm gut gefallen. "Du hast das wirklich toll gemacht", schrieb er mir noch am Dienstagabend, "große Freude bei mir und auch bei meinen Kindern". Ein paar Stunden davor war das Interview online gegangen, das Florian Klenk vom Falter und ich mit ihm geführt hatten.
Ein Monat davor. Das Geklirr von OP-Besteck ist zu hören. Menschen in grünen Gewändern huschen auf und und ab, die Gesichter hinter Masken verborgen. Die Leuchte an der Decke strahlt dem Patienten darunter unbarmherzig ins Gesicht.
Niki Glattauer liegt in einem Wiener Krankenhaus am Operationstisch. Ein Routineeingriff, er hat fast acht Monate lang darauf gewartet. Für 10.000 Euro hätte er ihn von jetzt auf gleich haben können.
Der 5. Juni ist ein sonniger Tag, es soll 31 Grad bekommen, am Abend könnte es Gewitter geben. Die Operation ist für 10 Uhr angesetzt. Niki war am Vortag aufgenommen worden. Blutdruck messen, Formulare ausfüllen, wieder Blutdruck messen, Blut abnehmen, erneut Blutdruck messen. Operiert wird nicht einfach so. Oder gar nicht.
Jetzt döst er unter der OP-Leuchte vor sich hin. Die Operationsstelle ist längst rasiert, der Zugang in der Armbeuge für die Verabreichung des Narkosemittels gelegt. Eigentlich könnte es losgehen.
Plötzlich fliegt die Tür auf. Die Anästhesistin stürzt herein. "Abbrechen! Abbrechen", ruft sie. Niki bekommt es aus dem Dämmerschlaf heraus mit. 10 Sekunden vor der Operation ist für ihn nach der Operation. Er wird unverrichteter Dinge aus dem Saal geschoben.
Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Es ist der Beginn einer langen Reise und sie sollte kein gutes Ende nehmen.
Die Blutwerte sind übel, er verlässt das Spital noch am selben Tag. "Richtig angefressen" sei er gewesen, erzählte er mir später. Auf den Eingriff hatte er ein Dreivierteljahr gewartet. Als Holzklasse-Patient bist du in Österreich nie auf der ersten Arche Noah dabei. Das sollte er in der Folge noch zu spüren bekommen.
Ehe er entlassen wurde, tauchte das Ärzteteam in seinem Zimmer auf. Niki saß auf der Bettkante, er hatte schon die Straßenkleidung an und noch immer viel Wut im Bauch. Sie war ihm im Gesicht abzulesen. Den drei Ärzten war die geplatzte OP sichtbar unangenehm. "Wiederholen sie die Bluttests, wir schieben sie sofort ein, wenn sie in Ordnung sind", beruhigten sie. "Es wird schon werden." Aber es wurde nicht.
Im Oktober 2024 war die Tragweite der Erkrankung noch nicht abzusehen. Da bekam Niki Schmerzen im Kreuz und hatte Probleme beim Gehen. Nach ein paar Besuchen bei ein paar Ärzten, ein paar MRT-Terminen und ein paar Röntgenaufnahmen, wusste er: Es ist nicht die Wirbelsäule, wie vermutet, sondern die Hüfte. Die musste raus und eine künstliche rein.
Dafür gibt es in Österreich zwei Optionen: Man ist privat versichert, dann passiert das rucki, zucki. Oder man ist nicht privat versichert, dann reist man auf der Arche Noah nicht Business, sondern Holzklasse und das sehr pomali.
Niki war auf Holzklasse gebucht. Als Lehrer und später Schulddirektor hätte er eine Privatversicherung zu recht guten Konditionen haben können, aber er wollte nicht. Er glaubte an eine solidarische Gesellschaft, in der alle Menschen Beiträge in das Gesundheitswesen abführen, damit dieses Gesundheitswesen dann allen Menschen solidarisch zur Verfügung steht. Das tut es irgendwie, aber irgendwie auch wieder nicht.
Im Privatspital wäre er sehr schnell drangekommen. Weil er nur sozialversichert war, hätte er dafür aber 10.000 Euro auf den Tisch legen müssen. Das Geld hatte er nicht, oder er sah nicht ein, warum er es ausgeben sollte. Es kam auf das Gleiche heraus.
Als Holzklasse-Patient auf der Arche Noah musste er von Oktober 2024 bis Juni 2025 warten, ehe er drangenommen werden sollte. Da die Schmerzen immer schlimmer wurden, nahm er Mittel dagegen ein. Die Medikamente, die er schluckte, weil er nicht operiert wurde, verhinderten am Ende, dass er operiert wurde.
Als Niki aus dem Spital heraußen war, entpuppten sich die schlechten Blutwerte schnell als schlechte Leberwerte. Aber sie verrieten noch immer nicht, wer ihnen die Laune vermiest hatte. "Irgendwas ist da", sagte sein Arzt und ordnete das nächste MRT an.
Pfingsten stand vor der Tür. "Wenn sie am Wochenende starke Schmerzen haben oder erbrechen müssen, dann gehen sie bitte sofort ins Spital" schärfte ihm sein Arzt ein. Das Wochenende kam, Niki hatte tatsächlich starke Schmerzen und es war ihm zum Erbrechen. Also Spital. Am Pfingstsonntag wird er im Wiener Krankenhaus der Barmherzigen Brüder aufgenommen.
Die Wochen vor der OP, die dann keine OP wurde, hatte Niki bei seiner Lebenspartnerin in Thailand verbracht. Diesem Umstand wird nun im Spital mehr Bedeutung beigemessen. Vielleicht doch ein eingeschlepptes Virus? Er kommt auf die Isolierstation.
Nach drei Tagen steht fest: kein Virus. Also MRT, CT, weil "irgendwas ist da". Nach der Betrachtung der Bilder weiß man immer noch nicht, was "da ist", aber man weiß zumindest, was "da nicht ist". Gallensteine sind nicht der Grund für die Probleme.
Aber es gibt ein Geschwür. Es folgen viele weitere Untersuchungen, einige in Vollknarkose. Nun spielen die schlechten Blutwerte, die anfangs die Operation verhindert hatten, nur mehr eine Nebenrolle.
Ein MRCP legt schließlich die ganze Wahrheit offen: ein Tumor. Es ist Montag, der 16. Juni. Niki erhält seine Diagnose: Gallengangkrebs. Ein übler Bursche, unheilbar. "Und er liegt schlecht", sagen die Ärzte. Niki versteht nur, dass er sich irgendwo im Bereich Gallenblase, Bauchspeicheldrüse, Leber aufhalten muss.
Noch am selben Tag bekommt er einen Stent im Gallengang gesetzt, um die Gallenflüssigkeit abzuleiten. Er ist aus Kunststoff und hält nur eine gewisse Zeit. Die schlechten Nachrichten beginnen sich wie bei einer Tsunami-Welle immer weiter aufzutürmen. Der Stent muss alle paar Monate gewechselt werden, jedes Mal ist ein Eingriff im Spital dafür notwendig.
"Wir informieren sie, ob eine Operation möglich ist“, sagen die Ärzte. Dann kann Niki nach 10 Tagen das Spital verlassen. Er schreibt mir eine WhatsApp. "Kommende Woche Kaffee?"
Es geht ihm nicht gut. Er flüchtet zu einer Freundin aufs Land. Nur weg. Kopf auslüften. Aber er bekommt einen Fieberschub, 40 Grad. Mit der Rettung geht es ins Krankenhaus St. Pölten. Auch Land, aber anders.
Nachdem das Fieber runtergegangen ist, wird er nach Wien verlegt. Wieder Krankenhaus. Vierbettzimmer. Wenn wir in Österreich zurecht von unserem herausragenden Gesundheitssystem reden, dann meinen wir meistens die Spitzenmedizin damit. Die Wunderdinge, die vollbracht werden. Neue Operations-Methoden, Therapien, Medikamente, die das Leben fast in die Unendlichkeit verlängern.
Den Menschen haben wir weniger im Blick. "Jetzt liegst du also dort, hast keine Familie, die sich im Spital um dich kümmert, kriegst nicht das Essen, das dir schmeckt, sondern wirst dreimal am Tag von einer Krankenschwester besucht, von der du spürst, die hat keine Zeit für dich", sagte Niki in seinem letzten Interview. Nicht als Anklage, er wusste zu schätzen, was für ihn getan wurde, sondern als Befund.
In Thailand, erzählte er mir, pflegt die Familie die Angehörigen, auch im Spital. Wenn es sein muss, schläft jemand auf einer Matratze neben dem Bett. Undenkbar in Österreich, aber es macht den Unterschied sichtbar. Der Patient wird nicht allein als Organträger gesehen, an dem Spitzenleistungen vollzogen werden, sondern als menschliches Wesen.
Das Bittere: Es ist schwer, einen Schuldigen zu benennen, warum es so ist, wie es ist. Die Wut findet kein Ventil. Das System scheint sich einfach dahin entwickelt zu haben. Die Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal tun in diesem Rahmen ihr Bestes, die meisten zersprageln sich, ihr Tag gibt halt nicht mehr her.
Für Niki bedeutete das: Im Bett gegenüber lag ein junger Drogenkranker auf Entzug. Jeden Tag rauschte seine Lebenspartnerin in der Früh bei der Tür hinein und legte sich mit den Straßenklamotten zu ihm ins Bett. So verschliefen beide den Tag bis weit über die Besuchszeit hinaus. Niemand vom Pflegepersonal hatte Zeit, sie aus dem Zimmer zu stampern.
Rechts von Niki rang ein alter Mann nach Luft, er röchelte bei Tag und bei Nacht. Er lag hier, obwohl er eigentlich nicht hier hätte sein müssen. Die Medizin konnte nur mehr wenig für ihn tun. Heim wollte er nicht, da wartete niemanden auf ihn, auch sonstwo nicht. Auf die Toilette schafft er es oft nicht mehr. Also pinkelte er mitten ins Zimmer. Holzklasse.
Ich muss das leider in der Härte schildern, um die Situation verständlich zu machen. Ich bekomme derzeit viele Reaktionen auf die Berichterstattung, fast alles fällt wohlwollend aus, danke dafür. Nicht wenige Menschen, die das Video gesehen haben, wundern sich aber: Niki schaut darin gut aus, er ist braungebrannt, hat eine feste Stimme, wirkt nicht krank.
Das täuscht, es ging ihm am Ende wirklich schlecht. Als wir uns am vergangenen Donnerstag noch einmal zum Plaudern treffen, sagt er am Ende: "Hoffentlich erlebe ich meinen Tod noch".
Am 23. Juni aber scheint ein Ausweg noch nah. Wir sehen uns auf einen Kaffee, er trinkt wie immer Tee. Niki ist inzwischen im AKH in Behandlung. "Man kann operieren" hatte ihm der Arzt am Telefon mitgeteilt, er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. "Chemo mache ich keine", sagt Niki unvermittelt, "dann lieber sterben". Er erzählt von seiner Familie, in der einige ein schlimmes Ende gefunden haben.
Dann hat Niki seinen Termin im AKH, er geht mit seinem Bruder Daniel hin. Es ist ein ernüchternder Tag. Man kann tatsächlich operieren, sagt die Koryphäe, dann folgen viele aber. Der Krebs ist unheilbar, muss mit einer Chemotherapie angegangen werden, nur 30 Prozent leben nach drei Jahren noch.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Krebs metastasiert, also sich im Körper ausgebreitet hat. Trotzdem ist Eile geboten. Niki aber erfährt: Der nächste verfügbare OP-Termin ist der 7. August, fast sechs Wochen Wartezeit, "aber selbst das ist nicht sicher, wir müssen triagieren", heißt es.
Triage heißt, es wird nach einer Prioritätenliste vorgegangen. Weil man nicht alle behandeln kann, die man behandeln müsste, wird festgelegt, wer eher drankommt und wer nicht. In der Medizin ist das ein gängiger Vorgang. Aber hier? In dieser Situation?
Nur rund die Hälfte der Betten in der Abteilung kann "bespielt" werden, weil Personal fehlt, hört Niki. Erst Anfang August hätte er erfahren, ob der Termin 7. August hält oder verschoben wird.
Die kaputte Hüfte, die operiert werden müsste. Ein Problem am Herz, das dringend operiert werden müsste. Der Stent im Körper, der fortlaufend operiert werden müsste. Der unheilbare Tumor, die Chemo, ein Dasein voller Einschränkungen. In dieser Situation wählt Niki nicht das Leben, sondern den Tod.
Am 8. Juli schreibt er mir via WhatsApp, dass er sich für begleiteten Suizid entschieden hat. Er will mich sehen, sich "quasi verabschieden mehr oder weniger".
Eine Woche später sitzen wir zusammen. Er wartet wie auf Nadeln auf einen OP-Termin für seinen neuen Stent. Er will noch einmal nach Thailand fliegen zu seiner Partnerin. Es klappt. Die Reise gibt ihm viel, die Kinder sind mit, aber die Endlichkeit wird ihm bewusst. Vieles, was er jetzt macht, passiert zum letzten Mal. Es fließen Tränen.
Noch von Thailand aus plant er seinen Tod. Das Sterbedatum wird mit 4. September festgelegt, Niki hat sogar feste Vorstellungen über sein letztes Interview und wann die Parte im Falter und in Heute erscheinen soll. Als ich am 25. August zum Gespräch in seine Gemeindewohnung in Favoriten komme, drückt er mir an der Tür ein Kuvert in die Hand. Es enthält einen Zettel mit dem Text für seine Todesanzeige.
Als wir uns eine Woche vor seinem geplanten Tod noch einmal treffen, reden wir ein bisschen über das Leben, den Tod, die Politik, die ihn auch die letzten Tage interessiert. Daheim auf dem Nachtkastl hat er ein Buch liegen, Paul Lynch "Jenseits der See". Zwei Männer werden in ihrem Fischerboot aufs offene Meer hinausgetrieben. Es ist Sturm und sie können sich nicht besonders gut leiden. Niki erzählt den Inhalt mit glühenden Augen. Ich weiß nicht, ob er den Roman fertiggelesen hat.
Wir lassen sein Leben ein bisschen vorüberziehen. Niki erzählt mir, dass er 22 Mal umgezogen ist. Vermutlich ist er auch der einzige Österreicher, der Präsenzdienst und Zivildienst abgeleistet hat. Er rüstete als Einjährig-Freiwilliger ab, aber seinem Arbeitgeber, der Kronen Zeitung, gingen die Waffenübungen auf die Nerven.
Also teilte Niki dem Heer mit, dass er nicht mehr kommt, was auf wenig Verständnis stieß. Aber er bekam den Tipp, doch einen Sinneswandel bekannt zu geben und so kam es. Der Bundesheer-Oberleutnant tauchte bei der Zivildienst-Kommission auf, teilte mit, dass er den Waffen abgeschworen habe und wurde daraufhin für vier Monate zum Roten Kreuz geschickt.
Niki wirkt an diesem Donnerstag aufgeräumt und mit sich im Reinen. Als ich gehe, will er "noch eine Minute" dableiben. Die Hüfte. Vielleicht will er auch keine Schwäche zeigen. Er müht sich auf, wir verabschieden uns, es ist für immer. "Alles Gute", murmle ich, weil ich eigentlich nicht weiß, was ich sagen soll. Dann drehe ich mich um und gehe schnell weg. Baba, Niki!