Oliver Rathkolb ist Österreichs momentan vielleicht bester Erklärer der Zeitgeschichte. Nun hat der Jurist und Historiker ein neues Buch geschrieben. Darin vergleicht er die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit der Gegenwart. Augenöffnend und erschütternd zugleich.

Die Anzeichen mehren sich. "Wir alle spüren die Rückkehr eines nervösen Zeitalters", schreibt der österreichische Zeithistoriker Oliver Rathkolb. Sein neues Buch "Ökonomie der Angst" blickt über 100 Jahre zurück in die Zeit vor dem Erste Weltkrieg, und zieht Parallelen zur Jetztzeit.
Vor gut 15 Jahren hielt er den Vergleich selbst noch für ein weit hergeholtes Gedankenexperiment, heute sieht der Historiker und Jurist das ganz anders. Damals glaubte man noch, in einer aufgeklärten Zeit zu leben, findet er. Die Hoffnung, dass Globalisierung, Wirtschaftswachstum und digitale Revolution die Welt gerechter machen könnten, hat sich zerschlagen.
Auch die Vorstellung, dass die neuen Zeiten Demokratie für alle bringt, sogar der ehemals kommunistischen Sowjetunion, womöglich gar im kommunistischen Regime in China, hat sich als Hingespinst erwiesen. Was Sie zum neuen Buch von Oliver Rathkolb wissen müssen:
Wer ist Oliver Rathkolb?
Ein Doppeldoktor, in Rechtswissenschaft und Geschichte. Heute 70 Jahre alt und deshalb vor wenigen Monaten als Universitätsprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien feierlich verabschiedet. Vor allem ist Rathkolb aber ein Welterklärer. Er macht Geschichte greifbar, so wie es früher Hugo Portisch im ORF schaffte.

Wie verlief seine Karriere?
Rathkolb war von 1985 bis 2003 wissenschaftlicher Leiter des „Bruno Kreisky Archivs", danach Gründungsdirektor des Ludwig Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit. Er hat 12 Monografien geschrieben, war Herausgeber von 7 Sammelbänden, Mitherausgeber von 40 Sammelwerken und hat etwa 200 wissenschaftliche Beiträge verfasst.
Welche Auszeichnungen hat er erhalten?
Rathkolb ist hochdekoriert: Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse, Goldenes Ehrenzeichen des Landes Wien, Großes Silbernes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ...
Worum geht es in seinem neuen Buch?
In "Ökonomie der Angst" vergleicht er die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mit der aktuellen Weltsituation, ihren multiplen Krisen und deren Auswirkungen auf die Menschen. Damals wie jetzt, so Rathkolb, waren die Menschen vielfach verunsichert, die Ängste wuchsen damals und sie wachsen heute.
Wovor fürchten sich die Menschen am meisten?
Davor, durch die rasanten technologischen Entwicklungen und die daraus resultierende wirtschaftliche Einbußen abgehängt zu werden und einen sozialen Abstieg zu erleiden.

Welche Ängste herrschen sonst noch vor?
Das stets steigenden Tempo der "Turboglobalisierungen" verunsichert die Menschen. Sie fühlen sich von den Anforderungen überrollt.
Gibt es auch dabei Parallelen?
Ja, vor dem Ersten Weltkrieg sorgten die Eisenbahn, Elektrizität, die Entwicklung der Telekommunikation und die wachsende Mobilität für die erste "Turboglobalisierung". Die Städte wurden immer voller, die Menschen vom Lärm überwältigt, die Arbeitsverhältnisse änderten sich radikal.
Erleben wir momentan eine zweite Turboglobalisierung?
Seit Mitte der 1980er Jahre, so Rathkolb, beschleunigt sich das Leben in allen Bereichen. Computer, das World Wide Web, die Kommunikation via digitaler Post – 2024 wurden 361,6 Milliarden E-Mails versandt – haben den Informationsaustausch multipliziert, dank Social Media noch vielfach potenziert. Der Aufschwung des Neoliberalismus und nun die Entwicklungen rund um Künstliche Intelligenz - plötzlich scheint nichts mehr ohne zu gehen - ziehen ebenfalls große Verunsicherung nach sich.
Wer waren die Nutznießer?
Vor 1914 waren das die sogenannten Robber Barons, skrupellos agierende Großindustrielle vor allem in den USA wie etwa Andrew Carnegie in der Stahlindustrie oder John D. Rockefeller, der mit Öl zum ersten Milliardär der Welt wurde. Schon damals lobbyierten diese Robber Barons und verhinderten Gesetze zur Abschaffung von Monopolen oder Preisabsprachen.

Wer sind heute die Robber Barons?
Vorausschicken sollte man: Die USA haben nicht erst seit ein paar Jahren die Nase vorn. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, dann noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten bei Innovationen und bei privaten Investitionen in Technologien führend.
Was ist die Folge?
Es ist kein Wunder, dass die heutigen Gewinner in den USA ihre Milliarden machen: Elon Musk (SpaceX, Tesla, Social Media Plattform X), Sam Altman (Open AI mit Chat GPT), Peter Thiel (PayPal, Cambridge Analytics, Palantir) Mark Zuckerberg (Meta), Jeff Bezos (Amazon) etc., sie alle und noch einige weitere können als Cyber Barons bezeichnet werden.
Welche Rolle spielt dabei die Politik?
Damals wie heute waren und sind die Regierenden mit politischen Umwälzungen, ständigen ökonomische Krisen und rasanten technologischen Innovationen ebenso überfordert, wie der Einzelne. Rathkolb erläutert sehr fundiert und mit jeder Menge Zitaten die Auswirkungen und die politischen Entwicklungen, in den USA ebenso wie in Europa, in Russland und China. Und konstatiert, wie andere auch, ganz klar eine Schwächung der Demokratie und ein Erstarken von Autokratien und Rechtspopulismus.
Wie der Autor das begründet
Nach dem Ende des Kalten Krieges und der politischen Wende dem Ende des Ostblocks ab 1989 waren die kommunistischen Staaten ökonomisch auf sich gestellt und fühlten sich auch alleingelassen. Es war eine andere Zeit als etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, wo der Marschallplan auch zur Stärkung der Demokratie und zu einer europäischen Einigung beigetragen hat.
Was trat an die Stelle?
Auf dieser Grundlage floriert seither die Herrschaft Putins. „Obwohl schon seit Beginn des Amtsantritts von Wladimir Putin 1999 klar sichtbar war, dass er gewaltbereit war und schnell Kriege führen würde, blieb ein gern gesehener und hofierter Gast in Europa; Putin brachte billige Rohstoffe …und gute Geschäfte.“

Was nahm die Welt zusätzlich in den Schwitzkasten?
Der unaufhaltsame Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht Nummer eins. China hat Jahrzehnte lang das Know-How aus dem Westen abgesaugt und sich dank der Bevölkerungsgröße, dem Verzicht auf Umweltschutz, großer Rohstoffressourcen und nicht zuletzt durch radikale Zensur an die wirtschaftliche Spitze katapultiert. Große Teile europäischer Transportwege, ob Häfen, Bahnhöfe oder Zugstrecken, sind in chinesischer Hand.
Will China die Weltherrschaft?
Der Gedanke lässt sich nicht leicht abschütteln. Seit 2001 betreibt die Regierung die Shanghaier Organisation zur Zusammenarbeit. Mitglieder sind: China, Indien, Iran, Kasachstan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. "Dieses Bündnis ist als politische und wirtschaftliche, aber auch militärische Allianz angelegt, umfasst 40 % der Weltbevölkerung und hat auf dem Papier eine doppelt so große Truppenstärke wie die NATO," schreibt Rathkolb
Und die USA?
Donald Trump verunsichert nicht nur durch Zoll- Jo-Jo, "postliberale" Slogans und Handlungen. In seiner zweiten Amtsperiode treibt er auch politisch einen Abbau der Demokratie voran: Durch Neubesetzungen des Supreme Courts (Oberster Gerichtshof), Beeinflussung und Erpressung von Universitäten, Einschränkungen der Frauenrechte etc.
Was treibt Trump an?
Seine und die Geschäfte seiner Verwandten florieren prächtig, etwa mit Kryptowährungen. "Trump wird alle seine außenpolitischen Ziele und Strategien – auch und gerade gegenüber China – immer nach den Auswirkungen auf die Wallstreet und damit auf die Kryptowährungen ausrichten."
Wo steht Europa?
Schon vor 1914 hat Europa die Führung in Sachen Technologie und Innovation Schritt für Schritt aus der Hand gegeben. Das belegt der Autor mit vielen Quellen. Vor und durch den Zweiten Weltkrieg ging Europa viel geistiges Kapital verloren und nach dem Krieg war man lange Zeit mit Wiederaufbau beschäftigt.

Wie sieht Rathkolb die aktuelle Situation?
Generell attestiert er Europa auch in der Gegenwart viel zu langsame Reaktionen auf bahnbrechende Neuerungen. Er nennt als eines der Beispiele die Experimente des österreichischen Quantenphysikers und Nobelpreisträgers Anton Zeilinger.
Warum das?
Zeilinger arbeitet mit seinem Team an der Übertragung von Quantensignalen, zum Beispiel für abhörsichere Videotelefonie. Als er das Projekt präsentierte, zeigte die Europäische Weltraumagentur ESA wenig Interesse. Also wurde die Chinesische Akademie der Wissenschaften sein Partner. Heute präsentiert sich, so Rathkolb, die Volksrepublik China als führende Macht in Quantenkommunikation.
Welche Rolle spielt die Migration bei der Angst?
Rathkolb nennt "Triggerpunkte der Verunsicherung". Die Themen Migration und Asyl sind dabei zentral. In wirtschaftlich guten Zeiten war Arbeitsmigration erwünscht, die Bezeichnung "Gastarbeiter" in den späten 1960er und 1970er Jahren hatte aber schon gezeigt, dass das Modell nicht auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet war.
Wann hat sich der Wind gedreht?
Ausländerfeindliche Debatten begannen in den 1980ern und breiten sich seither vor allem Europa mehr und mehr aus. Ebenso nehmen Ängste vor Krieg und Terrorismus in europäischen Ländern laufend zu.
Und die Klimakrise?
Auch die Diskussionen dazu spalten, laut Rathkolb, die Gesellschaft. Die USA als Staat haben sich nie sonderlich beteiligt, Trump leugnet gar die Klimakrise. China greift Umweltschutz erst seit kurzem auf.

Was ist mit Europa?
Hier polemisieren vor allem rechte Parteien gegen Erneuerbare und Klimaschutz, obwohl bereits ein Drittel des Stromes mittels "grüne Energie" erzeugt wird. Das Klimaziel von maximal 1,5 Grad Erwärmung ist nicht mehr erreichbar. Klimaaktivisten wie "Friday for Futures" oder "Die letzte Generation" sind in breiten Teilen der Bevölkerung umstritten.
Sie zeigt sich die globale Überforderung?
Nicht nur die jungen Demokratien nach 1918 gingen rasch in autoritären Regimen auf, analysiert Rathkolb, er sieht auch hier Parallen zur Gegenwart.
Welche?
Die Digitale Revolution und ihre Folgen und nicht zuletzt die Covid-19 Pandemie führen auch zur Erstarkung "illiberaler" Demokratien wie Ungarn, phasenweise Polen, einem Zuwachs für rechtsnationale Politik wie in Frankreich, Slowakei, Italien und stetem Zuwachs der AfD in Deutschland. Die Akzeptanz, mancherorts auch Sehnsucht, nach autokratischen Führerfiguren wächst von jeher in unsicheren Zeiten.
Wie sieht ein Blick in die Zukunft aus?
"Burschen, die Optimisten lernen Russisch, die Pessimisten lernen Chinesisch." Was ein Gymnasiallehrer für Geografie 1972 als ironisches Statement platzierte, passt gut zu einigen pessimistischen Einschätzungen Oliver Rathkolbs. Mit kleiner Einschränkung.
Nämlich?
"Aus meiner Sicht droht derzeit kein Dritter Weltkrieg, den Trump anheizt", schreibt Rathkolb. Nicht allerdings ohne auf andere Gefahren für die EU wie politische Unterwanderung durch Russland und wirtschaftliche und propagandistische durch China hinzuweisen.

Für wen ist die Lektüre empfehlenswert?
Für alle Leserinnen und Leser, die Interesse an historischen Entwicklungen, deren gesellschaftlichen Auswirkungen und einer faktenbasierten Darstellung haben. Oliver Rathkolb belegt seine Inhalte mit knapp 300 Quellen sehr akribisch.
Mit welchem Gefühl verlässt man das Buch?
Zum Teil sind Rathkolbs Zeitvergleiche zwischen den Jahren vor 1914 und aktuellen Zeiten erschreckend, aber auch erhellend. Mit prägnanten Kapiteltiteln wird man gut durch das Buch geführt. "Ökonomie der Angst" kann auch als Wachrüttler gesehen werden. Die Frage ist, ob das Buch auch von denen gelesen wird, die am Schalter der Macht sitzen.
"Ökonomie der Angst – Die Rückkehr des nervösen Zeitalters" von Prof. DDr. Oliver Rathkolb, 304 Seiten, Molden € 33
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Sie lebt in Wien. Ihr erster Krimi "Tödliches Gspusi" ist heuer erschienen.