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"Haus zur Sonne"

Sterben, selbstgewählt und "in Würde", geht das überhaupt?

Seit dem Tod von Niki Glattauer ist der assistierte Suizid Thema. Glattauer wollte "in Würde" sterben, wie er selbst sagte. In seinem Roman "Haus zur Sonne" setzt sich Thomas Melle mit dem Tabu auseinander. Und das mit durchaus persönlichem Bezug.

Autor Thomas Melle schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025
Autor Thomas Melle schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025Picturedesk
Angela Szivatz
Akt. 16.10.2025 23:38 Uhr

Anfang September erschreckte Niki Glattauer Österreich und er wühlte das Land auch auf. Der frühere Journalist, Lehrer und nunmehrige Kolumnist war schwer krebskrank. Er entschied sich für assistierten Suizid* und machte das auch publik.

Begleiteter Suizid ist seit rund drei Jahren in Österreich gesetzlich erlaubt, aber ein Tabu, über das nicht gesprochen wird. Das wollte Glattauer aufbrechen. Deshalb gab er dem Falter und Newsflix ein Interview, er wollte ausdrücklich, dass es vor seinem Tod erscheint.

"Würdevoll" solle sein Tod sein, Glattauer nahm den Begriff im Gespräch mehrmals in den Mund. Das sorgte für Kontroversen, denn es unterstellte indirekt, dass eine andere Art des Todes nicht würdevoll sei. Das hatte Glattauer nicht gemeint, er hatte seine Würde sich selbst gegenüber im Hinterkopf. Selbstbestimmtheit auch über den Tod gehörte für ihn dazu.

Aus einem zeitlich Zufall heraus erschien am 14. August das Buch "Haus zur Sonne". Der Roman von Thomas Melle hat ebenfalls den Suizid zum Thema. Angela Szivatz hat das Buch gelesen, es lässt einen staunen, trauern und fürchten.

Schon zum dritten Mal hat Thomas Melle mit "Haus zur Sonne" einen Roman geschrieben, der sich mit seiner psychischen Krankheit – einer massiven bipolaren Störung - auseinandersetzt. Und zum dritten Mal ist er dafür auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Den Preis hat er am Ende nicht bekommen, verdient hätte er ihn aber allemal.

Wer ist Thomas Melle?
Ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer, zum Beispiel von Quentin Tarantinos Debütroman "Es war einmal in Hollywood" (2021). Melle wurde 1975 in Bonn geboren, studierte vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Tübingen, der University of Texas, Austin und der Freien Universität Berlin. Seit 1997 lebt er in Berlin.

Was ist das Besondere an seinen Romanen?
Vor allem die letzten Werke sind sehr stark autobiografisch durchsetzt. 2016 veröffentlichte er "Die Welt im Rücken", in dem Melle seine bipolare Störung thematisiert. Eine Dramatisierung des Werkes wurde im März 2017 vom Wiener Akademietheater zur Uraufführung gebracht, als Protagonist glänzte Joachim Meyerhoff.

Wie wurden seine Arbeiten angenommen?
2006 nahm Melle am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. 2008 erhielt er den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis und 2009 den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Für den Deutschen Buchpreis wurde Melle 2011 für "Sickster" nominiert, 2014 für "3000 Euro" und stand mit beiden auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, ebenso wie heuer mit "Haus zur Sonne".

Worum geht es im neuen Buch?
Um buchstäblich alles, das Leben, den Tod, Krankheiten und deren Wirkung auf die Menschen. Um die Verzweiflung, ein Leben zwischen den beiden Polen Manie, also von Exaltiertheit bis hin zur Depression. In diesen Phasen sind selbst das Aufstehen aus dem Bett, Duschen, Anziehen, sich etwas zum Essen zu machen, unmöglich. Von einem Krankheitsschub zum nächsten schwinden die Kräfte mehr und mehr.

Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Helmut Graf

Wer ist die Hauptfigur?
Ein namenloser Ich-Erzähler ist der Protagonist, der sehr viel mit dem Autor Thomas Melle teilt: Er ist 50, wie Melle, leidet seit seinen 20ern an der psychischen Erkrankung, hat alle Phasen an Behandlung, Medikamentierung und Therapie schon hinter sich. Die letzte Manie des Protagonisten hielt zwei Jahre an, danach kam eine beinahe ebenso lange Phase der Depression.

Was ist daran so beklemmend?
Der Ich-Erzähler schildert, wie er die Phasen der Manie auslebt: Geld hinauswirft, dass er nicht hat, Menschen begeistert begegnet, umgarnt, dann beleidigt. Seine Wohnung und Gegenstände auf der Straße ruiniert, besudelt, und zerstört. Am Ende hat er fast alle so vor den Kopf gestoßen, dass viele die Beziehung mit ihm abbrechen. Im Abflauen der Manie werden ihm all ihre Abgründe und deren Folgen deutlich.

Und in der Depression?
Da schafft er es kaum mehr, bei den wenigen, die ihm geblieben sind, dranzubleiben. Er hat keine Kraft für Gespräche, kein Ohr für irgendjemanden, nicht einmal für seine letzte Liebespartnerin Ella, die sich weiter um ihn kümmert und mit der er lange noch zumindest einen losen Kontakt pflegen kann. Das Resultat sind Vereinsamung, Verwahrlosung und Verschuldung, obwohl er eine Zeitlang ein ganz erfolgreicher Autor war.

Gibt es ein Licht am Ende des Tunnels?
Nach der letzten manischen Episode befindet sich der Ich-Erzähler schon seit beinahe zwei Jahren in der Depression. So lange hat beides noch nie gedauert und nun, wie es scheint, sind alle Kräfte verbraucht. Der Gedanke an Suizid* ist ständiger Begleiter. Nur noch Zappen im Internet und Schlafen sind möglich. Doch auch die Miete will gezahlt werden, nur wie?

"Haus zur Sonne" von Thomas Melle. Roman, 320 Seiten, 2025 Kiepenheuer & Witsch, € 25,50
"Haus zur Sonne" von Thomas Melle. Roman, 320 Seiten, 2025 Kiepenheuer & Witsch, € 25,50
Kiepenheuer & Witsch

Woher bekommt er Geld?
Der Ich-Erzähler geht zum Arbeitsamt in der Hoffnung auf eine kleine Notfalls-Überbrückung. Im Wartebereich liegt ein Flyer, auf dem steht: "So nicht weiter? Wir machen es anders. Das Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung".

Was wird versprochen?
Ein Aufenthalt auf einem Wellness-Gelände, in dem man seine Lebensträume verwirklichen kann, in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit. Man möge sich doch an seinen Fall-Manager im Arbeitsamt wenden.

Wie er darauf reagiert?
Zunächst glaubt der Ich-Erzähler an Satire. Selbstabschaffung? Das kann doch nicht ernst gemeint sein. Doch als er seiner Betreuerin den Flyer hinhält, beteuert sie, dass es sich um ein offizielles Programm handelt. Sie muss erst checken, ob er die Bedingungen für das "Haus zur Sonne" erfüllt. Falls ja, werden die sich melden.

Wird er ins Programm aufgenommen?
Ja, und der Protagonist packt seine Sachen für seine letzte Reise. Er wird ins "Haus zur Sonne" gehen und verschwinden. Seit langem hat er zum ersten Mal wieder das Gefühl, die Kontrolle über sein Leben zurückhaben. Von einem Bahnhof irgendwo am Land wird er abgeholt und auf ein riesengroßes Areal gebracht. Kein Handyempfang.

Wie sind die Regeln?
Nur ein, zweimal pro Woche bekommt man Smartphone und Notebook zurück. Stattdessen werden eine große Poollandschaft, eine gut ausgestattete Bibliothek, ein Kinosaal, Massage, Yoga, Essen und Drinks auf Wunsch angeboten. "Das ist kein Sanatorium oder Krankenhaus im klassischen Sinne", sagt Frau Obderbeck, die Leiterin. "Hier wollen die Leute etwas. Und sie kriegen es."

Erinnerungen an "Matrix" mit Keanu Reeves werden wach
Erinnerungen an "Matrix" mit Keanu Reeves werden wach
Reuters

Was wollen die Leute?
Die "Klienten" des Hauses zur Sonne wollen alle weg aus dem Leben. Aber auf möglichst angenehme Art. Und auf dem Weg dahin werden ihre letzten Wünsche und Träume in Simulationen erfüllt. Damit der Abschied für sie selbst ein guter wird und ihnen leichter fällt. Für die Simulationen wird eine Öffnung im oberen Nackenbereich gemacht, in die Kabel eingesteckt und direkt mit dem Gehirn verbunden werden. Erinnert an den Film "Matrix" mit Keanu Reeves (1999).

Fängt der Ich-Erzähler an zu zweifeln?
Nicht am Umstand des Suizids, aber an der Institution. Ist das hier ein gut getarntes, staatliches "Euthanasieprogramm", Geschäftemacherei des Staates, um sich Ausgaben für Krankenhausaufenthalte und Sozialhilfe zu ersparen? Dann erfährt er auch noch, man könne das Gelände nicht lebendig verlassen, eine unsichtbarer Elektrozaun verhindere das.

Wie Form und Inhalt im Buch verschränkt sind
Die Gedankenschleifen des Protagonisten wiederholen sich mehrmals, wie auch die Episoden seiner Erkrankung, manchmal bis an die Grenze des Erträglichen auch für die Leser.

Der Roman "Die Welt im Rücken" wurde mit Joachim Meyerhoff 2017 im Akademietheater in Wien aufgeführt
Der Roman "Die Welt im Rücken" wurde mit Joachim Meyerhoff 2017 im Akademietheater in Wien aufgeführt
Picturedesk

Wie hält man das aus bei der Lektüre?
Zwischendurch werden die Qual und das Bangen um den Ich-Erzähler ein wenig aufgelockert durch die irrwitzigen Simulationen der anderen, oder durch eine großartig beschriebene Gruppensex-Szene. Sprachliche Präzision und immer wieder auch Passagen voll Humor lassen einen weiterlesen. Und die Einladung zum Nachdenken über das Leben und das Sterben, die dieses Buch anbietet.

Ist das Buch empfehlenswert?
Thomas Melle malt erschütternde Bilder vom Größenwahn. Seine Sprache ist großartig, seine Figuren und Welten schillern vor Fantasie, seine Gedanken sind hochphilosophisch. Als Leserin und Leser muss man bei der Lektüre aber auch harten Tobak vertragen.

Wer hat nun den Deutschen Buchpreis 2025 gewonnen?
Die Schweizerin Dorothee Elmiger wurde am 13. Oktober im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse für ihren Roman "Die Holländerinnen" ausgezeichnet, der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

"Haus zur Sonne" von Thomas Melle. Roman, 320 Seiten, 2025 Kiepenheuer & Witsch, € 25,50

Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Sie lebt in Wien. Ihr erster Krimi "Tödliches Gspusi" ist heuer erschienen.

* Suidzid-Gedanken? Hier finden Sie Hilfe

  • Liste aller Notrufnummern (auch nach Bundesländern)
  • Telefonseelsorge Tel.: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr
  • Männernotruf Tel.: 0800 246 247, täglich 0–24 Uhr
  • Männerinfo Tel.: 0800 400 777, täglich 0–24 Uhr
  • Frauenhelpline Tel.: 0800 222 555, täglich 0–24 Uhr
  • Ö3 Rotes Kreuz Kummernummer Tel.: 116 123, täglich von 16 bis 24 Uhr.

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Angela Szivatz
Akt. 16.10.2025 23:38 Uhr