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Ärztin spricht

Suizid-Begleiterin: "Warum soll ich Menschen hier allein lassen?"

Der selbstbestimmte Tod von Niki Glattauer und die Berichterstattung darüber bewegt derzeit viele Menschen. Die Tiroler Ärztin Christina Kaneider begleitet Sterbenskranke beim Suizid. Warum sie das tut, wie es ihr dabei geht, ob sie angefeindet wird.

Hat im Rahmen ihrer Arbeit bislang 25 Menschen dabei geholfen, Suizid zu begehen: die Tiroler Ärztin und Suizid-Begleiterin Christina Kaneider
Hat im Rahmen ihrer Arbeit bislang 25 Menschen dabei geholfen, Suizid zu begehen: die Tiroler Ärztin und Suizid-Begleiterin Christina KaneiderViktor Klein
Martin Kubesch
Akt. 05.09.2025 00:36 Uhr

Die Beschäftigung mit dem Thema Suizid kann sehr belastend sein. Bitte lesen Sie den Beitrag daher nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Am Ende des Gesprächs finden Sie Notrufnummern, unter denen Betroffenen von Suizid-Gedanken geholfen werden kann.

Der Tod, er ist nach wie vor ein Tabu-Thema in unserer Gesellschaft. Sich selbst das Leben zu nehmen, ist für viele Menschen ein unvorstellbarer Akt. Der Lehrer, Autor und Newsflix-Kolumnist Niki Glattauer hat sich dafür entschieden. Er ist unheilbar krebskrank.

Glattauer hat aber auch einen mutigen Schritt gesetzt. Er hat sich dazu entschlossen, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er will, dass über das Thema begleiteter Suizid gesprochen wird. Das Tabu soll fallen.

Der 66-Jährige hat seinem langjährigen Weggefährten Christian Nusser, Chefredakteur von Newsflix, und Florian Klenk, Chefredakteur des Falter, ein Interview dazu gegeben. Sie können es hier lesen, als über eineinhalb Stunden langes Video anschauen oder als Podcast anhören.

Das gesamte Interview mit Niki Glattauer als Video

Die Tirolerin Christina Kaneider begleitetet Menschen in den selbstbestimmten Tod. Sie ist eine der wenigen Ärztinnen in Österreich, die diese schwere Aufgabe schultern. Die Palliativ-Medizinerin ist Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende, dem einzigen Verein in Österreich, die sich in diesem Bereich engagiert. Christina Kaneider im Interview:

Frau Dr. Kaneider, wie kamen Sie zur medizinischen Sterbebegleitung?
Ich bin Allgemeinmedizinerin, habe viele Jahre in einer Hospiz- und Palliativstation gearbeitet und mich auf Palliativmedizin spezialisiert. Zuletzt habe ich ein Masterstudium der Medizinethik absolviert. Gleichzeitig leite ich als Präsidentin die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende (oeghl.at). Die ÖGHL ist die einzige Interessenvertretung und Expertenorganisation in Österreich, die sich im Bereich des assistierten Suizids engagiert. Die Legalisierung der Suizid-Assistenz geht auf Klagen der ÖGHL beim Verfassungsgerichtshof zurück – unser erster großer Erfolg. An uns können sich Menschen wenden, um Beratung und Unterstützung zu erhalten, die sie von anderen Organisationen derzeit nicht bekommen.

Was war bzw. ist Ihre persönliche Motivation, sich hier zu engagieren?
Mit Inkrafttreten des Sterbeverfügungsgesetzes 2022 wollte ich die Möglichkeit des assistierten Suizids, die die ÖGHL vor Gericht erstritten hat, jenen Patienten zugänglich machen, die einen Wunsch danach äußern. Vor allem wollte ich, dass Patienten sachlich darüber informiert werden. Ich habe aber bald gemerkt, dass bei meinem damaligen Arbeitgeber kein Interesse daran bestand und meine diesbezüglichen Bemühungen auf große Vorbehalte stießen. Für mich fühlte sich das von Beginn an falsch an.

Weshalb war das so?
Jemand, der in einer hochpalliativen Situation ist, der entscheidungsfähig ist, unter einer hohen Symptom-Last leidet und täglich mit unabänderlichen Realitäten zu kämpfen hat, der wird doch für sich sagen können: 'Jetzt ist es genug.' Und dann wollte ich diese Menschen als Ärztin auf diesem Weg auch begleiten. Denn warum sollte ich Patienten hier allein lassen? Also habe ich im August 2024 gekündigt und mich als Wahlärztin selbstständig gemacht. Ich versuche seither, Menschen durch den gesamten Prozess des assistierten Suizids zu begleiten.

Der Journalist und Lehrer Niki Glattauer löste mit seinem offenen Umgang mit dem Thema begleiteter Selbstmord eine österreichweite Debatte aus
Der Journalist und Lehrer Niki Glattauer löste mit seinem offenen Umgang mit dem Thema begleiteter Selbstmord eine österreichweite Debatte aus
Christopher Mavric

Was genau ist die Aufgabe der ÖGHL?
Die ÖGHL wurde 2019 als gemeinnütziger Verein gegründet. Der Verein informiert, berät und begleitet Menschen auf ihrem Weg, eine Sterbeverfügung zu errichten. Mit einer solchen Sterbeverfügung ist seit 2022 der Assistierte Suizid in Österreich legal möglich. Die Grundintention des Vereins ist also ähnlich wie jene der Schweizer Sterbehilfe-Organisationen Dignitas oder EXIT. Beratung durch die ÖGHL – und das ist uns wichtig – ist immer ergebnisoffen und berücksichtigt Palliativmedizin und Suizid-Prävention. Außerdem beraten wir nur auf ausdrückliche Anfrage von Patienten. Als Wahlärztin begleite ich Menschen darüber hinaus durch den gesamten Prozess des assistierten Suizids, einschließlich der Einnahme des tödlichen Präparates.

Das gesamte Interview mit Niki Glattauer als Podcast

Die rechtliche Situation

Wie ist der assistierte Suizid in Österreich derzeit gesetzlich geregelt?
Das derzeitige Sterbeverfügungsgesetz ist seit dem 1. 1. 2022 in Kraft. Es ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen einen assistierten Suizid für unheilbar oder schwer chronisch erkrankte, entscheidungsfähige Personen, die unerträglichen Leidenszuständen ausgesetzt sind. Es verfolgt das Ziel, ein selbstbestimmtes und würdiges Sterben zu ermöglichen und legt die Verfahrensschritte auf diesem Weg fest.

Kann in Österreich jeder Mensch einen assistierten Suizid beantragen?
Prinzipiell kann dies jeder, der volljährig und entscheidungsfähig ist. Der Patient sollte österreichischer Staatsbürger sein oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben.

Welche Krankengeschichte muss vorliegen, um einen assistierten Suizid überhaupt zu erwägen?
Der unerträgliche Leidenszustand muss durch eine unheilbare oder schwere chronische Krankheit, die dauerhaft beeinträchtigt und nicht anders abwendbar ist, gegeben sein. Diese Einschätzung obliegt im Einzelfall den aufklärenden Ärzten.

Was muss ein Patient machen, um die amtliche Bewilligung für einen assistierten Suizid zu bekommen?
Er oder sie muss, unabhängig voneinander, zwei Aufklärungsgespräche mit zwei Ärzten führen. Einer davon muss ein Palliativmediziner sein. Beide Ärzte müssen die Entscheidungsfähigkeit und den freien Willen des Patienten bestätigen.

Viele Jahre in einer Hospiz- und Palliativstation haben den Blick von Christina Kaneider für Wesentliches geschärft
Viele Jahre in einer Hospiz- und Palliativstation haben den Blick von Christina Kaneider für Wesentliches geschärft
Getty Images

Wie geht es danach weiter?
Danach tritt eine zwölfwöchige Wartefrist ein, die im Akutfall, also wenn der Krankheitsverlauf des Patienten weit fortgeschritten ist, auf zwei Wochen reduziert werden kann. Nach der Wartefrist muss eine sogenannte Sterbeverfügung schriftlich bei einem Notar errichtet werden. Erst mit dieser Sterbeverfügung darf man sich in der Apotheke ein tödliches Präparat besorgen.

Was passiert mit diesem Präparat?
Die selbstständige Einnahme des Präparats durch den Patienten ist zwingend: Er oder sie muss den letzten Schritt selbst ausführen. Eine fremde Eingabe wäre so genannte Tötung auf Verlangen, die strafbar ist. Wann die Einnahme vollzogen wird, liegt dabei allerdings ausschließlich im Ermessen des Patienten.

Ist vom Gesetzgeber irgendeine Form der Begleitung des Patienten auf seinem letzten Weg festgelegt?
Nein, sobald der Patient das letale Präparat bei sich zu Hause hat, liegt es allein bei ihm, wie er alles Weitere gestaltet. Was das in der Konsequenz für den Patienten und für seine Angehörigen bedeutet, nämlich in einer höchst verletzlichen Situation vollkommen allein gelassen zu werden, hat zunächst niemanden interessiert, weil man dieses unangenehme Thema gerne in den privaten Rahmen abschiebt. Das ist einer der wichtigsten Gründe für mich, weshalb ich in diesem Bereich tätig bin.

Der Verfassungsgerichtshof machte 2021 den Weg frei für das Sterbeverfügungsgesetz, Anfang 2022 trat es in Kraft
Der Verfassungsgerichtshof machte 2021 den Weg frei für das Sterbeverfügungsgesetz, Anfang 2022 trat es in Kraft
MAX SLOVENCIK / APA / picturedesk.com

Der begleitete Suizid

Wie schaut der Weg zum begleiteten Suizid in der Realität aus?
Das Problem ist, dass sich nur sehr wenige Ärzte und Organisationen wirklich im Detail mit dem Ablauf auskennen und wissen, mit wem am besten worüber zu sprechen ist. Hier nimmt die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende eine Ausnahmeposition ein, weil wir uns seit vielen Jahren darauf konzentrieren.

Will eigentlich jeder, der sich an den Verein wendet, wirklich Suizid begehen?
Die meisten Menschen, die sich an uns wenden, wollen sich zunächst einmal über die Rechtslage und ihre Möglichkeiten informieren. Wenn der Wunsch nach einer Sterbeverfügung besteht, dann beraten wir sie, erklären die einzelnen Schritte, geben Hinweise, wo sie sich hinwenden können und unterstützen sie, wenn nötig, auch praktisch, etwa durch Botengänge, wenn es kein Umfeld gibt, das das erledigen kann.

Wie entscheiden Sie, wer was braucht?
Man macht sich ein Bild, was im Einzelfall benötigt wird, da gibt es unterschiedliche Anliegen. Geht es nur um Informationen oder hatte die Person bereits ihre ärztlichen Aufklärungsgespräche und braucht jetzt einen Notar, der die Sterbeverfügung errichtet? Gibt es noch weiteren Unterstützungsbedarf? Das ist völlig unterschiedlich.

Sie fahren auch zu den Patienten nach Hause?
Ja, wenn sich der Wunsch nach Begleitung konkretisiert, dann schauen wir uns die Situation vor Ort an. Wie wohnt der Patient? Wie schaut das dort aus? Wie konkret ist der Sterbewunsch wirklich, wie ernst ist es dem Patienten? Wie ist der klinische Zustand des Patienten? Haben wir Zeit, oder haben wir keine Zeit mehr?

Wie lange dauert es bis zum begleiteten Suizid?
Die vom Gesetzgeber festgelegte Wartezeit beginnt mit dem ersten ärztlichen Aufklärungsgespräch und dauert zwölf Wochen. Binnen dieser zwölf Wochen muss das zweite Aufklärungsgespräch stattfinden.

Das letale Medikament ist mit einer notariellen Sterbeverfügung in der Apotheken erhältlich, aber keine ist verpflichtet, es zu führen
Das letale Medikament ist mit einer notariellen Sterbeverfügung in der Apotheken erhältlich, aber keine ist verpflichtet, es zu führen
Getty Images

Worüber klären die Ärzte im Aufklärungsgespräch? auf?
Es geht um den Gesundheitszustand und die Prognose der sterbewilligen Person, um Behandlungsmöglichkeiten, um die Bedeutung und Tragweite des Entschlusses, um Alternativen zur Sterbeverfügung und um die Freiheit von äußerem Druck.

Wie geht es nach den Aufklärungsgesprächen und der Wartezeit weiter?
Bestätigen beide Ärzte die Rechtmäßigkeit des Sterbewunsches, dann kann man nach den zwölf Wochen zum Notar gehen. Patientenanwaltschaften können theoretisch ebenfalls Sterbeverfügungen erstellen, gleichwertig einem Notar. Aber noch nicht jede Landesstelle nimmt diese Aufgabe wahr und auch das Prozedere ist uneinheitlich.

Also drei Monate Wartezeit ist das Mindeste?
Alles in allem sind es etwa 14 Wochen, mit denen man rechnen sollte. Sehr häufig ist es allerdings so, dass sich Patienten erst sehr spät an uns wenden und die Zeit schon drängt.

Was heißt das?
Wenn der Zustand des Patienten schon sehr schlecht ist, dann ist es immer ungünstig, denn es gibt eben die gesetzlichen Wartefristen, an die man sich halten muss. Es gibt zwar eine Verkürzung der Wartezeit, wenn das Lebensende absehbar ist, aber trotzdem dauert es immer ein paar Wochen, bis eine Sterbeverfügung erstellt werden kann.

Und erst mit dieser notariellen Sterbeverfügung erhält man das notwendige Präparat?
Richtig, damit kann ich das Präparat in einer Apotheke, die sich dafür zur Verfügung stellt, abholen. Das kann der Patient entweder selber machen, aber die Sterbeverfügung sieht auch vor, dass man eine Person nennen kann, die das Präparat abholt.

Wie viele Patienten, die sich um eine Sterbeverfügung bemühen, entscheiden sich letztlich wirklich dafür, assistierten Suizid zu begehen?
Ich kann, was Österreich betrifft, da keine exakten Zahlen sagen und bezweifle, dass es dazu schon sehr valide Daten gibt. Was ich aus meiner Praxis sagen kann: Von jenen Menschen, die sich für erste Informationen, Beratung oder Aufklärung an mich wenden, führen tatsächlich nur etwa 15 Prozent einen assistierten Suizid durch. Die meisten wollen einfach die Sicherheit haben, dass sie diesen Weg gehen können, wenn sie es wollten.

Gibt es auch welche, die es sich nach einer Beratung bewusst anders überlegen?
Ich erlebe in meinen Beratungen häufig, dass Menschen vom geäußerten Wunsch nach assistiertem Suizid Abstand nehmen. Ergebnisoffene Beratung und professionelle Begleitung wirkt suizidpräventiv. In diesen Fällen kommt es gar nicht zur Erstellung einer Sterbeverfügung.

Ist der Gesundheitszustand eines Patienten schon sehr schlecht, kann die Wartezeit auf eine Sterbeverfügung auf zwei Wochen reduziert werden
Ist der Gesundheitszustand eines Patienten schon sehr schlecht, kann die Wartezeit auf eine Sterbeverfügung auf zwei Wochen reduziert werden
Getty Images

Das Präparat

Welches Mittel bekommt man in der Apotheke?
Der Name des Medikaments in Natrium-Pentobarbital, es zählt zur Gruppe der Narkosemittel, wird aber in dieser Verwendung nun deutlich überdosiert. Für eine Narkose benötigt man etwa 350 Milligramm dieser Wirkstoffklasse. Für einen Suizid werden 15 Gramm gegeben, also etwa das vierzigfache einer Narkose-Dosis.

Wie wird das Präparat verabreicht?
„Es gibt mehrere Möglichkeiten der Einnahme. Wenn man sich dafür entscheidet, das Präparat zu trinken, dann gibt es entweder eine Lösung, die hält aber nur drei Monate und es sind 100 Milliliter, die zu trinken sind. Dazu muss man sagen: 100 Milliliter sind sehr viel Volumen für einen älteren und/oder schwerkranken Menschen zum Hinunterschlucken. Dadurch ist die Komplikationsgefahr wesentlich erhöht, etwa dass sich der Patient verschluckt, dass er hustet, dass er erbricht und dass einfach nicht alles davon in das System reingeht. Deshalb arbeite ich nie mit der Lösung.

Welche Möglichkeiten gibt es noch?
Dann gibt es das in Pulverform, das sind dann 15 Gramm, die aufgelöst werden müssen. Das ist auch eine ordentliche Menge, das sind etwa 30 zermahlene Mexalen-Tabletten. Wenn körperlich nichts dagegen spricht, wie zum Beispiel eine Schluckstörung, ist das aus meiner Sicht die ideale Methode.

Wie schmeckt das Präparat?
Es ist extrem bitter, deshalb wird ja die Fertig-Trinklösung auch mit Geschmacksstoffen versetzt, um das Trinken einfacher zu machen.

Was geben Sie Ihren Patienten, damit es nicht zu bitter schmeckt?
Ich gebe ein Mittel, das den Brechreiz unterdrückt. Gegen den bitteren Geschmack selbst gebe ich nichts.

Und gibt es noch einen weiteren Weg?
Es besteht noch die Möglichkeit einer Infusion, die muss der Patient dann selbst aufdrehen. Ich bevorzuge bei meinen Patienten allerdings das Trinken. Erstens, weil es die ganze Situation von einem stark medizinischen Kontext entkoppelt und menschlicher macht. Und zweitens, weil es den Patienten mehr Zeit lässt, nach der Einnahme des Präparates noch einige Sätze mit den Angehörigen zu wechseln. Bei einer Infusion fallen die Patienten sehr schnell in einen Schlafzustand.

Was passiert mit den Präparaten, die zwar abgeholt werden, aber doch nicht zur Anwendung kommen?
Die bleiben meistens im Haushalt des Patienten. Die flüssige Lösung hält nur drei Monate, aber das Pulver behält seine Wirkung bei korrekter Lagerung zehn Jahre. Da gibt es auch keine Kontrolle mehr. Und nicht alle abgegebenen und nicht eingesetzten Dosen werden retourniert. Das ist einer der Gründe, warum wir als ÖGHL die Professionalisierung von Suizidhilfe fordern.

15 Gramm Natrium-Pentobarbital, das 40-fache einer Narkose-Dosis, muss der Sterbewillige schlucken
15 Gramm Natrium-Pentobarbital, das 40-fache einer Narkose-Dosis, muss der Sterbewillige schlucken
Winfried Rothermel / dpa Picture Alliance / picturedesk.com

Der Ablauf

Wie gehen Sie vor, wenn Sie als Ärztin einen Suizid begleiten?
Die eigentliche Suizid-Assistenz ist eine medizinisch, ethisch, psychosozial und juristisch sehr komplexe Sache. Wenn ich als Wahlärztin zu einem Patienten komme, schaue ich einmal, wie viele Angehörige da sind und wie das Setting ist. Dann setzt man sich, je nach Lage und Nervosität der Angehörigen, oft zusammen und erklärt jeden Schritt noch einmal. Alles wird noch einmal ganz genau besprochen. Das gibt allen Sicherheit. Die meisten Angehörigen sind extrem aufgeregt und angespannt, sie brauchen diese Strukturierung am meisten. Die sterbewillige Person ist meiner Erfahrung nach von allen Anwesenden die Entspannteste. Diese Vorbereitung kann bis zu einer Stunde dauern.

Wie geht es danach weiter?
Wenn alles vorbereitet ist, sage ich zum Patienten: "So, wenn Sie so weit sind, jetzt ist alles vorbereitet. Wenn Sie jetzt die Infusion aufdrehen, fängt das Medikament an zu fließen und daran werden sie versterben. Ist das Ihr Wille und möchten Sie das immer noch so?" Und wenn er dann sagt "Ja", sage ich: "Dann entscheiden Sie über den Zeitpunkt, wann Sie aufdrehen."

Bekommt der Patient davor ein Beruhigungsmittel?
Nein. Die letzte Handlung muss vom Patienten selbst getätigt werden, sonst sind wir im Bereich des Tötens auf Verlangen, was strafbar ist; das heißt, der Patient muss das Glas selbst nehmen und trinken oder er muss die Infusionsklemme selbst aufdrehen. Wenn jemand sediert ist, dann kann seine Entscheidungsfähigkeit in diesem Moment beeinträchtigt sein.

Aber was tun Sie, wenn ein Patient trotzdem danach fragt?
Dann sage ich: "Sie werden nichts zur Beruhigung brauchen, wir haben das gut vorbereitet." Und sollte er trotzdem auf ein Beruhigungsmittel insistieren, dann stimmt etwas mit dem Sterbewunsch nicht. Wenn der Patient sehr nervös ist, dann ist er einfach noch nicht so weit. Und in solch einem Fall würde ich dann abbrechen.

Kommt es öfter vor, dass Sie abbrechen müssen?
Nein, das hatte ich bisher noch nie. Aber es gab schon Fälle, wo der Termin bereits feststand und der Patient kurz vorher meinte, er sei noch nicht so weit.

Was passiert, wenn ein Patient körperlich nicht mehr in der Lage ist, selbst die Infusion aufzudrehen?
Das hatte ich bis jetzt ebenfalls noch nicht, aber auch dann gibt es mechanische Mittel und Wege. Etwa über einen Perfusor, den man mit einem Knopfdruck betätigt. Es gäbe auch ein Gerät mit Augensteuerung. Ein Weg wird sich immer finden.

Sind immer Angehörige des Patienten bei einem begleiteten Suizid dabei?
Ja, Gottseidank war es bis jetzt so, dass immer Angehörige dabei waren, außer zweimal in einem Pflegeheim. Da haben die Patienten explizit gesagt, sie möchten keine Angehörigen dabeihaben.

Niki Glattauer in seiner Wohnung vor einem Foto von "Che" Guevara
Niki Glattauer in seiner Wohnung vor einem Foto von "Che" Guevara
Christopher Mavric

Die letzten Minuten

Was passiert im Körper, sobald das Natrium-Pentobarbital eingenommen wird?
Es ist ein Hypnotikum, also schlafinduzierend. Das heißt, der Patient verliert das Bewusstsein, geht vom Wach- in den Schlafzustand über und fällt danach in einen Komazustand. Das Präparat beginnt schließlich, das Atemzentrum zu lähmen, Blutdruck und Kreislauf sinken ab und irgendwann hören die Atmung und der Herzschlag auf.

Das klingt nach einer Art Fade-Out?
So könnte man es sagen. Der Patient fängt an zu gähnen, die Muskulatur wird locker und man hört manchmal Schnarch-Geräusche, die Augen fallen zu. Ab diesem Zeitpunkt geht es dann sehr schnell. Manchmal kann es noch sein, dass es zu einer Art Muskelzucken kommt.

Wie lange dauert es, bis der Tod eintritt?
Das ist unterschiedlich und hängt davon ab, ob das Präparat oral oder intravenös gegeben wird. Intravenös sind es etwa zwischen fünf und zehn Minuten, wobei zehn Minuten schon sehr lange wäre. Man kann das nicht exakt sagen, weil ja der Patient an keinen Überwachungsmaschinen hängt und man deshalb keine genauen Daten hat. Wenn man es trinkt, dann dauert es im Regelfall zwischen zehn und maximal 20 Minuten.

Der Tod tritt ein

Was passiert, nachdem der Patient verstorben ist?
Das ist situationsabhängig, aber für gewöhnlich tritt dann zunächst einmal eine große Erleichterung bei den Angehörigen ein. Die Anspannung fällt von den Menschen ab. Oft setzen wir uns danach noch mit den Angehörigen zusammen und sprechen über den Verstorbenen, manchmal wird dabei auch ein Glas Wein getrunken. Und es wird das weitere Procedere besprochen.

Wie sieht das im Regelfall aus?
Der amtliche Beschauarzt wird verständigt und die Abholung des Leichnams wird veranlasst. Und je nachdem, wie sich die Lage vor Ort gestaltet, verlassen wir dann die Situation.

Gibt es eine Art Nachsorge seitens des Vereins für die Hinterbliebenen?
Bis jetzt noch nicht, aber wir sind da gerade dabei, ein Nachsorge-Programm zu entwickeln, das den Hinterbliebenen in der Zeit nach dem Tod des Patienten hilft. Noch sind unsere Ressourcen zu knapp für umfassendere Trauerbegleitung.

Fünf bis maximal 20 Minuten dauert es nach der Gabe des Präparats, bis der Herzschlag aussetzt
Fünf bis maximal 20 Minuten dauert es nach der Gabe des Präparats, bis der Herzschlag aussetzt
Getty Images

Die Kosten

Welche Kosten fallen für einen Patienten an, wenn er sich für diesen Weg entscheidet?
Das ist ein schwieriges Thema, weil es sehr tabuisiert wird – sterben und dafür auch noch bezahlen, das empfinden viele in unserer Gesellschaft als unanständig. Aber von Gesundheitsberufen in der Palliativversorgung oder anderen professionellen Versorgungsstrukturen verlangt man auch nicht, dass sie ehrenamtlich arbeiten. Auch der Bestatter stellt eine Rechnung. Die ÖGHL ist als gemeinnütziger Verein einem Kostendeckungsprinzip verpflichtet, sie macht keinerlei Gewinn. Und als Wahlärztin verrechne ich je nach zeitlichem Aufwand Honorare, die an der Empfehlung der Ärztekammer orientiert sind. Die Gesamtkosten für einen assistierten Suizid, inklusive Aufklärungsgesprächen, notarielle Errichtung der Sterbeverfügung und Kosten für Organisation und Begleitung liegen bei rund 3.000 bis 4.000 Euro.

Das klingt schon sehr kostspielig …
Wie gesagt: Die genauen Kosten hängen vom Aufwand im Einzelfall ab, das variiert sehr stark und manchmal müssen individuelle Lösungen gefunden werden. Man bezahlt, wie bei anderen Leistungen im Gesundheitswesen, für fachliche Qualifikation, für Handlungssicherheit im Krisenfall, Nachsorge, Dokumentation, für Supervision und Weiterbildung. Als Ärztin trage ich die organisatorische Gesamtverantwortung, da ist auch sehr viel Arbeit und Vernetzung im Hintergrund. Zudem bin ich an die gesetzlich definierte Sorgfaltspflicht gebunden und unterliege einer berufs-, haftungs- und gegebenenfalls auch strafrechtlichen Verantwortung.

Stichwort Handlungssicherheit – zu welchen Problemen oder Pannen kann es theoretisch kommen?
Ich weiß von einem Fall, da war ein Angehöriger dabei und es kam zu einer Komplikation. Der Angehörige hat die Nerven verloren und die Rettung gerufen, nachdem die sterbewillige Person das Präparat eingenommen hatte und ins Koma gefallen ist. Dann startete das Reanimationsprogramm. Das ist passiert trotz aufrechter Sterbeverfügung. So etwas kommt selten aber doch noch vor, weil einerseits weder Rettung noch Polizei bisher genügend geschult wurden, wie mit assistiertem Suizid umzugehen ist. Und andererseits die gesetzlichen Bestimmungen des Rettungswesens noch nicht an das Sterbeverfügungsgesetz angepasst sind. Solche Dinge kann man teilweise ausschließen, wenn man eine professionelle Suizidhelferin hat, die im Vorfeld mit Behörden und Polizei Kontakt aufnimmt.

Übernimmt die Krankenkasse einen Teil der Kosten?
Nein, die Kasse übernimmt gar nichts. Das ist eine politische Debatte, weil sich das System nicht an der Form des Sterbens beteiligen möchte.

Was kostet die Leistung Ihres Vereins, also der ÖGHL?
Unser jährlicher Mitgliedsbeitrag beträgt derzeit noch 50 Euro. Dafür erhält man bei Bedarf eine erste Beratung. Zudem unterstützt man damit auch den Verein und sein Engagement für Patientenrechte. Wir sind gerade dabei, ein Organisationspaket anzubieten mit transparenten Kosten für die professionelle Beratung und Begleitung bei der Errichtung der Sterbeverfügung. Wir fühlen uns verpflichtet, hohe medizinische, juristische und ethische Standards einzuhalten und professionell zu helfen. Das wäre nicht möglich, wenn wir Leistungen auf Dauer gratis anbieten würden.

Wie viele Mitglieder hat der Verein?
Aktuell haben wir mehrere hundert Mitglieder, das Interesse an unserer Arbeit steigt, und wir bekommen derzeit wöchentlich neue Mitgliedsanträge. Oft bekommen wir ad hoc dringende Anfragen. Wir sind aber keine Notfallorganisation, daher ist es wichtig, rechtzeitig Mitglied zu werden. Wir helfen auf der Basis 'Mitglieder helfen Mitgliedern' und dies zudem mit einer starken Komponente von ehrenamtlicher Mitarbeit. Viele Neumitglieder wünschen sich zunächst nur Information, manche möchten sofort eine Sterbeverfügung errichten. Wir helfen, so gut wir können. Nur zum Vergleich: Entsprechende Sterbehilfevereine in der Schweiz, in Italien oder den Niederlanden haben zehn- bis hunderttausende Mitglieder. Nur durch starke Mitgliedszahlen können wir Interessen wirksam vertreten und Menschen professionell helfen.

Und mit wieviel muss man für die Begleitung während des Suizids rechnen?
Die Begleitung während des Suizids übernehme ich als Wahlärztin, dafür verrechne ich ein Honorar. Das ist natürlich zum Teil auch davon abhängig, wie häufig und wie weit ich zu einem Patienten anreisen muss.

Gibt es eigentlich noch weitere Mediziner, die so wie Sie ihre Patienten bis zum Schluss begleiten?
Die medizinische Begleitung im Sinne der Aufklärung machen inzwischen eine Handvoll Kollegen, es gibt in jedem Bundesland ein paar wenige. Was die Hilfestellung bei der Durchführung betrifft, bin ich mit einem weiteren Kollegen derzeit die Einzige, die regelmäßig Suizid-Assistenz leistet. Es gibt manche Hausärzte, die das in Einzelfällen für langjährige Patienten machen, die sind dabei aber oft verunsichert, was die genauen Abläufe betrifft. Das führt zu einer hohen Belastung der Kollegen. Mein Vorteil ist, dass ich mich in der Suizid-Hilfe spezialisiert habe, das gibt mir Sicherheit.

Niki Glattauer vor ein paar Jahren mit seinem Bruder Daniel beim Skifahren
Niki Glattauer vor ein paar Jahren mit seinem Bruder Daniel beim Skifahren
privat

Die persönliche Belastung

Was tun Sie, um mit der Belastung, die diese Arbeit unweigerlich mit sich bringt, fertig zu werden?
Es ist ein emotional sehr anspruchsvoller Job, und ich muss bewusst etwas für meine Psyche tun, damit ich das auch entsprechend tragen kann. Regelmäßige Supervisionen der Patientenfälle sind beispielsweise eine unerlässliche Maßnahme.

Was löst der permanente Umgang mit dem Tod bei Ihnen aus?
Es nimmt mich durchaus mit. Der Tod des anderen löst immer auch etwas in der eigenen Endlichkeitsvorstellung aus. Aber das ist so und das ist auch ein sehr schöner Teil meiner Tätigkeit.

Werden sie aufgrund Ihrer Arbeit häufig angefeindet?
Wenn ich angefeindet oder diffamiert werde, dann sind es – abgesehen von kirchlichen Vertretern – überraschend oft Menschen, die ebenfalls in Gesundheitsberufen arbeiten. Aus der Bevölkerung bekomme ich viel Zuspruch, Ermutigung und Dank und kaum negative Kommentare.

Gibt es lokale Unterschiede im Zugang zu ihrer Arbeit?
Ja, es ist von Bundesland zu Bundesland und von Trägergesellschaft zu Trägergesellschaft verschieden. In manchen Pflegeheimen und Hospizen dürfen wir ganz offen Menschen beraten und auch beim Suizid assistieren, in anderen werden wir unter Umständen hinausgeworfen, weil 'so etwas dort nicht passiert'.

Welche Bundesländer sind diesbezüglich aufgeschlossener?
In Wien sitzen wir mit der Caritas an einem Tisch, um zu überlegen, wie wir sterbenskranken Menschen gemeinsam helfen können. In Tirol und Vorarlberg etwa ist die Ablehnung in manchen Einrichtungen rigoros.

Müssen Sie oft mit Kritikern diskutieren?
Diskussion und Debatte sind Teil meines Engagements in der ÖGHL. Auch die Öffentlichkeitsarbeit zur Information der Menschen. Worüber ich nicht mehr oft diskutiere, ist das ewige Pro und Contra bei Sterbehilfe, weil diese Frage von der Realität eingeholt wurde. Fakt ist, die meisten Menschen in Europa befürworten regulierte Formen der Sterbehilfe und in Österreich ist das nun geltendes Recht. Mich interessiert: Wie können wir dafür sorgen, dass eine gute Suizidhilfe stattfindet? Darum geht es. Und nicht, ob ich weltanschaulich dafür oder dagegen bin. Meine Weltanschauung hilft den Patienten nicht.

Wie verhält sich die Ärztekammer Ihnen gegenüber?
Ich erlebe die ÖAK als recht zurückhaltend. Einige dort sind der Meinung, dass das, was ich mache, keine ärztliche Tätigkeit ist. Deshalb müssen sie sich nicht damit befassen.

Haben Sie keine Bedenken wegen des hippokratischen Eides?
Viele Kritiker beziehen sich auf Hippokrates, den die meisten noch nie gelesen haben. Wenn man sich mit dieser antiken Ethik auseinandersetzt, was ich gemacht habe, kann man sehen, dass Hippokrates sich wenig um den sterbenden Menschen schert, weil die medizinische Heilkunde da nicht glänzen könne und es obendrein eine Ressourcen-Verschwendung sei. Die hippokratische Ethik zielt hauptsächlich auf die Figur des Arztes, seine Heilkunst und seine Reputation, wenig auf die Beziehung zum Patienten. Abgesehen davon, für mich gilt das Ärztegesetz und nicht der hippokratische Eid.

Wie viele Menschen haben Sie bereits auf ihrem letzten Weg begleitet?
Ich habe bis jetzt etwa 150 Beratungsgespräche durchgeführt und 25 Menschen bei ihrem Suizid begleitet.

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Assistierter Suizid in Österreich in Zahlen

Wie viele Menschen haben in Österreich seit 1. 1. 2022 assistierten Suizid verübt?
Laut offizieller Statistik haben 54 Personen im Jahr 2022 assistierten Suizid verübt. 2023 waren es 98 und 2024 waren es 112 Personen. Allerdings muss man dazu sagen, dass der amtliche Totenschein nicht entsprechend adaptiert worden ist und viele assistierte Suizide als Kreislaufstillstand verzeichnet und deshalb gar nicht als solche in der Statistik aufgelistet werden.

Wie viele Sterbeverfügungen wurden bislang ausgestellt?
Es sind meines Wissens etwas über 700, seit das Gesetz in Kraft getreten ist.

Werden viele Anträge auf eine Sterbeverfügung abgelehnt?
Dazu gibt es keine Zahlen, weil das Sterbeverfügungsregister nicht vorsieht, dass durchgeführte Aufklärungsgespräche von Ärzten, die ablehnen, festgehalten werden. Das ist auch ein noch zu verbessernder Punkt. Denn wenn jemand abgelehnt wird, aus welchen Gründen auch immer, dann geht er zu anderen Ärzten und hofft, dass ihn irgendeiner schon durchlassen wird. Es gibt keine Kontrolle, wer es wie oft probiert. Das ist sicher kein Idealzustand.

Kontakte

  • Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende Tel.: 0676 532 06 48, oeghl.at
  • Dr. Christina Kaneider, Tel.: 0676 43 17 366, christina-kaneider.at

Suidzid-Gedanken? Hier finden Sie Hilfe

  • Liste aller Notrufnummern (auch nach Bundesländern)
  • Telefonseelsorge Tel.: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr
  • Männernotruf Tel.: 0800 246 247, täglich 0–24 Uhr
  • Männerinfo Tel.: 0800 400 777, täglich 0–24 Uhr
  • Frauenhelpline Tel.: 0800 222 555, täglich 0–24 Uhr
  • Ö3 Rotes Kreuz Kummernummer Tel.: 116 123, täglich von 16 bis 24 Uhr.
Martin Kubesch
Akt. 05.09.2025 00:36 Uhr