Wahlsonntag

Warum Schilling nun um ihren EU-Parlamentssitz bangen muss

Zugegeben etwas hypothetisch, aber vielleicht auch nicht: Das Vorzugsstimmen-System könnte für die Spitzenkandidatin zur Stolperfalle werden. Unter 10 Prozent für die Grünen wird es haarig.

Die neue Spitzenkandidatin Lena Schilling mit den bisherigen Grünen-Vertretern in Brüssel Thomas Waitz und Monika Vana
Die neue Spitzenkandidatin Lena Schilling mit den bisherigen Grünen-Vertretern in Brüssel Thomas Waitz und Monika Vana
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Christian Nusser
Uhr
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Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten, heißt es sinngemäß in der Bibel. Aber aktuell kann es passieren, dass der Zweite der Erste wird, daran hatte jedoch vor ein paar Jahrhunderten wohl niemand gedacht. Vielleicht weil es damals noch keine EU gab und auch kein System mit Vorzugsstimmen. Am Sonntag ist das anders, da wählt Europa ein neues Parlament und die Reihenfolge, ob man eben Erste oder Zweiter wird, erhält Relevanz.

Österreich steuerte zum Wahlkampf eine Affäre bei, die uns erfolgreich davon abhielt, über Beiläufigkeiten wie Klima, Neutralität, Asyl, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik zu reden. Wir bekamen etwas Herzerl-Prosa auf Plakaten geboten und unterhielten uns lieber darüber, welche ehrenrührigen Chats Lena Schilling verfasst und wem sie was bei welcher Gelegenheit unterstellt haben könnte. Das hat die Stimmen der Wählerschaft mutmaßlich neu sortiert, wie grobmotorisch diese Neusortierung ausfiel, wird sich weisen.

Bei den Grünen hat aber nicht nur der Wahlerfolg einige Auswirkungen auf das berufliche Fortkommen der Kandidatenschaft, sondern auch die Zahl der Vorzugsstimmen, die eingeheimst werden. Sie können schlicht darüber entscheiden, ob man sich politisch in Brüssel verwirklichen darf oder sich ein neues Betätigungsfeld in der Heimat suchen muss. Um das zu erklären, muss man etwas ausholen, also:

Wie entstehen Kandidatenlisten?
Am 8. Mai 2024 publizierte die Bundeswahlbehörde im Innenministerium die vollständigen Liste der Kandidatinnen und Kandidaten für die EU-Wahl. Die Parteien hatten bis zum 26. April, 17 Uhr Zeit gehabt, ihren Wahlvorschlag einzubringen. Auf der Liste dürfen höchstens 42 Personen stehen und deshalb standen auf allen Listen 42 Personen.

Wer tritt nun die die Grünen an?
Auf Platz 1 der Grünen Liste steht Lena Schilling, die ihren Beruf mit Autorin, Tanzlehrerin angab, auf Platz 2 Thomas Alexander Waitz, Mitglied des Europäischen Parlaments, Landwirt, auf Platz 3 Ines Vukajlović, Landtagsabgeordnete, wissenschaftliche Referentin. Die übrigen genannten Personen haben eine nur geringfügige Chance auf einen Einzug ins EU-Parlament, die Liste ist bunt, sie reicht von Landschaftsplanerin bis Moderator. Auf Platz 42 findet sich Ulrike Lunacek. Die nunmehrige Pensionistin war von 2009 an Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament und von Juli 2014 bis Oktober 2017 Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Ihr nunmehrige Rückkehr ist unwahrscheinlich, außer die Grünen erreichen bei der EU-Wahl an die 100 Prozent der Stimmen. Das wird eng.

Wie ist das mit den Vorzugsstimmen bei der EU-Wahl?
Am Wahlzettel gibt es ein Feld, in dem man den Namen einer Person eintragen kann, die man besonders gut findet. Der Familienname reicht, mehr Namen hinzuschreiben macht die Vorzugsstimme ungültig. Es genügt auch die Reihungsnummer (bei Lena Schilling zum Beispiel die Ziffer 1) einer Kandidatin oder eines Kandidaten anzugeben. Es ist nicht möglich, eine Vorzugsstimme zu vergeben, aber eine andere Partei zu wählen. Also ÖVP zu wählen, aber Lena Schilling eine Vorzugsstimme zuzuschanzen, macht den Stimmzettel ungültig.

Was passiert mit den Vorzugsstimmen?
Um eine Vorreihung möglich zu machen, müssen mindestens 5 Prozent der Wählerinnen oder Wähler einer Partei eine Vorzugsstimme vergeben haben.

Was heißt das bei den Grünen?
Die Grünen haben bei der letzten Europawahl 532.193 Stimmen erreicht. Um die Vorzugsstimme damals relevant zu machen, mussten 26.610 Vorzugsstimmen erreicht werden. Der Listenerste Werner Kogler erhielt 70.821 Vorzugsstimmen, die Listenzweite Sarah Wiener 35.741 Vorzugsstimmen.

"Mit dir fürs Klima und Europa": Bundessprecher Werner Kogler macht Lena Schilling am 24. Februar 2024 zur Spitzenkandidatin der Grünen
"Mit dir fürs Klima und Europa": Bundessprecher Werner Kogler macht Lena Schilling am 24. Februar 2024 zur Spitzenkandidatin der Grünen
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Was bedeutet das für die Grünen diesmal?
Erwartbar ist, dass sie weniger Stimmen erhalten als 2019. Es sind also eine geringere Anzahl an Vorzusstimmen nötig, um eine Vorreihung zu erreichen, wohl irgendwas zwischen 20.000 und 25.000.

Was ist, wenn zwei Kandidaten einer Partei die 5-Prozent-Hürde überspringen?
Dann entscheidet, wer mehr Vorzugsstimmen erreicht hat.

Was ist nun das Risiko für Lena Schilling?
Dass der Listenzweite Thomas Waitz mehr Vorzugsstimmen erhält als sie. Dann wird er vor sie gereiht.

Ist es nicht wurscht, ob man Erster oder Zweiter wird?
Jein, für die Frage, wer Delegationsleiter wird, ist das irrelevant, das entscheidet die Partei freihändig. Aber was ist, wenn die Grünen bei der Wahl nur mehr ein Mandat erreichen? Und Waitz bei den Vorzugssstimmen vorn liegt?

Na, was ist dann?
Dann zieht er ins Europaparlament ein und Lena Schilling nicht. Und zwar automatisch, er muss gar nichts dafür tun.

Ungleiches Paar: Spitzenkandidatin Lena Schilling, Listenzweiter Thomas Waitz
Ungleiches Paar: Spitzenkandidatin Lena Schilling, Listenzweiter Thomas Waitz
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Aber wenn die Partei das nicht will?
Dann ist das irrelevant. Die Grünen können Thomas Waitz nicht auftragen, was er tun soll. Aber: Er kann von sich aus sagen, er verzichtet. Dann ist er raus und Lena Schilling drin.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Grünen nur ein Mandat erhalten?
Schwer zu sagen, weil man nicht weiß, wie stark sich die Schilling-Affäre ausgewirkt hat. Bei der EU-Wahl 2019 erreichten die Grünen 14,08 Prozent, das ergab zunächst zwei Mandate. Nach dem Brexit wurden mit 31. Jänner 2020 die 73 britischen Mandate frei, eines erhielt Österreich – der Grüne Thomas Waitz.

Wie wird das jetzt sein?
Wenn die Grünen wieder 14 Prozent erreichen, dass erhalten sie recht sicher wieder drei Mandate, wahrscheinlich ist das nicht. Wenn sie über 10 Prozent kommen, dann ist das zweite Mandat sicher. Wenn sie zwischen 9 Prozent und 10 Prozent landen, dann kann es sich arschknapp ausgehen, um Alexander Van der Bellen zu zitieren. Oder eben nicht. Unter 9 Prozent bleibt nur ein Mandat übrig. Und dann entscheiden die Vorzugsstimmen, ob es Thomas Waitz oder Lena Schilling erhält.

Wer hat bei den Vorzugsstimmen die Nase vorn?
Das ist schwer zu sagen. Waitz ist deutlich weniger bekannt als Schilling, andererseits hat er einen guten Namen. Wenn also Menschen die Grünen stärken wollen, aber nicht Schilling, dann geben sie Waitz eine Vorzugsstimme. Wenn sie sich mit Schilling wegen (oder trotz) der Affäre solidarisieren, dann ist es genau umgekehrt. Der Sonntag wird auch deswegen interessant.

Wurde Waitz eigentlich jemals Platz 1 auf der Liste angeboten?
"Nein, sagt er zu Newsflix, "das stand nie zur Debatte, ich habe immer klar kommuniziert, dass ich auf den Listenplatz zwei möchte."

Uhr
#Menschenwelt
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