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Russen-Drohnen in polen

"So nah am offenen Konflikt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“

In der Nacht auf Mittwoch drangen 19 russische Drohnen in den Luftraum des NATO-Landes Polen ein. Mutmaßlich vier wurden von Kampfjets aus den Niederlanden abgeschossen. Was man über den Angriff weiß, was nicht. Was Europa sagt und was die Russen.

Polnische Militärs sichern in Wohyn die Reste einer Drohne
Polnische Militärs sichern in Wohyn die Reste einer DrohnePicturedesk
Christian Nusser
Akt. 11.09.2025 00:56 Uhr

Einen "Moment der Wahrheit" nennt der Economist den Vorfall in Polen. In der Nacht auf Mittwoch schickte Russland einen Schwarm Drohnen von seinem Verbündeten Belarus aus über die Grenze. Es war wohl ein Test: Wie gut funktioniert die Luftabwehr? Und was passiert in der NATO, wenn ich übergriffig werde? Wir wird kommuniziert? Das müssen Sie über den Vorfall wissen:

Wie lange dauerte der Angriff?
Überraschend lange. Gegen 23:30 Uhr wurde die erste Verletzung des Luftraums registriert. Die letzte Drohne drang um gegen 6:30 Uhr ein.

Was legt das nahe?
Dass es kein Versehen war. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski sieht das ähnlich. "Bei ein oder zwei Drohnen  ist es möglich, dass es sich um eine technische Störung handelt. Aber es gab 19 Verstöße, und es ist einfach unvorstellbar, dass es ein Unfall war."

Wie viele Drohnen drangen tatsächlich in den Luftraum ein?
Die Rede ist von bis zu 24 Stück. Polens Ministerpräsident Donald Tusk nannte im Parlament die Zahl 19.

Alicja Wesolowska und ihr Ehemann Tomasz Wesolowski vor ihrem kaputten Wohnhaus in Wyryki-Wola
Alicja Wesolowska und ihr Ehemann Tomasz Wesolowski vor ihrem kaputten Wohnhaus in Wyryki-Wola
Picturedesk

Welche Flugkörper drangen nach Polen vor?
Analysten identifizierten für BBC Verify Bilder einer weitgehend intakten Drohne auf einem Feld in der Nähe des ostpolnischen Dorfes Czosnówka. Es handle sich um eine Gerbera – ein billiges, vielseitig einsetzbares unbemanntes Luftfahrzeug (UAV), das von Russland häufig als Täuschungsmanöver eingesetzt wird, um Luftabwehrsysteme bei groß angelegten Angriffen auf die Ukraine abzulenken.

Was weiß man über die Gerbera?
Sie werden in Russland hergestellt und bestehen aus Kunststoff (Polyplastik). Das reduziert das Gewicht und erhöht ihre Reichweite, da sie mehr Treibstoff transportieren kann. Die Drohne wiegt typischerweise 5 bis 10 Kilo.

Was fällt auf?
Die Gerbera kann kleine Sprengköpfe tragen, diesmal fehlten sie aber. Das spricht dafür, dass Russland Schwachstellen in der Luftabwehr der Nato und Polens aufspüren wollte. Oder Informationen darüber sammeln, was die europäischen Mächte bei einer Verletzung des polnischen Luftraums machen.

Gibt es dafür eine Bestätigung?
"Russland möchte möglichst viele Informationen über die Funktionsweise des polnischen Luftabwehrsystems gewinnen", sagte General Dariusz Wroński, Brigadegeneral der polnischen Armee und Militärpilot, gegenüber Interia.. "20 Drohnen bilden einen kleinen Schwarm, der sich irgendwann vor der Grenze abspaltete und wahrscheinlich in Richtung der südlichen Woiwodschaften flog, um unser Luftabwehrsystem zu verwirren."

Polens Premier Donald Tusk hielt eine Sondersitzung mit seinem Kabinett ab
Polens Premier Donald Tusk hielt eine Sondersitzung mit seinem Kabinett ab
Reuters

War es der erste russische Drohnenangriff?
Nein, aber der bisher massivste, bisher wurde auch immer weggeschaut. Erst Ende August stürzte eine Drohne vom Typ Shahed in einem Maisfeld in Ostpolen ab, etwa 120 Kilometer von Warschau entfernt.

Wie reagierte Polen diesmal?
"Es gibt keinen Grund, heute von einem Kriegszustand zu sprechen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass diese Provokation die bestehenden Grenzen überschreitet und aus polnischer Sicht unvergleichlich gefährlicher ist als alle vorherigen," so Ministerpräsident Tusk.

Und ganz direkt?
Diese Situation bringe "uns alle näher an einen offenen Konflikt, näher als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg".

Wo kamen die Drohnen her?
Das war neu. Nicht aus der Ukraine, irrtümlich, oder weil sie die Orientierung verloren hatten. Es handelte sich auch nicht um kleine, russische Provokationen. Polen geht von einer bewussten Tat aus. "Zum ersten Mal ist ein erheblicher Teil dieser Drohnen direkt aus Weißrussland über Polen geflogen “, so Tusk.

Drohnenteile fanden sich auch auf einem Feld in Czosnowka, die Stelle wurde mit Planen gesichert
Drohnenteile fanden sich auch auf einem Feld in Czosnowka, die Stelle wurde mit Planen gesichert
Reuters

Was passierte mit den Drohnen?
Ein Teil wurde abgeschossen, die Rede ist von vier Stück. Niederländische F-35-Kampfjets unterstützten Polen dabei. Es war das erste Mal, dass Polen mit Hilfe seiner Verbündeten russische Drohnen über seinem Territorium neutralisiert habe, heißt es.

Was ist mit den anderen?
Bisher wurden 11 Drohnen und die Überreste eines nicht identifizierten Objekts an verschiedenen Orten im Land gefunden, sagte eine Sprecherin des Innenministeriums, die letzte am Mittwochabend um 19 Uhr in der Stadt Smyków.

Wie weit flogen sie?
Eine Drohne wurde auf einem Feld in Mniszków in der Provinz Łódź in Zentralpolen entdeckt , etwa 250 Kilometer von der weißrussischen Grenze entdeckt.

Warum waren niederländische F-35 in Polen?
Weil einige Maschinen seit 1. September hier stationiert sind. Die NATO wollte damit ihre Luftverteidigung entlang ihrer Ostflanke verstärken. Auch norwegische F-35-Kampfflugzeuge sind daran beteiligt. Der Einsatz soll bis 1. Dezember dauern.

War so etwas bisher üblich?
Nein, bei der Mission handelt es sich um den ersten F-35-Einsatz in Polen unter NATO-Kommando. Stationiert sind sie auf der polnischen Luftwaffenbasis Malbork (Nordpolen, nahe der russischen Exklave Kaliningrad.

Teile einer russischen Drohne, die in der Nähe von Zamosc gefunden wurde
Teile einer russischen Drohne, die in der Nähe von Zamosc gefunden wurde
Reuters

Gemeinsame Einsätze gab es aber bisher schon, oder?
Ja, und das zuletzt verstärkt. Die Niederlande schickten F-35-Jets als Luftpolizei nach Estland. Ab März sicherten polnische F-16 zusammen mit rumänischen F-16-Einheiten den Luftraum in Litauen. Britische RAF Typhoons und schwedische Gripen-Jets (erstmals seit dem NATO-Beitritt 2024) waren ab April ebenfalls schon in Polen im Einsatz.

Wie reagierte die NATO auf den Angriff?
"Es ist das erste Mal, dass NATO-Flugzeuge gegen potenzielle Bedrohungen im Luftraum von Bündnismitgliedsstaaten vorgehen", heißt es in einer Erklärung. Das Bündnis gab zudem bekannt, dass auch deutsche und italienische Kräfte zum Einsatz gebracht wurden.

Wie erfuhr Polens Regierung vom Angriff?
Als Erster wurde Premierminister Donald Tusk informiert, er begab sich umgehend ins Einsatzkommando der polnischen Streitkräfte (DORSZ). Um 3 Uhr morgens erfuhr auch Staatspräsident Karol Nawrocki von der Situation und begab sich ebenfalls ins Hauptquartier. Dort fand das erste Treffen zwischen dem Staats- und dem Regierungschef statt.

Was passierte danach?
Polen aktivierte Artikel 4 des Nordatlantikvertrags. Er ermöglicht dringende Konsultationen zwischen den Mitgliedsstaaten des Bündnisses. Dies gilt für Situationen, in denen ein Mitgliedsstaat seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sieht.

Gab es beim Angriff Verletzte?
Nach bisherigem Erkenntnisstand nicht.

Eine Gerbera-Drohne auf einem Feld in Polen (Archivfoto)
Eine Gerbera-Drohne auf einem Feld in Polen (Archivfoto)
Reuters

Und Schäden? Trümmer einer der Drohnen trafen ein Haus im Dorf Wyryki. Es wurde von einem älteren Ehepaar bewohnt. "Sie sind am Boden zerstört, denn dies ist ihr Zuhause, ihr Lebenswerk", berichtet Bernard Błaszczuk, Bürgermeister der Gemeinde Wyryki.

Was sagen Augenzeugen? "Kurz vor sieben Uhr morgens hörte ich einen Knall, die Fenster zitterten. Später sahen wir, wie aus einem Flugzeug eine Rakete abgefeuert wurde", berichtete ein Anwohner.

Wie viele Einsatzkräfte suchen nach Trümmern? Polen spricht offiziell von 12.000 Polizisten, die an der Operation beteiligt sind.

Welches Motiv wird vermutet?
Moskau teste "die Grenzen des Möglichen aus", sagte der ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er sprach von einem "äußerst gefährlichen Präzedenzfall für Europa".

Gab es parallel russische Angriffe auf die Ukraine?
Ja, die russischen Drohnen, die in Polen eingedrungen sind, waren Teil des jüngsten großen Luftangriffs auf die Ukraine. Insgesamt wurden nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe mehr als 400 Drohnen und 42 Marschflugkörper gestartet.

Die Karte zeigt die betroffene Region des Angriffs
Die Karte zeigt die betroffene Region des Angriffs
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Was bedeutet der Angriff für die NATO?
Polen ist eines von 32 Mitgliedern der NATO (North Atlantic Treaty Organisation). Das Sicherheitsbündnis wurde 1949 mit dem Hauptziel gegründet, die Expansion der Sowjetunion in Europa zu verhindern. Eines seiner Grundprinzipien ist, dass ein Angriff gegen ein oder mehrere Mitglieder als Angriff gegen alle betrachtet wird – bekannt als Artikel 5.

Was steht in Artikel 5 wörtlich?
"Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten."

Was kann die NATO tun?
Sie verfügt zwar nicht über eine eigene Armee, doch können die Mitgliedsstaaten als Reaktion auf internationale Krisen gemeinsam militärisch vorgehen.

Was sagt die USA?
Washington stehe seinen NATO-Verbündeten nach den russischen "Verletzungen" des polnischen Luftraums letzte Nacht zur Seite, so der US-Botschafter bei der NATO, Matthew Whitaker. Die USA würden "jeden Zentimeter des NATO-Territoriums verteidigen".

Was sagt Belarus?
Armeechef Pawel Murawiejka behauptete, Belarus habe Polen und Litauen über die sich nähernden Drohnen informiert. Die Luftabwehr habe Drohnen beobachtet, die "aufgrund der Auswirkungen elektronischer Kriegsführung vom Kurs abgekommen" seien. Einige der "fehlgeleiteten" Drohnen seien von belarussischen Streitkräften abgeschossen worden.

Wurde Polen tatsächlich gewarnt?
Ein Sprecher des Einsatzkommandos der Streitkräfte räumt ein, dass "Informationen mit den Nachbarn ausgetauscht wurden".

Was sagt Russland?
Kremlfreundliche Medien bestritten zunächst die Angaben. Es gebe "keine Beweise" dafür, dass russische Drohnen abgeschossen wurden. Es sei "nicht schwer", die Überreste russischer Raketen aus der Ukraine als Beweismittel vorzulegen. "Der Informationslärm ist hauptsächlich politischer Natur."

Dementiert Moskau den Angriff?
Erst meldete sich Russlands kommissarischer Geschäftsträger in Polen zu Wort. Er wies die Vorwürfe als "haltlos" zurück, russische Drohnen seien in den polnischen Luftraum eingedrungen. "Es gibt keine Beweise dafür, dass diese Drohnen russischen Ursprungs sind", erklärte Andrei Ordasch in einem Interview mit der russischen Staatsagentur RIA Novosti.

Wie lautete die offizielle Reaktion?
Das russische Verteidigungsministerium teilte später in einer Erklärung  mit, es habe letzte Nacht einen "Massenangriff" auf militärisch-industrielle Ziele in der Westukraine durchgeführt, unter anderem mit Angriffsdrohnen. Es habe "keine Pläne gegeben, Einrichtungen auf polnischem Gebiet anzugreifen". "Keine Pläne, …" heißt nicht "wir haben nicht …"

"Los geht's!" Was meinte Donald Trump mit dieser Botschaft?
"Los geht's!" Was meinte Donald Trump mit dieser Botschaft?
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Wie reagierten Europas Staatschefs?
Der französische Präsident Emmanuel Macron bezeichnet den Einmarsch als "einfach inakzeptabel", er werde sich bald mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte treffen. Der Präsident des Europäischen Rates, Antonio Costa, erklärte, Europa erhöhe seine Investitionen in die Verteidigung nach Russlands "rücksichtslosem" Vorgehen. "Frieden und Sicherheit in Europa sind keine Selbstverständlichkeit".

Und Ungarn?
Selbst Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnet den Luftangriff als "inakzeptabel". Orbán ist der einzige EU-Politiker, der auch nach der groß angelegten Invasion der Ukraine im Jahr 2022 enge Beziehungen zum Kreml aufrechterhielt.

Was sagt Österreich?
Sowohl Kanzler Christian Stocker als auch Außenministerin Beate Meinl-Reisinger nannten den Angriff "inakzeptabel".

Wie reagierte Trump?
Er meldete sich auf seiner Plattform Truth Social kurz zu Wort, blieb aber eher kryptisch. Was hat es mit Russlands Verletzung des polnischen Luftraums durch Drohnen auf sich? Los geht's!" fragte er. Später telefonierte er mit Polens Staatschef Nawrocki.

Christian Nusser
Akt. 11.09.2025 00:56 Uhr