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Die Kronprinzessin, ihre Eiszeit und ein paar wärmende Worte
Die Kopfnüsse zu einer Woche der Weichenstellungen: Das Ende der Koalition, der angebliche Asyl-Neustart der SPÖ und Leonore Gewessler als baldige Chefin der Grünen.
"Nur mehr 22 Prozent der Österreicher glauben an Gott", las ich dieser Tage in der "Presse". Mir kommt das sehr wenig vor, aber da es sich weder um eine Trendprognose noch um eine Hochrechnung handelt, stufe ich das Ergebnis der Glaubens-Umfrage natürlich als glaubwürdig ein. Andererseits glaubten laut der "Europäischen Wertestudie" 2018 – also vor nur sechs Jahren – noch 73 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher an Gott. Wenn also jetzt noch jemand die ÖVP deppert wegen des EU-Wahlergebnisses angeht, kann Karl Nehammer sagen: "Schaut Euch Gott an, der hat noch viel mehr verloren."
Die Studie wurde von der Religionssoziologin Regina Polak im Auftrag von ORF und Universität Wien durchgeführt und ergab auch, dass 40 Prozent beten oder meditieren. Wen die 18 Prozent anbeten, die nicht an Gott glauben, kann ich mir nicht erklären, zumal Sebastian Kurz als Alternative nicht mehr zur Verfügung steht.
Unseren momentanen Zugang zur Religiosität beschreibt Polak als "liquid", er verflüssige sich in Richtung diffus und sei schwer einzuordnen. Diese Glaubensessenz, eine Art Bierökomene also, leben wir mit uns selbst aus und nicht mehr in der Gemeinschaft. Wenn die Gläubigen und die Ungläubigen dann aber in die Welt hinaustreten, dann haben sie fast die gleichen Vorstellungen vom Leben. 38 Prozent sind überzeugt, dass unser Schicksal vorbestimmt ist. Der Glaube, dem Schicksal nicht entrinnen zu können, hindert uns aber nicht daran, zu glauben, dass man sein eigenes Leben selbstbestimmt in der Hand habe. Jüngste Wahlergebnisse kommen in ihrer Widersprüchlichkeit also eventuell nicht ganz von ungefähr.
Die entscheidende Frage wird in der Studie leider nicht beantwortet, vielleicht weil das gar nicht möglich erscheint. Wichtig ist ja nicht, wie viel Prozent der Österreicher noch an Gott glauben, sondern zu wie viel Prozent Gott noch an Österreich glaubt.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Gott im Himmel sitzt, die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und sagt: "Jetzt habe ich euch einen so schönen Flecken Erde geschenkt, ihr musstet ihn nicht einmal mit Handtüchern reservieren, und mehr bringt ihr nicht zustande?" Die österreichische Antwort darauf könnte so lauten: "Na, so wenig unterhaltsam sind wir jetzt auch wieder nicht."
In diesem Sinne hatte Gott wieder eine schwere Woche mit uns. Am Montag sorgte Klimaministerin Leonore Gewessler für einen Sündenfall oder folgte einer göttlichen Eingebung, das wird von den Regierungspartnern doch recht unterschiedlich gesehen. Gewessler stimmte beim Rat der EU-Umweltminister in Luxemburg dem Renaturierungsgesetz zu (hier lassen sich die Details nachlesen), das gab den Ausschlag für die Annahme. Österreich wird jetzt wieder in ein Sumpfgebiet zurückverwandelt oder bleibt zubetoniert, auch das ist Ansichtssache.
Das Beste aus beiden Welten ist jetzt böse aufeinander. Die fünf ÖVP-Landesräte ließen Gewessler ausgerechnet in Vorarlberg sitzen, sogar der Ministerrat am Mittwoch entfiel. Daran sei aber selbstverständlich nicht die individuelle Klimakrise der Regierung schuld, wurde uns Naivlingen treuherzig versichert, wer das glaube, verbreite "mediale Mythen", schrieb der Sprecher des Kanzlers auf X. Es sei schlicht nicht genug Arbeit da gewesen, dass sich ein Treffen gelohnt hätte. In der Woche davor sei man bienenfleißig gewesen und habe dem Parlament 30 Beschlüsse übermittelt. Für die paar "Berichte" und "Resolutionen", die auf der "TO", also Tagesordnung standen, hätten Umlaufbeschlüsse gereicht. Aus dem Besten aus beiden Welten wurde das Beste auf zwei Mailadressen.
Irgendwann werden ÖVP und Grüne trotzdem aus dem Schmollwinkel herauskommen müssen, aber wie darf man sich dann die Restlverwertungszeit der Regierung vorstellen? Haben Volkspartei und Grüne im Ministerrat ab jetzt Wurfsterne vor sich liegen? Sitzt da ein Schnellrichter am Tisch und sanktioniert falsches Stimmverhalten? "Von dir Leonore, krieg ich jetzt 100 Euro und okay, du kannst auch in Sodexo-Gutscheinen zahlen!" Werden Ministeranzeigen ein Vormerkdelikt? Brauchen Regierungsmitglieder jetzt nicht mehr Bodyguards, wenn sie außer Haus gehen, sondern wenn sie drinnen bleiben? Versetzt Klaudia Tanner die Armee in Alarmbereitschaft, wenn sie zu Ministerräten fährt? Es wird einiges zu klären sein, ehe es wieder losgeht, was nicht mehr so richtig losgehen wird.
Bis dahin werden wir von Gutachtern regiert. Ich habe etwas den Überblick verloren, aber sicher erscheint, dass Österreich die Renaturierung mit juristischen Pflugarbeiten beginnt, das aber sehr beherzt. Das Klimaministerium hat vier Gutachten beauftragt, die jeweils zwischen 4.800 Euro und 11.400 Euro gekostet haben. Der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes hat ein Gutachten erstellt und beschäftigt sich in einer weiteren Art Gutachten mit den Gutachten des Klimaministeriums. Es existiert eine unbekannte Zahl an Gutachten durch die Landesverfassungsdienste, das Landwirtschaftsministerium steuert zwei weitere Gutachten bei, wobei das eine über weite Strecken eine Wiederverwertung des anderen ist.
Ich glaube, außer dem Verwaltungsjuristen Hans Peter Lehofer hat niemand mehr ein gutes Gesamtbild vom Geschehen, auch sein Zugang kann sich nicht ganz der Satire entziehen. Die Gutachterei dürfte keine Erfindung der unmittelbaren Neuzeit sein, Lehofer verfasste darüber schon vor zwölf Jahren die Abhandlung "Das sind meine Prinzipien. Ich habe auch andere". Ein Gutachten über Gutachten wäre jetzt nicht schlecht. Das würde auch Gott gefallen, er hätte einen schnellen Überblick, wir sind schließlich nicht das einzige Land, auf das er schauen muss und auch nicht das einzige Land mit Handtüchern.
Abseits der Gutachterei hat die Debatte über die Renaturierung Traktorfahrt aufgenommen. In Österreich, und da verstehe ich Gott in seiner Verzweiflung gut, ist es meistens so, dass zuerst Entscheidungen fallen und erst dann wird über das geredet, was vorher schon endgültig entschieden wurde. Dies allerdings mit großer Leidenschaft, denn zur Natur hat jeder einen Bezug, egal ob er Landwirt ist oder hin und wieder in der Garageneinfahrt Unkraut jätet. Jeder, der ein Wochenendhaus am Land hat und einen Dackel notdürftig von einem Flughund unterscheiden kann, fühlt sich als Agrarökonom.
Für die Renaturierung sind sowieso alle. Jeder will eine unbändige, ungezähmte Natur, und zwar unmittelbar bis zu seinem Schrebergartentzaun. Ab da wird die Natur in ihre Schranken gewiesen, es werden ihr so richtig die Flausen ausgetrieben. Viele Städter, die sich nun pausbäckig und rotwangig in der Diskussion engagieren, träumen insgeheim vom eigenen privaten Bauprojekt am Land, aber es soll das tatsächlich letzte seiner Art sein, danach muss Schluss sein mit der Bodenversiegelung. Jeder ist für blühende, unberührte Wiesen, für bunte Schmetterlinge und findet Frösche niedlich, außer in der Nacht, da machen sie Lärm.
Die SPÖ betrieb am Wochenende eine Renaturierung in eigener Sache, versucht wurde eine Wiederherstellung ihres Kurses in der Zuwanderungspolitik, falls es einen solchen Kurs je gegeben haben sollte. Das gelang halb. Seit 2018 verfügen die Sozialdemokraten über das "Kaiser-Dosko-Papier", es legt ihre Position in den Fragen "Flucht – Asyl – Migration – Integration" fest und wurde am Parteitag in Wels beschlossen, noch in der Epoche vor den Excel-Listen.
Darin lag aber jetzt auch das Problem, denn einen Parteitagsbeschluss kannst du nicht mit einem Wochenendseminar aus der Welt schaffen, vor allem, wenn der inhaltliche Yoga Retreat nur 90 Minuten dauert. Nach seiner Kür zum SPÖ-Chef hatte Andreas Babler am 10. Juni 2023 in einem "Presse"-Interview gemeint, dass die "Migration jetzt kein sehr großes Thema" sei. Bei der EU-Wahl fast auf den Tag genau ein Jahr später stellte sich dann heraus, dass das nicht sehr große Thema doch ein eher sehr großes Thema sein dürfte. In den Gremiensitzungen der Partei am Tag nach der Wahl wurde beschlossen, sich das noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
Am Samstag traf sich nun eine Runde aus Parteifunktionären, Ländervertretern, Jugendorganisationen und Experten zum "Refreshment", das nicht mehr "Refreshment" hieß. Dem Teilnehmerkreis der "Samstagsrunde" wurde gleich zu Beginn zur Kenntnis gebracht, dass es sich hier um kein Entscheidungsgremium handle. Bei der nachfolgenden Pressekonferenz wurde dann der gegenteilige Eindruck erweckt, auch wenn Peter Kaiser von einer "Weiterentwicklung" des "Kaiser-Dosko-Papiers" auf denselben "Grundprinzipien" sprach. Der Kärntner Landeshauptmann arbeitete an dieser "Weiterentwicklung"mit, Hans Peter "Dosko" Doskozil nicht. Burgenlands politischer Römersteinbruch fordert eine Obergrenze für Flüchtlinge, dem wollte die Partei nicht nähertreten.
Nach eineinhalb Stunden war die "Samstagrunde" durch, das ging so flott, weil eine Expertenrunde ohnehin seit Monaten zum Thema "Menschlichkeit und Ordnung" tagt. Dann traten Peter Kaiser, Andreas Babler und die stellvertretende SPÖ-Klubchefin Eva-Maria Holzleitner vor die Medien. Denen war ganz gut bekannt, was nun kommen würde, denn die Inhalte waren ihnen am Tag zuvor auf wundersame Weise zugeflogen.
Die SPÖ hatte nämlich für die "Samstagsrunde" eine so genannte "Tischvorlage" vorbereitet, in der die wesentlichsten Punkte der Besprechung schon vorweggenommen waren. Sie traute sich aber nicht, diese "Tischvorlage" parteiintern zu verschicken, weil man befürchtete, das Schriftstück würde umgehend bei Medien landen. Man muss dazusagen, dass die gegenseitige Vertrauensbasis in der SPÖ momentan von eher teigiger Konsistenz ist. Um also zu verhindern, dass die "Tischvorlage" aus fremden Händen – also genau genommen aus den eigenen Händen – bei den Medien landete, reichte die SPÖ die "Tischvorlage" selbst an die Medien weiter.
Tags darauf stellte Babler die unverbindliche "Weiterentwicklung" des Kaiser-Dosko-Papiers" als "Offensivprogramm" vor, die SPÖ sei nun die einzige Partei "in der österreichischen politischen Landschaft", die "ein Offensivprogramm und eine Richtlinie" in der Asylpolitik habe. Später sprach er von einem "Alleinstellungsmerkmal", die anderen Parteien "in der österreichischen politischen Landschaft" werden das mit einiger Verwunderung zu Kenntnis genommen haben.
Dann folgte eine Zaubernummer wie früher von "Siegfried und Roy", allerdings ohne weiße Tiger. Die SPÖ präsentierte einen Plan mit fünf Programmpunkten, als Beweis ihrer magischen Kraft ließ sie 45.000 Asylwerber verschwinden. Man müsse nur, steht im Konzept, die Zuwanderer gerecht auf alle EU-Länder verteilen. 2023 hätte es dann in Österreich statt 59.232 Asylanträgen nur 16.164 gegeben, ein Rückgang von 75 Prozent.
Das ist an sich eine geniale Idee. Sie ist so genial, dass sie am 10. April 2024 schon im Europäischen Parlament beschlossen wurde, übrigens mit Wissen und Zustimmung der SPÖ. Der neue "Migrations- und Asylpaket" sieht vor, dass alle EU-Länder in Hinkunft solidarisch Asylwerber aufnehmen oder Pönalzahlungen leisten müssen (hier lassen sich Details nachlesen). Der Europäische Rat hat das Paket am 14. Mai 2024 final beschlossen, den einzelnen Nationen bleiben nun zwei Jahre Zeit für die Umsetzung. Die SPÖ bekam ihre Forderung also erfüllt, noch ehe sie überhaupt gestellt worden war. Wahrhaftig Zauberei.
Auch die Grünen veranstalteten ihre Samstagsrunde. Am 46. Parteitag in Wien wurden Weichen gestellt, dem Anschein nach für die Nationalratswahl, tatsächlich über den 29. September hinaus. Werner Kogler wurde mit 94,6 Prozent zum Spitzenkandidaten gekürt, für den Job als Heldin des Tages war allerdings Leonore Gewessler vorgesehen, sie erklomm mit 98,1 Prozent den zweiten Listenplatz. Die Klimaministerin wurde geherzt, gebusselt, umarmt, bejubelt, mit Standing Ovations gefeiert. Ihre vermeintlich einsame Entscheidung, die ÖVP über den Tisch zu ziehen, hat den Grünen Stolz und Selbstvertrauen zurückgegeben, die Dankbarkeit dafür war greifbar.
Für Gewessler wird sich das lohnen. In spätestens zwei Jahren, vielleicht sogar früher, wird sie Werner Kogler als Parteichefin beerben, seit sie die Grünen in Luxemburg renaturiert hat, stellt das niemand mehr in Frage. Kogler selbst mutiert im Spätherbst noch einmal zum Superminister. Er wird im Dezember wohl ein zweites Mal die Karenzvertretung von Justizministerin Alma Zadic übernehmen. Nur gnadenlose Optimisten rechnen damit, dass es bis dahin eine neue Regierung gibt.
Ob die Grünen an einer solchen beteiligt sein werden, gilt als zweifelhaft. Die Liebe der eigenen Partei zu ihrer Klimaministerin mag gewachsen sein, bei zumindest einer anderen Partei ist sie ihr gegenüber erloschen.
Ich wünsche einen wunderbaren Sonntag. Wir können ihn mit dem guten Gefühl verbringen, wieder einmal über ein Fußball-Nationalteam zu verfügen, dass beim Zuschauen Freude verbreitet. Am Dienstag folgt das Spiel gegen die Niederlande. Da kann Gott den endgültigen Beweis antreten, dass er doch noch an uns glaubt.